Die beiden Tänzer kommen aus einer anderen Welt. Tricia Albertson, die im sonnigen Kalifornien aufwuchs, und Rainer Krenstetter, gebürtiger und ausgebildeter Wiener, tanzen als Principals beim renommierten Miami City Ballet, vor allem in Stücken von George Balanchine, auf den die Company spezialisiert ist. Auf dem sommerlichen Gendarmenmarkt in Berlin sind sie am frühen Morgen in elegant-lässiger Garderobe die Exoten, die mit ihren schönen Körpern der Architektur des Französischen Doms auf freundliche Weise kontra bieten. Für Rainer Krenstetter ist es ein Wiedersehen mit seiner alten Heimat, denn bis 2014 tanzte er beim Staatsballett Berlin.
Wenn man mit dem ungarischen Philosophen Georg Lucács (1885 – 1971) davon ausgeht, dass die Architektur den Menschen, der sich in ihr bewegt, prägt, dann hat der preußische Klassizismus keine beruhigende Wirkung, aber eine anregende.
Verglichen mit den exaltiert-strengen Posen des amerikanischen Choreografen George Balanchine (1904 – 1983) ist das Preußische brav, bieder, wenig elegant.
Aber Lucács, dessen zweibändiges Mammutwerk „Die Eigenart des Ästhetischen“ zuerst 1963 in der DDR und erst zwei Jahre später in Ungarn erschien, zitiert darin den amerikanischen Lyriker T. S. Eliot, und zwar mit einer Strophe, die Landschaft zur Architektur und den Menschen zu einem Teil von ihr erhebt:
This is the dead land
This is cactus land
Here the stone images
Are raised, here they receive
The supplication of a dead man’s hand
Under the twinkle of a fading star.
Und obwohl Eliot eindeutig eine staubige nordamerikanische Steppe meint, könnten seine drastisch-poetischen Worte auch auf den Gendarmenmarkt passen.
Das ist das tote Land.
Das ist Kaktusland.
Hier werden die steinernen Bilder
Errichtet, hier erhalten sie
Das flehende Gebet um die Hand eines Toten.
Unter dem Glanz eines verblassenden Sterns.*
Inspiriert ist das Gedicht von den steinernen Portraits von vier Präsidenten der USA in den Black Hills in South Dakota.
Aber ist eine touristenüberflutete städtische Einöde nicht ebenso ein „totes Land“, ein „Kaktusland“, in dem „steinernde Bilder“ wie Ölgötzen angebetet werden, um tote Werte zu beschwören – und wo die einzige Hoffnung der nächtliche Sternenglanz ist, auch wenn dieser bereits am Erlöschen ist?
Die beiden Tänzer aus den USA verströmen viel mehr Glanz, viel mehr Lebendigkeit, viel stärkere Werte, als in dem Gedicht von Eliot überhaupt vorkommen.
Dafür trifft das Poem einen harten realistischen Kern jener beschriebenen Szenerie.
Er macht eine eindeutige Aussage, wenn auch poetisch verschlüsselt.
Und der Tanz?
Der ist immer zugleich vage und direkt.
Da ist alles möglich und doch ist es im Moment nur das, was man sieht.
Wenn Tricia Albertson, die an der School of American Ballet in New York City ausgebildet wurde, an ihr großes Repertoire denkt, das von Frederic Ashton über Alexei Ratmansky bis zu Jerome Robbins und Nacho Duato reicht, dann sind 33 Stücke von George Balanchine dabei.
33 Meisterwerke wie „Apollo“ („Apollon musagète“), „Agon“, „Ballet Imperial“, der „Nutcracker“, die „Jewels“, der „Tchaikovsky Pas de deux“, „Theme and Variations“, die „Symphony in C“, die „Tarantella“ und „The Four Temperaments“…
Jetzt steht die Ballerina, die in all diesen Meisterwerke tanzen kann und den zwischen Strenge und Raffinesse pendelnden Stil von George Balanchine exzellent beherrscht, auf diesem am Morgen noch leeren Touristenplatz in Berlin.
Neben ihr: Rainer Krenstetter, der in allen drei Teilen von „Jewels“ tanzt und mal ein Smaragd, mal ein Rubin, mal der Diamant ist.
Der den großen Pas de deux aus Balanchines „Midsummer Night’s Dream“ so formvollendet und doch so inniglich tanzt wie kein anderer Ballerino; nicht mal Roberto Bolle bekommt dieses Amalgan aus Schmelz und Härte so galant hin wie Krenstetter.
Die Vereinigung der Gegensätze, auch von Innen und Außen, ist in solchen Ballettjuwelen maßgeblich.
Letztlich ist es in der Kunst das Äußere, welches das Innere zeigen muss.
T.S. Eliot wird von Lukács über alle politischen Differenzen hinweg im achten Kapitel seiner ästhetischen Bände („Die eigene Welt der Kunstwerke“) zitiert und als Beispiel eben dafür hergenommen:
Und zwar, um zu zeigen, „dass auch das Innerlichste nur durch Spiegelung der Außenwelt gestaltbar ist“.
Dabei fühlt es sich mitunter noch anders an, als es gesehen wird.
So galt Rainer Krenstetter schon in seinen Berliner Zeiten als „schneller“ Tänzer, der quicklebendig und doch scheinbar ohne Anstrengung in furiosem Tempo über die Bühne rasen konnte, tanzenderweise. Aber in den USA, sagt er, habe er gelernt, dass das europäische Tempo eher gemächlich ist: Gefühlt tanzt er die Balanchine-Stücke jetzt doppelt so schnell, weil auch die Dirigenten dem amerikanischen Bedürfnis nach Geschwindigkeit und Zügigkeit nachkommen und Tänzer wie Orchestermusiker regelrecht durch die Stücke durchpeitschen.
Trotzdem muss alles präzise und genau erarbeitet sein. Und das atemlose Tempo verlangt sogar eine Verstärkung der Gefühle, damit nicht das Gehetztsein als Ausdruck die Oberhand gewinnt.
Als Smaragd ist Rainer darum so lyrisch wie nur irgend möglich: Er schmilzt förmlich dahin, ergibt sich dem melancholisch-weichen Temperament der Musik von Gabriel Fauré, ist ein Leib gewordener romantischer Vers.
Als Rubin dreht er dann auf, agiert heiß, sexy, aufgedreht, spitz, dennoch akkurat auch in jedem Stakkato, das die hier schräg-jazzige Musik von Igor Strawinsky vorgibt.
Als Diamant dann ist er zur festlich-erhabenen Musik von Peter I. Tschaikowsky der noble, aber unterkühlte Partner der Ballerina, der glitzernde Stern im Juwelencollier, der unsterblich erscheint aufgrund seiner Härte und unerreichbaren Schönheit.
Das Innen und das Außen müssen einander dabei entsprechen, und das Gemeinte muss vom zu Sehenden fraglos übermittelt werden.
Dabei spielt gerade bei Balanchine auch der Stil eine große Rolle.
Für Tricia Albertson ist dieser die logische Fortsetzung ihrer Ausbildung an der San Francisco Ballet School und an der SAB (School of American Ballet). Gerade an der SAB, die 1934 von dem damals noch jungen George Balanchine selbst gegründet wurde, um bereits ganz junge Leute in seinem Stil zu trainieren, lernte sie bereits, Bewegungen stark zu akzentuieren und möglichst schnörkellos in dennoch lieblichen, anmutigen Haltungen zu brillieren.
Für Rainer Krenstetter, der an der Ballettschule der Wiener Staatsoper sowie an der Royal Ballet School in London ausgebildet wurde, war es eine Entwicklung hin zu diesem Stil, die ausging von einer breit aufgestellten Vielfalt an stilistischen Möglichkeiten.
Als er beim Miami City Ballet begann, Balanchine nicht mehr nur als einen von Vielen zu tanzen, sondern sozusagen als Kerngeschäft, orientierte er sich zunächst an den Kollegen vor Ort.
Bis er merkte, dass er damit nicht sein persönliches Maximum erzielen konnte. Nach einem Gespräch mit seiner Direktorin Lourdes Lopez wurde ihm klar: Es wäre besser, zu den eigenen Wurzeln zurückzugehen und mit dem zu arbeiten, was ihn, Rainer Krenstetter, persönlich ausmacht. Er sagt es so:
„Dann habe ich es verstanden: Meine Ausbildung und meine Erfahrung als Tänzer als Grundlage zu nehmen und darauf mit der Balanchine-Technik aufzubauen.“
Und: „Seitdem funktioniert es. Ich fühle mich als Tänzer kompletter denn je.“
Das sieht man ihm auch an, wenn er „nur“ für Fotografien tanzt und in Posen geht, die nicht unbedingt einem Ballettstück entstammen, sondern aus der Situation spontan entstehen. Da verbinden sich Zeit und Raum und viel Gefühl zu einem einzigartigen Esprit.
Vor dem Französischen Dom am Gendarmenmarkt in Berlin stehen Tricia Albertson und Rainer Krenstetter jedenfalls nicht nur für einen bestimmten Stil, sondern auch für alle Eleganz und Geschmeidigkeit, die daraus erwachsen.
Grazie, Hingabe, Kraft und auch Humor inklusive!
Wahrlich: Dieser Spirit schwebt noch lange über dem Platz…
Gisela Sonnenburg
*Übersetzung: Gisela Sonnenburg (Georg Lukács zitiert die Strophe von T.S. Eliot nur im amerikanischen Original, ohne Übersetzung)