Eine starke unerfüllte Liebe ist ein Grund zu leben und ein Grund zu sterben. Wer wüsste das nicht… Die Liebe als traurigste aller Komödien: A liebt B und B liebt C, während C nur D liebt – und wenn mal doch eine große Liebe rückhaltlos erwidert wird, so weiß man nicht immer, wie lange dieser Glückszustand andauern wird. Viele Ehen und vergleichbare Beziehungen sind hingegen pure Zweckbündnisse, geboren aus Langeweile sowie aus einem gewissen Bedürfnis nach Sicherheit oder gesellschaftlichem Ansehen. Mit der seelischen Erschütterung, die eine wahre Liebe bedeutet, haben sie nichts zu tun. „Die Möwe“, das bislang einzige Ballett, das John Neumeier nach einer Vorlage des russischen Dramatikers Anton Tschechow (1860 – 1904) schuf, legt hier den Finger in die Wunde, mehr noch: Hier zeigt sich auch die Liebe zur Kunst, die ein Künstler empfindet, als existenzielles, auch emotionales Risiko. 2002 wurde dieses verzwickte, aber stimmungsvolle Stück beim Hamburg Ballett uraufgeführt. Jetzt steht es wieder auf dem Spielplan, in einer glamourös-jugendlichen Neubesetzung: mit dem überragenden Marc Jubete als Kostja und einer anrührenden Emilie Mazon als Nina. Aber auch Lloyd Riggins als Onkel Sorin brilliert in einer grotesk-fantastischen, köstlich-komischen Partie. Die Stars Dario Franconi, Anna Laudere, Lizhong Wang, Thomas Stuhrmann und Carolina Agüero vollführen zudem eine elegische Herzenskunst, mal mit, mal ohne den Bonus der Parodie.
Das muss dem Ballettdoyen John Neumeier allerdings erst mal jemand nachmachen: Stücke im Stück, als Theater-im-Theater, stets auf der Trennlinie zur Satire, zum Varieté und zur Parodie, einerseits als tierisch ernst gemeinte und andererseits dennoch unfreiwillig zu belächelnde Kommentare zur Kunst im Kunstformat. Ballett als Ballettkabarett.
Diese Versatzstücke in der Szenencollage „Die Möwe“ steigern sich auch noch im Laufe des Abends – bis eines von ihnen zum Piepen komisch ist: weil eine Horde mit quietschig himmelblauen „Schwanensee“-Tutus, dazu ein niemals sterbender Schwan mit glitzernder Riesentiara und glitzerndem Einschussloch in der Brust sowie ein Faun im stilisierten Leopardenfell (!) mit grünem Laub auf dem Kopf so ziemlich die Gipfel der Geschmacklosigkeiten persiflieren, die es im Kitschbereich der Ballettwelt als Ausläufer auch schon gab. Man amüsiert sich allerbest!
Doch der Urgrund dieses Stücks, der „Möwe“, ist ein ganz anderer: Es ist die Unfähigkeit der Menschen, wirklich zueinander zu finden und ihre Gefühle miteinander ins Reine zu bringen. Oder ist gerade diese Unfähigkeit bereits auch der Grund für Kitsch? Möglicherweise, und da hängen die Fäden, die das schwierige Beziehungsgeflecht all der russisch-tiefgängigen Seelen hier ausmachen, in mehrfacher Hinsicht zusammen.
Zu Beginn, wenn das Publikum eingelassen wird, sitzt der elegant-erotische Marc Jubete als junger Künstler Kostja (mit vollem Namen, ganz wie bei Tschechow: Konstantin Gawrilowitsch Trepljow) auf der blau bis ganz leicht violett ausgeleuchteten Bühne – und faltet eine Papiermöwe.
Das ist eine von John Neumeiers Innovationen in Bezug auf das Originaldrama: Die Möwe aus dem Titel wird nicht abgeschossen und ausgestopft, also nicht getötet und museal verwahrt, sondern – als Symbol für die Kunst und die Freiheit zu ihr – aus leichtem, weißen Papier gefaltet und mittels menschlicher Bewegung zum Fliegen gebracht.
Das weiße Papier zitiert dabei die Liebe des Schriftstellers Tschechow zu seiner Kunst, dem Schreiben. Zudem ist auch Kostja im literarischen Drama ein avantgardistischer Schriftsteller, während Neumeier ihn natürlich – tanzbühnenaffin – als Choreografen und Tanzpionier vorstellt.
Und so ersinnt Kostja gleich ein paar Schritte, darunter eine mit dem rechten Bein lang gehaltene – wunderschön poetische – seitliche Attitude mit der Möwe aus Papier auf der linken Seite: eine Schlüsselpose für Konstantin, den eigenwillig-aufstrebsamen Jungchoreografen.
Seine große Liebe ist Nina (Michajlowna Saretschnaja), von der erst 21-jährigen Emilie Mazon getanzt. Sie sprang für die erfahrene Hamburger Gastsolistin Alina Cojocaru ein, die aus persönlichen Gründen die Probenarbeit und die Auftritte in der „Möwe“ absagen musste. Sicher hätte Alina eine Note an graziöser Reife eingebracht, die Emilie Mazon noch nicht haben kann. Dafür aber begeistert der Nachwuchsstar mit Elan, mit Energie, mit Entschiedenheit – und stellt alle Entwicklungsstadien der Nina so glaubhaft wie sinnlich fasslich dar. Bravo!
Da passt es gut, dass Emilie Mazon ebenso wie Madoka Sugai und Jacopo Bellussi ab kommender Spielzeit Solisten sein werden. Herzlichen Glückwunsch!
In Emilies Zusammenspiel mit Marc Jubete (ebenfalls und unbedingt: Bravo!), der bereits Solist ist, erweist dieser sich als absolut zuverlässiger, dabei aufregender Partner. Die Synchrontänze der beiden, das gemeinsame fröhliche Laufen zu Beginn, die komplizierten Führungs- und Hebefiguren, das dramatisch-schauspielerische Element (das in der „Möwe“ sehr toll und sehr stark sein muss) – all das bewältigen die beiden Newcomer, fast, als wären sie schon alte Hasen im Bühnengenre. Harte und härteste Probenarbeit mag dahinter stecken – die sich lohnte!
Hinzu kommt, dass hier und da kleine Verfeinerungen seit 2002 – zumindest für meine Erinnerung – das Stück nochmals raffinierter machen, es anfüllen mit Intensität und Ausdruck im Detail.
So manche Pose wird da zum himmelhoch jauchzenden, zu Tode betrübten Sinnbild für das begeistert-sinnlose Streben nacheinander, wo doch schon nichts mehr passt.
Wenn Kostja seine Nina im zweiten Teil – kurz vor dem Abschied für immer voneinander – auf seinem Rücken senkrecht hochhievt, ihre Füße voran, dann entsteht hier eine schnurgerade Vertikale aus zwei jungen Menschen, die mit gemeinsamer Kraftanstrengung so vieles bewerkstelligen können. Und dennoch umweht diese Figur das Wissen, dass es letztes Aufbäumen einer Beziehung ist, das nur von Kostja noch Beziehungsarbeit geleistet wird, um Nina einen Trost zu spenden, den sie schon nicht mehr will.
Wie ein Symbol für die Kraft der Gemeinsamkeit, auch der Partnerschaft, wie ein Denkmal für kreative Power muten die beiden in dieser Pose an – es ist der Höhepunkt und zugleich Wendepunkt ihrer Beziehung.
Doch zunächst – zu Anfang des Stücks – sieht alles noch viel rosiger und leichtherziger aus. Nina heitert Kostja auf, sie spielt und turtelt verliebt mit ihm umher, die papierene Möwe als Symbol ihrer aufstrebenden, freiheitlichen Kunst verbindet sie.
Nina will Tänzerin werden, und in Kostjas ergreifend an die Werke von Oskar Schlemmer erinnerndem Tanzstück fasziniert und befremdet sie zugleich in der Hauptrolle.
Die Aufführung – hier ist es das erste Stück-im-Stück – ist ein Desaster, weil ein Teil der bürgerlich-ländlichen Gesellschaft, vor der sie getanzt wird, sie nicht versteht. Einer lacht sogar immer wieder frech und laut, hemmunglos losprustend. Die Mutter von Kostja, die gefeierte Ballerina Irina Nikolajewna Arkadina (Anna Laudere mit Grandezza und großer Geste) hofft sogar auf vorzeitigen Abbruch durch Einklatschen – und sie ist ganz entsetzt, als sie feststellen muss, dass das Stück noch weiter geht.
In ausgeschnittenen, eckig steifen Pumphosen, klaren Malewitsch-Farben (viel Schwarz, viel Rot, etwa Weiß) und mit abstrakt-futuristischer Haltung tanzen Kostjas Traum-Tänzer sein Stück „Die Seele der Möwe“. Schon der Titel klingt hilflos-dilettantisch, leicht verlogen, wie es für ungebildete Künstler üblich ist – und zudem auch nicht wirklich tierlieb.
Dennoch langweilt diese Aufführung-in-der-Aufführung nicht eine Sekunde, denn die Formationen von jungen Frauen und Männern erinnern tatsächlich sehr an die Aufbruchzeit der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Nina darf in exaltiert-erotischem Kostüm ganz in Weiß die Titelheldin tanzen, vorzüglich stilisiert und dennoch Mitleid erregend, gerade weil es nicht die ganz große Tanzkunst ist, die Neumeier Kostja kreieren ließ.
Schließlich gibt es auch noch Knall- und Feuerwerkseffekte, und was uns überrascht, entsetzt das gespielte Publikum auf der Bühne umso mehr.
Die anschließende Aussprache zwischen Mutter und Sohn lässt denn auch nichts Gutes ahnen. Irina (Arkadina) ist eine traditionelle Primaballerina, sie erinnert sogar ein wenig an Anna Pawlowa oder Tamara Karsavina, und die exzentrische neue Kunstrichtung, die Irinas Sohn Kostja zu erfinden sucht, passt ihr ganz und gar nicht in den Kram.
Überhaupt scheint sie ein Interesse daran zu haben, den jungen Mann zu benörgeln und klein zu halten.
Prägnant für solche Eltern-Kind-Beziehungen ist der Pas de deux zwischen ihr und Kostja: Da muss er sie halten, sie lässt sich rückwärts in seine Arme fallen, er muss sie schieben, und erst nach einigen seiner Anstrengungen ist auch sie bereit, mal ein Bein oder seinen Leib zu halten und ihm etwas Kraft zu geben.
Neumeier ist nicht ungerecht in seiner Rollenzeichnung, er lässt uns verstehen: Die Arkadina träumt noch immer von jenen Rollen, mit denen sie schon immer Erfolg hatte, sie ist dem Konservativen in der Kunst mit Leib und Seele verhaftet, und alles Neue erschreckt sie da genau so ab wie die starke schöpferische Kraft ihres eigenen Filius, der ihr so unendlich fremd erscheint.
Eltern vergessen ja nur zu leicht, dass Kinder eigenständige Menschen und keine Klone etwa eines Elternteils sind, und dass sie darum durchaus ein Anrecht darauf haben, sich unabhängig von den elterlichen Vorlieben zu entwickeln.
Im Fall von Emilie Mazon scheint eine solche Ermahnung allerdings überflüssig; schon ihre Mutter, Gigi Hyatt (heute Leiterin der Ballettschule vom Hamburg Ballett), sowie ihr Vater Janusz Mazon (heute dort in Hamburg Lehrer und zudem ein sehr begabter Ballettmeister) entstammen der Tanzwelt, beide waren auch Stars bei John Neumeier; vor allem die zarte Gigi Hyatt, mit der ihre Tochter in begrenztem Maß auch durchaus Ähnlichkeit hat, bezauberte mit neckisch-schelmischer Verliebtheit und entzückend niedlicher Gestik.
Emilie Mazon ist etwas herber vom Typ her, weniger charmant auf den ersten Blick, auch weniger lyrisch, dafür aber hat sie das Potenzial zu einer großen Dramatikerin. Nina als Möwe gelingt ihr trotz der fast statischen Stilistik dieser Figur denn auch fantastisch, man meint, eine ganz neue Tänzerin zu sehen – und wenn sie dann zurück in die Rolle der Nina schlüpft, kann man verstehen, warum sie sich von Kostja abwendet. Der verträumte Avantgardist ist ihr nämlich zu exaltiert, zu radikal, zu wenig einschmeichelnd. Umgekehrt gesagt: zu sperrig, zu weltfern, zu kühn.
Es ist die Tragik seines Lebens, dass Kostja seine Nina verliert, und zwar an den mainstreamigen, eitlen Erfolgschoreografen Trigorin (Boris Alexejewitsch Trigorin, vorzüglich getanzt und dargestellt von Dario Franconi).
Nina sieht Trigorin an – und verfällt ihm, vom ersten Moment an. Wunderbar, wie Emilie Mazon das spielt und tanzt!
Sie erkennt Stärke in Trigorin, sie erkennt den Mann in ihm – und nicht den verliebten Jungspund, als der Kostja ihr erscheint.
Wie ein Metallstück sich vom Magneten angezogen fühlt, geht Nina auf Trigorin zu, eine hypnotische Macht scheint sie in Bann zu schlagen.
Da legt sie ihm, der – wie Anton Tschechow einst selbst – gern mit der Angel am Wasser hockt – ganz einfach und wie unwillkürlich die Hand von hinten auf die Schulter. Eine Berührung! Oh! Sie erschreckt sich selbst. Aber das ist der Beginn einer langen, traurigen Geschichte…
Und Trigorin?
Er ist der Liebhaber, Gefährte und auch Chef von Kostjas Mutter, der Arkadina. Diese liebt nur sich selbst, aber Trigorin wird bei ihr bleiben und seinen Star niemals wegen Nina verlassen. Was Nina nicht davon abhält, sich ihm immer wieder an den Hals zu werfen.
Es ist die Tragik in Kostjas Leben, dass er beide Frauen, die Mutter und die Geliebte, an Trigorin, diesen selbstgefälligen Windhund, verliert.
Die Verquickung der Verhältnisse sorgt zudem für Zündstoff, zumal Trigorin, wie jeder gute Schürzenjäger, einer Affäre mit der hübschen Nina nicht abgeneigt ist.
Neumeier ist aber auch hier nicht ungerecht. Es erwischt Trigorin nämlich wirklich, er erwidert die erotomane Hypnose im Pas de deux mit Nina, er wägt derweil auch ab, versucht noch, die Sache rasch wieder zu beenden und abzubrechen, bevor Folgen entstehen. Umsonst.
Die Magie der Erotik zwischen dem Starchoreografen und der Anfängerin ist groß genug, um alle Bedenken gegen eine Liebschaft zu besiegen.
Kostja kommt dann zufällig hinzu, als Trigorin mit Nina Schritte und Posen einübt, die für ihn, den braven mitläuferischen Gebrauchskünstler, typisch sind. Da ist ein etwas überzuckertes, dennoch formschön ausgeführtes Port de bras, dazu eine simple Tendu-Linie, die irgendwie nach mehr aussieht.
Kostja ist entsetzt. Er ist jung, aber nicht dumm. Er versucht, seine Nina zurückzugewinnen, sie zu halten. Es gibt Pas-de-trois- und Pas-de-deux-Kombinationen in diesem Ballett, die äußerst herzergreifend sind.
Da rutschen die drei mit Nina in der Mitte sitzend und liegend auf der Kante der Outdoor-Bühne am See entlang, als befänden sie sich in einer ungemütlichen Reisesituation.
Das Leben – ein einziger langer Trip…
Die Love Lamentation, die einen großen Teil der Popkultur ausmacht, vom Blues bis zum Rap, findet sich hier auf höherem Niveau, aber dennoch absolut verständlich im Ballett von John Neumeier formuliert.
In der „Möwe“ gibt es kein einziges dauerhaft glückliches Paar; dennoch kochen die Leidenschaften beständig hoch.
Aber natürlich kann niemand gegen die Irrungen und Wirrungen der Liebe an, zumal dann nicht, wenn die Menschen nichts anderes im Sinn haben, als zu warten, ob irgendwann mal irgendetwas passieren wird…
Auch diese so typisch russische, so typisch vorrevolutionäre Stimmung des Wartens und der Vergeblichkeit ist eingefangen im Stück:
Da sitzen Menschen freundlich, aber totenblass auf Caféhausstühlen in der kargen Sonne im rechten Bereich der Bühne und lassen im Zeitlupentempo die Wodkaflasche kreisen. Welche gepflegte Trostlosigkeit!
Aber wie Tschechow will John Neumeier auch das Komische der tragischen Situationen hier hervorkitzeln. Und dank einer Figur gelingt ihm das ganz besonders gut:
Mit Lloyd Riggins als tragikomischem, ulkig-frustriertem Onkel Sorin (Pjotr Nikolajewitsch Sorin). Sorin ist der Bruder von der Arkadina und zugleich der Besitzer des Landgutes am See, bei dem man sich hier in der Sommerfrische befindet.
In Neumeiers „Möwe“ ist er der Mann mit Hut und chaplinesker Landstreicheranmutung, der wie aus einer anderen Welt immer wieder in das Stück hinein purzelt. Riggins macht das mit ganz eigenwilligem, hoch künstlerischen Flair. Dass es sich um einen akrobatischen Akt handelt, bemerkt man da kaum, so sehr gehört es zur Gestaltung dieser Rolle. Sorin ist ein Mensch, der in einem zeitlichen Vakuum zu leben scheint, ein wenig abgehoben von der Realität und dennoch von ihr unterjocht. Er hat nicht, wie so viele russische Gutsbesitzer bei Tschechow, finanzielle Probleme. Aber er spürt, dass die Ära der Bürger im Zarenreich zu Ende geht. Er leidet, und zwar stoisch… und lässt sich eben einfach fallen.
Eine herzerfrischende, dennoch so symbolträchtige Rollengestaltung!
Mal fällt er also ganz bravourös die Treppe (die links vorne in die Kulissen führt) hinab – und purzelt solchermaßen in die Szene hinein, tollkühn-akrobatisch, dennoch rührend-expressiv, ganz so, als verkörpere er den ganzen sozialen Abstieg einer großbürgerlichen Gesellschaft, die ein für allemal ausgespielt hat.
Auch später läuft er nicht, sondern fällt wieder die Treppe herunter – nicht, weil es so schön für ihn war, sondern weil dieser Sorin gar nicht anders kann, als sich der Schwerkraft zu ergeben. Für Ballett eine außergewöhnliche Maßnahme!
John Neumeier sollte ein Stück für Lloyd Riggins kreieren, ein Stück für einen Tänzer und eine Treppe – denn so ausdrucksstark wie diese beiden kann sonst niemand das Möbel, das kein Möbel ist, nutzen!
Später aber erleidet Sorin einen Schwächeanfall, und zwar am Tisch bei den Sommerfrischlern, und die jungen Leute sind zunächst entsetzt davon, weil wie tot dasitzt.
Sein Anblick alarmiert: Was fehlt dieser Gesellschaft, was macht sie so herzkrank, was auch im übertragenen Sinne zu deuten ist…
Die jungen Leute tanzen sich daraufhin ihren Frust von der Seele, in einem trotzig aufbegehrenden Gruppentanz – voll von Sehnsucht nach einem besseren Leben.
Neumeier-Kenner fühlen sich nicht nur an dieser Stelle an „Liliom“ erinnert. Nicht zufällig ist das Stück, welches mit dem amerikanischen Wirtschaftssystem abrechnet und darin einen Protesttanz von Arbeitslosen während der Großen Depression in den USA platziert, mit Bezug auf die vorrevolutionäre russische „Möwe“ zu sehen.
Es haben eben beide Systeme Unrecht darin, die Menschen sich selbst zu überlassen und ihnen oft genug keine Perspektiven und kein gutes Leben zu ermöglichen.
„Die Möwe“ wurde 1896 uraufgeführt – und fiel im ersten Anlauf komplett durch. Erst das Moskauer Künstlertheater unter der Leitung von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski brachte zwei Jahre später einen Riesenerfolg. Tschechow fand über diese Arbeit mit den Moskauern sogar zu seiner Ehefrau Olga Knipper, die als Schauspielerin die Nina verkörperte.
Tschechow, damals schon schwer an Tuberkulose leidend und um sein Schicksal als Arzt (er hatte auch diesen Beruf) genauestens wissend, führte mit Olga bis zu seinem Tod eine Fernehe. Er wollte sie nicht anstecken (TBC wird nur selten bei einmaligem Kontakt übertragen, das Risiko steigt aber mit täglicher körperlicher Nähe). Der todkranke Dramatiker hatte sich, nach langer Korrespondenz mit ihr, mit Olga eine würdige künftige Witwe gesucht.
Im aktuellen, ganz neu gemachten Programmheft der „Möwe“ beim Hamburg Ballett erläutern Essays und Briefauszüge sehr genau die Lebenssituation von Tschechow und seiner Frau. Und: Sie zeigen, dass auch im Rahmen von Eheschließungen ungewöhnliche Verbindungen leben können.
Das Programmheft von 2002 hatte indes auch seine Vorzüge. Ein Auszug aus dem Probentagebuch darin zeigt den Umgang mit verschiedenen Musiken in Neumeiers „Möwe“:
„Montag, 29. April 2002, 17.30 Uhr. Mit geschlossenen Augen improvisiert John Neumeier Bewegungsmuster für Kostjas moderne Choreografie auf der kleinen quadratischen Holzbühne. … (Etwas später, Anm. d. Red.:) Zunächst verwendet John Neumeier ein Marimbaphon-Stück, das mit seiner singenden und schwingenden Melodik ein starker Kontrast zu Schostakowitsch ist… Als ein Teil der Choreografie steht, lässt John Neumeier ein anderes Musikstück spielen. Die Tänzer sollen dazu gleich die eben gelernten Schritte tanzen. Es ist ein Percussion-Stück von Evelyn Glennie. Wir sind alle sofort begeistert.“
Man sieht, dass bedeutende Choreografie nicht bloße Illustration von Musik ist, sondern einen eigenen Rhythmus, eine eigene Sinnlichkeit, überhaupt eine Eigenständigkeit entwickelt, auf die man dann verschiedene Musiken drauflegen kann. Mit unterschiedlicher Wirkung indes.
Unter Markus Lehtinen, der die Wiederaufnahme der „Möwe“ 2017 beim Hamburg Ballett dirigierte, kamen die verschiedenen darin gespielten Komponisten vollauf zu ihrem Recht. Das Niveau vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zog ja spürbar an, seit Kent Nagano an der Hamburgischen Staatsoper der Musikchef ist. Mittlerweile dürfte dieses Orchester deutlich zu den Top Ten in Deutschland gehören.
Für die „Möwe“ wählte John Neumeier – der außer für die Choreografie auch für das Licht, das Bühnenbild und die Kostüme zeichnet – Stücke von Dmitri Schostakowitsch, Peter I. Tschaikowsky, Alexander Skrjabin und eben Evelyn Glennie aus. Die 1965 in Schottland geborene Schlagzeugerin und Komponistin Glennie hat einen eigenen, ausdrucksstarken Stil in ihrer Percussion-Musik, die hier einer emotionalen Ebene, einer Art Ausbruch aus der Gegenwart, entspricht.
Und noch weitere Hintergründe sind interessant: Es gibt Kostümentwürfe aus den 20er Jahren aus Russland, die an Neumeiers Design der Kostja’schen Möwen-Tänzer erinnern.
Aber auch die Bezüge zu George Balanchine, der im weiteren Sinn das Vorbild für den Schürzenjäger Trigorin abgibt, sind mit Fotos belegt.
Trigorin ist bei Neumeier also eine Satire auf Balanchine! (Endlich hat sich das mal wer getraut!)
In Kostjas Fantasie aber rumort es weiter, und seine Kreationen – vorzüglich von Mayo Arii, Giorgia Giani und Yun-Su Park sowie von Jacopo Bellussi, Aleix Martínez (sehr schön präzise!), David Rodriguez und Pascal Schmidt getanzt – sind Traumtänzer wie aus einer hoffnungsvollen, futuristisch angehauchten Vision.
Kein Zweifel: In Kostja steckt etwas, das mehr als Talent ist; man wünscht diesem jungen Mann, dass er sich gegen seine Mutter durchsetzen und sich entfalten kann…
Der zweite Teil der „Möwe“ beginnt derweil mit einer ganz anderen Welt, mit der großen weiten Welt der Großstadt, mit einer Welt, in der nicht die Ideen, sondern die Taten zählen und die mit den frei fliegenden Träumen vom Möwensee nichts zu tun hat: Ein rot-orangefarbenes, fetziges Moskauer Revuetheater tanzt auf.
Das Corps de ballet vom Hamburg Ballett zeigt hier seine Vielseitigkeit, schmissig und mit tollen Hüftschwüngen wird hier herumgewirbelt, dass es eine Freude ist!
Dmitri Schostakowitsch liefert hier die passende Klangkulisse, es ist gehobenes Boulevardtheater, was wir sehen, Boulevardballett, wenn man so will.
Florencia Chinellato und Florian Pohl sind die zünftigen Stars dieser Revue, sie machen wirklich gute Laune – ohne jeden Abstrich.
Es ist ein weiteres Theater-im-Theater, aber:
Was für ein Kontrast zu Kostjas zarten Avantgarde-Träumen!
Nina ist eine dieser Revue-Tänzerinnen geworden (bei Tschechow wird sie Schauspielerin in der Provinz). Plötzlich steht sie da – und erblickt Trigorin, der mit zwei Ballerinen in weißem Tutu agiert.
Er erkennt sie nicht sofort, und sie schubst die Ballerinen weg, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann setzt sie die blonde Perücke ab – und Trigorin erkennt sie. Und entflammt sofort erneut.
Ein Pas de deux entspinnt sich, der Weltflucht und Zuflucht in der Lust des Moments bedeutet. Er wird Folgen haben. Doch Trigorin lässt Nina nach diesem kurzen Revival allein. Noch immer trägt er ihr Medaillon, das sie ihm einst am See gab…
Und weiter geht es mit dem fröhlichen Tanz der Revue, die Mädels in Bunt, die Herren im Frack…
Eine Reminiszenz erinnert dann an Kostjas Möwen-Träume.
Das Spiel-im-Spiel ist aus, ein anderes – ein ganz anderes – beginnt. Es liegt nahe, dass damit gesagt wird: Alles ist wichtig, aber die Bühne ist immer das Wichtigste. Oder auch: Alles ist Bühne…
Nina findet sich bald allein wieder. In einem rosafarbenen Gewand mit pink eingefärbten Straußenfedern am Saum träumt sie vom großen Erfolg, sie tanzt, nur für sich, beseelt von dem Gedanken, ein großer Star zu werden.
Im Erfolgstheater laufen jedoch noch ganz andere Stücke. Jetzt tritt die Satire auf den Plan und überlagert alles: Trigorin lässt ein schrecklich kitschiges Ballett namens „Der Tod der Möwe“ premieren, und die Arkadina (Anna Laudere mit genügend Hingabe und auch Spaß an der Übetreibung) als Möwenprinzessin ist der scheinbar niemals sterbende Schwan, der eingangs oben beschrieben ist. Was für eine Gaudi!
Zumal Dario Franconi als Trigorin im Leopardenfummel (als auch choreografischer Verschnitt von Faun und „Spectre“) zugleich toll und erbarmungswürdig auftanzt. Wesentlich ist hier – und Franconi macht das sehr schön – die Herausstellung der selbstzufriedenen Eitelkeit des erfolgsverwöhnten Mainstreamers Trigorin, der offenbar genau weiß, dass er mit seinen Hüpfern den Geschmack des damaligen Publikums bedient.
Das Ensemble in pastellfarbenen Tutus überzeugt ebenfalls – das Hamburg Ballett und John Neumeier eignen sich zweifelsohne somit einmal mehr, Ballettkritiker aus- und weiterzubilden.
Dann gibt es – für Neumeier-Fans historisch interessant – eine eincollagierte Passage aus dem Ballett „Désir“, das Neumeier 1973 kreierte. Es gehört Mascha, der Gutsverwalter-Tochter, die von Carolina Agüero mit großer Leidenschaft getanzt wird. Mascha fühlt in sich so viel Liebe, aber der Mann, dem sie sie geben möchte, ist Kostja. Und Kostja liebt – immer noch – Nina.
Der Lehrer Medwedenko (Semjon Semjonowitsch, getanzt mit starker, schöner Energie von Thomas Stuhrmann), hingegen wirbt um Mascha. Und sie entscheidet sich, mit ihm zu gehen…
Als Nina bei den alten Freunden wieder auftaucht, ist sie fast eine gebrochene Frau. Ganz in Schwarz kündet auch ihr Outfit davon.
Trigorin hat großes Unglück über sie gebracht. Man weiß es aus dem Tschechow-Drama, beim Hamburg Ballett gibt es keinen entsprechenden Hinweis. Die Geschichte von Trigorin und Nina endete jedoch traurig: Erst hat er sie geschwängert, dann sitzen gelassen, dann ist ihr Kind kurz nach der Geburt gestorben.
Jetzt kommt sie zu Kostja – und lässt sich in einem poetisch-schwerelosen Pas de deux von ihm trösten. Hier findet auch die oben schon beschriebene Vertikalpose statt – unnachahmlich in ihrer symbolischen Ausdruckskraft.
Dennoch ist Nina nach wie vor Trigorin verfallen, und sie verabschiedet sich von Kostja – es ist ein endgültiges Gehen.
Emilie Mazon tanzt und spielt diese Szene großartig, ohne tänzerische Worte teilt ihr Körper die Entscheidung mit, nicht zu Kostja zurückzukehren.
Ganz am Ende stehen die Träume von Kostja, noch einmal tanzen seine Kreationen auf, noch einmal schenken sie ihm und uns ein Glück, das mittlerweile mehr aus Ahnung denn aus Hoffnung besteht. Noch einmal gibt es ein Theater-im-Theater…
Und Kostja zerzupft seine papierene Möwe, Stück für Stück, er gibt seine Träume auf, er gibt sich geschlagen – unglücklich rangelt er sich von der Bühne herab auf den Boden, wo er reglos liegen bleibt. Bei Tschechow erschießt Kostja sich, ein Suizid, den er mit Vorlauf ankündigte, als er die Möwe erschoss, um sie Nina zu schenken.
Weder das Tschechow’sche noch das Neumeier’sche Ende würden dazu berechtigen, die Stücke „Komödien“ zu nennen.
Aber der Dramatiker und auch der Choreograf wollen hier der Tragik des Lebens mit Heiterkeit begegnen, bei Tschechow spielt ein plaudernder Salonton eine Rolle, bei Neumeier die vielfältigen, sich abwechselnden munteren Elemente. Das positive Ende, das eine Komödie oder auch eine Tragikomödie haben müssten, finden wir dennoch hier nicht – die Stimmung ist von Verzweiflung und Düsternis geprägt.
Wäre da nicht noch das Schlussbild in Neumeiers Ballett. Ausgerechnet die abwartende, wie in Trance Karten spielende Caféhausgesellschaft gibt Anlass zu neuem Licht.
Mascha, die hier inmitten der ihrigen wartet und wartet und wartet, dass etwas geschieht – die Atmosphäre hat schon etwas von den Theaterstücken von Samuel Beckett – hebt plötzlich etwas Weißes, Reines, Feines empor: eine Möwe aus Papier… Welche Poesie am Ende dieses Abends.
Und obwohl John Neumeier hier ein ganz eigenständiges Ballett kreierte, so transportiert es doch viel vom typischen Tschechow-Flair.
Die umjubelte Uraufführung im Sommer 2002 tanzten Ivan Urban und Anna Polikarpova, auch Lloyd Riggins war bereits mit an Bord, und zwei Mitglieder, die das Hamburg Ballett seither verließen, nämlich Yukichi Hattori und Joelle Boulogne (als Mascha), prägten sich ebenfalls ein.
Als Stück besteht „Die Möwe“ aber unbedingt die Neubesetzungen in dieser Saison – zumal es zu den wenigen Tschechow-Balletten gehört, die es überhaupt auf hohem Niveau gibt. Offen gesagt, fällt mir auf Anhieb kein anderes ein. Es gibt zwar eine Bolschoi-Inszenierung und auch eine entsprechende DVD von „The Seagull“ („Die Möwe“) – aber die Choreografie stammt von Maja Plisetzkaja, die auch darin tanzt. Nun war Plisetzkaja eine der großartigsten Ballerinen, die je gelebt haben (www.ballett-journal.de/dvd-maja-plissezkaja/) – aber als Choreografin war sie nicht in gleichem Maße befähigt, und dieses abendfüllende Stück mit viel zu viel Klischee-Ausstattung zur Musik ihres Gatten Rodion Schtschedrin ist zwar interessant, aber letztlich als nicht ganz geglücktes Experiment zu werten.
Man muss Neumeier zudem dankbar sein, dass sein Ballett Tschechow vom Kitsch der endlosen Birkenwälder, alten Kirschgärten und muffigen Damenhüte befreit hat. Dass er dafür jene Avantgarde mit ins Spiel bringt, die sich auf der Grundlage und als Gegenreaktion in Bezug auf das Moskauer Künstlertheater entwickelte, verleiht dem Stück eine weitere Dimension. Wie gut, dass er gerade „Die Möwe“ wählte!
John Neumeier spielte ja zunächst viele Jahre mit dem Gedanken, aus Tschechows „Die drei Schwestern“ mal ein Ballett zu machen. Dieses Stück hat bekanntlich Peter Stein und seiner Berliner Schaubühne Weltruhm beschert. Eine andere Inszenierung an der Schaubühne, nämlich Andrea Breths Regiearbeit „Die Möwe“, brannte sich dann 1996 in Neumeiers Gedächtnis ein, und er entschied, sich diesem Stück anstelle der „Schwestern“ zu widmen.
Mit anderen Mitteln freilich als denen, die Breth und ihr Sprechtheater zur Verfügung hatten. Aber sicher auch in dem Wissen um den fairen Wettbewerb, in dem alle Künste stehen sollten – große Vorbilder scheute John Neumeier nämlich nie. Warum auch?
Betrachtet man das Ballett „Die Möwe“ und vergleicht es mit der Literaturvorlage, so werden Ballettkundige immer für John Neumeier entscheiden.
Gisela Sonnenburg
Zur Zweitbesetzung geht es hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-die-moewe-zweitbesetzung/
Termine: siehe „Spielplan“