Happy Birthday, John Neumeier! Der Hamburger Choreograf John Neumeier wird heute 80 - und schaut sowohl zurück als auch vorwärts. Ein TV-Portrait hilft, ihn zu verstehen

Pressekonferenz bei John Neumeier

John Neumeier wird 80 Jahre jung! Wir gratulieren! Und freuen uns, dass der bedeutendste lebende Choreograf seine Kraft weiterhin in seine Arbeit steckt. Foto: Gisela Sonnenburg 

„Ich zweifle immer. Etwas hat nur eine wirkliche künstlerische Qualität, wenn man es in Frage stellt, wenn man sich in Frage stellt.“ Solche Bekenntnisse von John Neumeier gibt es in Jan Peter Gehrckens‘ neuem Portrait von ihm zu hören, welches gestern abend erstmals auf 3sat lief. „John Neumeier. Unterwegs“ knüpft an andere Arbeiten von Gehrckens über JN an, zeigt den Meisterchoreografen aber erstmals auch in Paris bei der Arbeit sowie privat mit seinem Gatten. Auf YouTube sowie beim Fernsehen des NDR ist die sehenswerte Doku erneut zu sehen. Der Gründer vom Hamburg Ballett ist ja bekanntlich ein Phänomen, das mehr als einen Abend zu füllen vermag, und der Anlass des Portraits ist nun absolut veritabel: John Neumeier wird heute, am 24. Februar, ganze 80 Jahre jung. HAPPY BIRTHDAY! Und bitte weiter so! Denn Neumeier, dessen kreative Kraft ungebrochen ist, kann auf über 160 Werke, zwei Balletttruppen, eine renommierte Ausbildungsstätte, eine Stiftung und  eine umfassende Kunstsammlung blicken. Alles steht im Zeichen des Balletts, des klassischen wie des modernen.

Seit 1973 wirkt der Deutschamerikaner in Hamburg, seit den späten 70er Jahren ist er auch mir als Macher eines „Ballettwunders“, wie die Medien es damals nannten, bekannt. Der wundersame Effekt äußerster Kreativität hält an, ungeachtet des hohen Alters des Jubilars: Im aktuellen Monat verzeichnet der Hamburger Ballettspielplan inklusive der Schulauftritte nicht weniger als siebzehn Vorstellungen, darunter zwei Premieren, zwei Repertoirestücke, eine Wiederaufnahme, eine Werkstatt und eine Gala. Andere Ballettensembles vergleichbarer Größe leisten sich gerade mal vier bis sechs Auftritte pro Monat mit höchstens drei verschiedenen Stücken.

John Neumeier als Kind – zu sehen auf diesem privaten Foto in „John Neumeier. Unterwegs“ von Jan Peter Gehrckens. Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

Nun ist Ballett eine diffizile Angelegenheit, aufwändig und probenintensiv. Es ist ja nicht wie beim Sprechtheater, wo ein Stück nach der Premiere kaum noch geprobt wird. Im Ballett ist die Fehlerquote naturgemäß viel höher, darum wird für jede Aufführung mit vollem Einsatz oder zumindest voller geistiger Konzentration geprobt. Schon die falsche Haltung eines Fingers kann die Linienführung einer Pose versauen. Dazu gilt es, das Zusammenspiel mit der Musik zu beachten, außerdem das Miteinander aller tänzerischen Kräfte auf der Bühne.

Ich bin nicht die einzige Kennerin, die immer wieder Bauklötze staunt, weil das Hamburg Ballett – und zeitweise auch sein kleines Geschwister, das Bundesjugendballett – scheinbar mühelos ein Pensum hinlegt, das jede „normale“ Truppe krass überfordern würde. Und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Zwei Aspekte sind interessant: erstens der eigens herangezogene Mitarbeiterstab Neumeiers und zweitens die hohe Motivation aller Beschäftigten, vom Pförtner des Ballettzentrums bis zu den Starballerinen der Hamburgischen Staatsoper.

„Der Chef“ – so wird Neumeier von vielen intern genannt – vermag mit Charme und Führungskraft, Menschen für sich und seine Sache zu begeistern. Wer nicht bereit ist, alles, aber auch wirklich alles zu geben, wird alsbald gebeten zu gehen. Ballett ist ohnehin nichts für Faulpelze; die anstrengende Akrobatik, die auf der Bühne so schwerelos aussieht, aber auch das in Neumeiers Werk wichtige psychologische Spiel beruhen auf passionierter Arbeit.

Der Chef und das Team: John Neumeier mit Mitarbeitern kürzlich bei einer Probe der „Kameliendame“ für die Pariser Opéra. So zu sehen in „John Neumeier. Unterwegs“ von Jan Peter Gehrckens. Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

In Milwaukee, USA, mit polnischer Abstammung geboren, kam Neumeier über London nach Deutschland. Zuerst nach Stuttgart, wo er als Tänzer begann, dann nach Frankfurt am Main, wo er einer der jüngsten  Ballettdirektoren seiner Generation war. Den Hamburgern wurde er mit den Jahrzehnten so etwas wie ein wandelndes Wahrzeichen der Stadt. Dass er sich lange Zeit drei Jahre jünger machte, wurde ihm verziehen, als er es von sich aus eingestand.

Eine Diva ist Neumeier im selben Ausmaß wie ein knallharter Geschäftsmann. Vor allem aber ist er Choreograf, mit Tendenz zum Gesamtkunstwerk. Manchmal stammen auch das Lichtdesign, die Kostüme, das Bühnenbild von ihm.

Seine Fans bejubeln diese Stücke gern mit stehenden Ovationen. Man könnte ihn den Superstar des zeitgenössischen Balletts nennen. Er könnte sich darauf ausruhen. Aber er ist von Arbeit besessen. Sein langjähriger Lebensgefährte, der Hamburger Herzchirurg Hermann Reichenspurner, den Neumeier kürzlich ehelichte, gibt denn auch zu, dass ihre Beziehung sich selbstverständlich nach den beruflichen Terminkalendern richtet.

Jemand, der seine Kunst erklärt und dennoch weitere Wege zu ihr offen hält: John Neumeier. So gesehen und gehört in der Doku von Jan Peter Gehrckens. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Soeben wurden in Hamburg die Pläne für die nächste Spielzeit verkündet: „Die Glasmenagerie“ nach dem Drama von Tennessee Williams wird als Ballett uraufgeführt, und mit „Ein Sommernachtstraum“ wird eines der erfolgreichsten Ballette der Tanzgeschichte wieder auf die Bühne kommen.

Und was macht John Neumeier an seinem Geburtstag? Feiern? Ja, aber auf seine Weise: „The World of John Neumeier“ heißt die viereinhalbstündige Gala, die er heute ab 17 Uhr in der Staatsoper moderieren wird. Stars aus dem Tanzgeschäft werden als Gäste auf der Bühne erwartet, zudem gibt es Auszüge aus Neumeier-Balletten wie „Der Nussknacker“, „Die Kameliendame“, „Nijinsky“ und „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ zu sehen. Das sinfonische Werk Mahlers hat Neumeier übrigens längst komplett durchchoreografiert, manche Musiken sogar mehrfach.

Zuletzt reüssierte er mit der Wiederaufnahme von  „All Our Yesterdays“, einem zweiteiligen Abend von stark suggestiver philosophischer Kraft und mit pazifistischer Note.

Mein Lieblingszitat von Neumeier, der am Moskauer Bolschoi Theater ebenso begehrt ist wie an der Pariser Opéra und bei der Lyric Opera Chicago, bezieht sich auf den Kreationsvorgang seiner Figuren: „Ich bin Mann, ich bin Frau, ich bin sie alle!“

Ein Neumeier überwindet scheinbar alle Grenzen, seinerzeit auch die innerdeutsche während des Kalten Kriegs: in die DDR gelangte seine Kunst in den 80er Jahren mit Gastspielen.Die beiden deutschen Kulturen fanden sich ebenso in seinen Stücken wieder wie es die weiteren vier Kontinente tun, auf denen Neumeiers Kunst schon bejubelt wurde.

„Die Kameliendame“ auf einer weiteren Probe: mit Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett. Beim  Bayerischen Staatsballett gastierten die beiden Stars. Ihre Probe zeigt Jan Peter Gehrckens in seiner jüngsten Neumeier-Doku. Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

Das passt selbstredend zu seinem künstlerischen Credo: „Ich glaube, die Aufgabe der Kunst ist, dass Menschen mehr von sich selber verstehen.“

Wobei man in diesem Fall von der Erkenntnissuche gar nicht genug bekommen kann, weil sie mit einem ästhetischen Impetus einher kommt, der in den Bann schlägt – und weil sie wie ein Kaleidoskop immer neue Perspektiven auf bestimmte urmenschliche Fragen eröffnet.

So wurde „Die Kameliendame“ in diesem Jahr bereits zum sechsten Mal an der Pariser Oper inszeniert, stets in mehreren Besetzungen – und dennoch ist jede Aufführung ein Wagnis, ein Fest, ein Ereignis, das den Charakter von Erlösungsritualen hat. Das gilt natürlich unabhängig vom Spielort, weltweit!

Eindrucksvoll: die Neumeier-Ballerina Carolina Agüero in Neumeiers „Nijinsky“ – die Aufzeichnung dieses Balletts lief im Anschluss an die Gehrckens-Doku auf 3sat. Und es gibt sie als DVD und Blu Ray. Ein schönes Ostergeschenk, by the way… Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

Bis heute baut Neumeier Brücken mit seiner ballettösen Kultur, schmiedet Freundschaften zwischen Leuten aus Tokio und Dresden, Sankt Petersburg und Berlin. Dafür sollte man ihm danken, aber auch dafür, dass er das Ballett immer wieder aus seiner etwas verstaubten Ecke herausholt und mit Ideen beseelt, die vor allem einem dienen: der Menschlichkeit.

Die Stadt Hamburg darf sich glücklich wähnen, ihn als Ehrenbürger zu haben. Mehr noch: seine Kunst stetig zu ihrer Stadtkultur zählen zu dürfen. Sollte sie einst seine Kunstsammlung und die meisten Lizenzen an seinen Werken erben, was im Gespräch ist, wird der Haushalt der Hansestadt wohl noch größere Überschüsse verzeichnen als ohnehin schon. Im Gegenzug verlangt Neumeier, dass seine Idee eines Ballettinstituts realisiert wird, welches seine gesammelten Objekte angemessen museal verwaltet und präsentiert.

Paris hat den Place Diaghilev – wann wird Hamburg seine John-Neumeier-Location haben? Faksimile aus „John Neumeier. Unterwegs“ von Jan Peter Gehrckens / 3sat: Gisela Sonnenburg

Um dieser Zukunft seiner Lebensinhalte den Weg zu bereiten, wird auch der Erlös der heutigen Gala – die eine Benefiz-Gala ist – an die Stiftung John Neumeier gehen. Die auftretenden Künstlerinnen und Künstler verzichten dafür auf ihre Gage, Staatsoper und Hamburg Ballett auf die Einnahmen.

Man sollte nicht glauben, ein John Neumeier würde irgendetwas einfach nur dem Zufall überlassen. Zum Glück nicht!
Gisela Sonnenburg

Zum Video!

www.hamburgballett.de

www.johnneumeier.org

www.3sat.de

www.ndr.de

„Nijinsky“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett ist als DVD und als Blu Ray im Handel erhältlich. Mehr hier

 

 

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