Der Tod ist kein Kinderspiel. Er holt auch die Besten – so wie jetzt, am 2. Mai 2015, Maja Mikhailovna Plissezkaja, die im Alter von 89 Jahren verstarb. Geboren am 20. November 1925 in Moskau, tanzte sie sich beharrlich gegen alle politischen und menschlichen Widerstände nach oben. Sie war das Aushängeschild des Bolschoi Theaters, viele Jahrzehnte lang. Und prägte mit ihrer nie affektierten, nie nur formalen, sondern immer inhaltlich rückgebundenen, urmenschlichen Darstellungsweise das Ballett des 20. Jahrhunderts. Sie war die letzte Primaballerina assoluta dieses nicht nur hochkarätigen, sondern auch tiefgreifenden Formats.
Gerade noch schrieb ich, im Text über die Vorstellung von „Schwanensee“ am 1. Mai in Berlin, dass Maja für die Darstellung des Schwans in den Zoo in Moskau ging, um die lebenden, echten Schwäne zu studieren. Als „Sterbender Schwan“, in der Gala-Nummer nach der Musik von Camille Saint-Saens), wurde sie ebenso eine Legende wie in den zahlreichen abendfüllenden Balletten am Bolschoi. So in dem Märchen „Das bucklige Pferdchen“, das 1955 in Moskau uraufgeführt wurde, nach der Musik von Rodion Schtschedrin. Drei Jahre später heirateten Rodion und Maja – der moderne Tonsetzer und die klassische Ballerina waren ein Dreamteam.
In den 70er und 80er Jahren hat sie Ballette von Rodion auch choreografiert, so „Die Möwe“ nach Tschechows gleichnamigen Drama. Außerdem war Maja noch in hohem Alter eine hervorragende Pädagogin und Ballettmeisterin – aber ihr Haupttalent war das Tanzen an und für sich, in der typischen strengen, dennoch liebenswerten und vor Lebensfreude und Energie nur so funkelnden Maja-Plissezkaja-Manier.
Rodion, sieben Jahre jünger als seine Märchenprinzessin, hat sie nun überlebt. Wir fühlen mit ihm! Haben wir doch alle einen Menschen und eine Künstlerin verloren, die mit jeder Geste ihres magischen Körpers zu rühren wusste.
Sie stammte aus einer Künstlerfamilie, war verwandt mit den Messerers, die immer wieder Ballettkünstler hervor brachten. Majas Jugend war geprägt von Disziplin und Glück einerseits und dem Stalin’schen Terror andererseits. Ihre Mutter, Schauspielerin, wurde deportiert, ihr Vater, ein jüdischer Industrieller, von Stalins Schergen erschossen. Ihr Talent und ihre Willenskraft halfen Maja, all das zu überstehen – und trotz anfänglichen Benachteiligungen vom Bolschoi aus eine Weltkarriere zu starten.
Die Frau mit dem markanten Leberfleck über der linken Oberlippe hatte neben ihrem Spieltalent und ungeheurem Durchhaltevermögen aber auch alles, was eine Ballerina braucht, zumal in einer Ära, in der Technik noch nicht alles war: Weiblichkeit und Sexiness, Stärke und Softness, weich fließende, dennoch expressive Bewegungen, ein höchst apartes Gesicht und dazu einen biegsamen, keineswegs aber willfährigen Leib. Sie konnte auf der Bühne süß und entzückend, aber auch respekteinflößend und dramatisch sein. Von poetisch bis düster gelang ihr jede Farbe, jede Nuance, jede Brillanz – ein Chamäleon des Balletts und doch immer unverkennbar Maja Plissezkaja.
Sie gastierte denn auch rund um den Globus, tanzte in der DDR wie in den USA. Und noch mit weit über 60 Jahren wurde sie vom Publikum begehrt, das diese einzigartige Primadonna sehen, fühlen, bejubeln wollte!
Die DVD „Maya Plisetskaya – Diva of Dance“ zeigt ein breites Spektrum ihrer Tanz- und auch ihrer Erzählkunst. Als „Raymonda“ und als Kitri, als Julia und Schwanenkönigin, in „Prélude“ und in „Spartacus“, in Béjarts „Boléro“ und „Isadora“ – und natürlich als „Sterbender Schwan“ ist Maja hier zu sehen.
Außerdem aber berichtet Maja in Interviews auf der DVD von ihrer Kindheit, ihren Rollen, ihren Erlebnissen am Bolschoi (als Stalin heimlich kurz vor seinem Tod ihren „Schwanensee“ goutierte) – und ihren Freundschaften, etwa mit dem Modedesigner Pierre Cardin.
1991 übersiedelten Maja und Rodion nach München, pendelten aber regelmäßig auch nach Moskau. Dort war für ihren 90. Geburtstag eine große Gala geplant – ob die nun ohne sie, aber zu ihrem Gedenken statt finden wird, ist abzuwarten.
Als „Isadora“, einer Hommage an Isadora Duncan, tanzt sie zur orchestrierten Marseilleise, in der Choreografie von Maurice Béjart – und steht im rosaroten Flattergewand da wie die Freiheit in Person. Dagegen mutet die Arbeit von Frederick Ashton über die Duncan übrigens fast farblos an – vielleicht aber fehlt da auch einfach nur das unwiderstehliche Temperament von Maja Plissezkaja. Es wird uns weiterhin fehlen…
Gisela Sonnenburg
DVD: „Maya Plisetskaya – Diva of Dance“, EuroArts, 2006 (2054938)