
Bereit für die Liebe und für alles, was lebendig hält: Das Ballett Dortmund in „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Im Parkett sitzt man, musikalisch gesehen, mitten drin. Im ersten Rang vom Opernhaus Dortmund sind nämlich die Chormitglieder verteilt, während im Orchestergraben die Dortmunder Philharmoniker unter dem dynamisch und präzise arbeitenden, dabei noch jungen Generalmusikdirektor Jordan de Souza aufspielen. Die „Carmina Burana“ von Carl Orff ist ja eine der wenigen Partituren für ein klassisches Orchester, in denen es keine Streicher gibt. Dafür locken ein groß angelegtes, mehrteiliges Schlagzeug, etliche Flöten und Bläser sowie außer zwei Klavieren auch eine Celesta (jenes glockenhelle Gerät, das Tschaikowsky seinerzeit als Neuheit in seinen „Nussknacker“ einbaute). Der Sound all dessen, gekrönt von hochkarätigen gesanglichen Solisten, imaginiert das früh- und hochmittelalterliche Klangleben der Musik. Szenisch inszeniert wird die „Carmina Burana“ seit ihrer Uraufführung 1937 übrigens eher selten, als Konzertprogramm hingegen ist sie hingegen sehr beliebt. Auch Film, Werbung und das Fernsehen haben sie schon viel benutzt. Und wenn sie „vertanzt“ wird, orientieren sich die Macher oft an der kunterbunten Opulenz und deftigen Symbolfreude der Regiearbeit von Jean-Pierre Ponnelle von 1975. Aber geht es nicht auch anders? Und wie! Meisterchoreograf Edward Clug, der, von Maribor (Slowenien) ausgehend, zunehmend Furore macht – und in Dortmund seit dieser Spielzeit Artist in Residence ist – ersann bereits 2019 eine puristische, hoch ästhetische, von Kitsch und Poltergeistern weit entfernte Version. Sie rückt die Körper als Instrumente der Tanzkunst in den Vordergrund – und transportiert die Lieder- und Szenensammlung gleichsam ins 21. Jahrhundert.

Die „Ballet Brilliance Gala“ lockt mit Stars wie David Motta Soares aus Berlin, Maya Makhateli aus Amsterdam und Ines Macintosh aus Paris zu einem furiosen Programm, prall gefüllt mit viel Klassik und etwas Moderne, so wie es die meisten Ballettfans lieben. Nur am Sonntag, den 30.11.25! Tickets hier! Foto: PR / Anzeige
Welch ein tiefgründiges Vergnügen ist das: Man entdeckt, wie viele Ähnlichkeiten unsere Zeit noch immer mit dem Mittelalter hat. Ändert sich der Mensch denn nie? Zumindest war und ist es die Liebe, die uns retten kann, nicht der Hass und nicht das Kalkül. Ein Stück weit gehört der Geschlechterkampf dazu – aber nicht als Rosenkrieg, nicht als Vernichtungswahn.

Grandios! Wie Adam und Eva ohne Kitsch: zu sehen in „Carmina Burana“ von Edward Clug beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Diese Botschaft, rundum ballettkonform, entspringt der Inszenierung von Edward Clug sozusagen aus vollem Herzen. Und die begabte, wie ein Leuchtturm das Ballett Dortmund vertretende junge Dramaturgin Helena Sturm trägt mit Einführungen und klugen Formulierungen dazu bei, dass es den Zuschauern leicht gemacht wird, sich mit der Sache zu beschäftigen. Eine Matinee am letzten Sonntag, die als Livestream noch bis Mitternacht online zu sehen ist, eröffnete für die Neugierigen bereits das Feld.
Es wird manche, die bei der „Carmina Burana“ grundsätzlich einen quietschbunten Augenschmaus erwarten, verwundern, dass wir hier keine karnevaleske Collage, sondern eine in sich geschlossene, auch farblich solchermaßen gekennzeichnete Gesellschaft auf der Bühne vorfinden.

Mann und Frau – es ist ein ewiges Spiel… zu sehen in „Carmina Burana“ von Edward Clug beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Die Gewänder der Tanzenden erinnern im Faltenwurf an gotische Domfiguren. Der Kostümbildner Leo Kulaš, der seit langem für Clug arbeitet, erleichtert es somit dem Choreografen, die Körper der Tänzerinnen und Tänzer wie ein Bildhauer als bewegte Skulpturen zu präsentieren.
Man taucht ein in diese Welt und fühlt sich als Teil von ihr.
Das Rot der Gewänder ist das des Burmesischen Rubins: dunkelrot, mit einem Touch von blauen Blitzen. George Balanchine, das sei noch erwähnt, wählte für seine „Jewels“ 1967 das grellere, helle Rot der Rubine aus Mosambik. Und im Mittelalter, das in der „Carmina“ eine Rolle spielt, setzte man oft Spinelle und Granate für Rubine ein. Clug und Kulaš jedoch halten sich an die edelsten Rubinfarbe.

Auch mal lyrisch: die Mädchen in „Carmina Burana“ von Edward Clug beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Was so leicht designt wirkt, wurde nicht auf Anhieb kreiert. Über ein Jahr, sagt Kulaš, probierte er herum. Clug sagt dazu, dass dabei die hübschesten Designs entstanden, die jedoch nicht zum Einsatz kamen. Denn die alleinigen Aufgaben der Kostüme hier: die exquisite Tanzkunst einerseits und die puristische Konzeption von Clug andererseits zu unterstützen. Und das gelang. Die Einheitlichkeit der Kostüme ist ebenfalls Absicht.
Denn trotz berückender Soli, Pas de deux, Pas de trois und auch eines kraftvoll-männlich besetzten Quartetts triumphiert hier choreografisch: das Ensemble, die Gruppe. Edward Clug hat es geschafft, das mit dem NRW Junior Ballett verstärkte Ballett Dortmund wie einen einzigen großen, mehrteiligen Organismus zu zeigen, in dem die Ähnlichkeiten der Individuen ihre Unterschiedlichkeit versöhnlich verbinden. Was für eine genussvolle Utopie, gerade heute!

Als wäre es ein Paar etwa aus John Neumeiers „Sacre“, aber der Kontext ist hier ein ganz anderer: Das Ballett Dortmund in „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Gänsehaut-Momente sind denn auch nicht zu knapp vorhanden. Und wenn einzelnde Paare versuchen, den Geschlechterkampf oder den des Gleichen mit sich selbst zu überwinden, erkennt man so Vieles wohltuend wieder, das im Theater unserer Zeit häufig in skandalträchtigen Provokationen untergeht. Intensität, Stil, Eleganz, vor allem aber Ausdruckskraft spiegeln die Körper. Oberflächliche Freude bleibt außen vor: Diese mystische Urgesellschaft meint es ernst.

Der eisenfarbene Ring senkt sich herab… Das Ballett Dortmund in „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Manöver mit echten Exkrementen auf der Bühne, wie die als Avantgardistin gefeierte, von vielen aber auch als gewaltverherrlichende Pornografin rezipierte Florentina Holzinger sie anbietet, hat Clug nicht nötig. Er hat eine Fülle an Ideen, wie er die tänzerischen Möglichkeiten zugleich ausreizt und doch stimmig hält. Auch Akrobatik um der Akrobatik willen sucht man zum Glück vergebens.
Es ist, wie gesagt, die Gruppe, also der Corpus, der hier hochmoderne Corps de ballet, der Clugs Stück trägt. Und auch die Stars vom Ballett Dortmund reihen sich ein in die Pulks, Menschenkreise und oft wellenförmig aufgestellten Reihen. So verbindet der Tanz minimalistische und maximalistische Tendenzen mit Synchronizität und Harmonie.
Der Beginn feiert die Stille. Im Gespräch sagt mir Clug, es war eine unbestimmte Ehrfucht vor der Musik von Orff, sich ihrem Thema aus der Lautlosigkeit heraus zu nähern.

Paare finden sich, die erst etwas fremdeln, dann immer inniger werden: Das Ballett Dortmund in „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Zwei Gruppen bilden hier die Menschheit, und nicht zufällig sind es Männer und Frauen. Das ist nicht rückschrittlich, sondern von jedem nachvollziehbar. Auch und gerade emanzipierte oder queere Menschen wissen um die Unterschiede der Geschlechter und deren biologische Funktion.
Im modernen Tanz obsiegt der Körper über das Kostüm. Und so ist man damit einverstanden, dass die rubinrot-anthrazit-schwarzen Kleidungsstücke, Kleider und lange Hosen darunter, auch mal ausgezogen und zu Kopfkissen oder auch symbolhaften Reliquien umfunktioniert werden.
Als Unterkleider dienen den Tänzerinnen und Tänzern nudefarbene, eng anliegende Stücke. Damit sind die Protagonisten Urmenschen und Lebewesen von heute zugleich.
Manchmal wirkt so ein Paar, vor allem, wenn es sich unter mehr Angezogenen bewegt, wie Adam und Eva. Werden sie die Welten retten? Wir hoffen es, und wenn der Zusammenhalt der Menschheit so stark wäre, wie er hier von Clug vorgestellt wird, wäre diese Hoffnung nie umsonst.

Männer und Frauen, da kommt immer noch ein Kapitel mehr dazu. Wie in „Carmina Burana“ von Edward Clug beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Scharmützel gerade im Kleinen, etwa unter Mann und Frau, müssen dabei ohne große Verluste bewältigt werden. Köstlich ist es zu sehen, wie die Lust einen Mann peinigt, eine Frau erleuchtet – und sie zusammen einen kleinen Kampftanz aufführen lässt.
Lyrisch, schnell, fix und wendig erscheinen die Damen. Kraftvoll, auch mal zornig, „saftig“ sind hingegen die Jungs. Im Pas de trois werden dann neue Lebensformen ausprobiert: nicht immer mit beglückendem Erfolg, dafür mit Humor. Und mit einem Mehrgewinn an Romantik – oh ja – und auch mit emotionalen Erfahrungen.
Choreografisch kann man Einflüsse von Maurice Béjart, Mats Ek und Nacho Duato erkennen. Wenn man will. Oder von Kylián. Allerdings ist die Körpersprache von Clug stets erkennbar von Edward Clug, was sie auch auszeichnet. Sein Publikum vor Ort weiß sie ohnehin zu schätzen. „Hora“, „Le sacre du printemps“ und „Peer Gynt“ waren schon von Clug in Dortmund zu sehen, in absolut expressiven Besetzungen.

Ein Mann und die Frauen… Edward Clug kreiert in „Carmina Burana“ eine Gesellschaft, die nachgerade zeitlos ist. Zu sehen beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Jetzt sind es zwei Besetzungen, die alternierend die „Carmina“ tanzen. Brillant sind beide – und sie sind ein willkommener Anlass, zwei Mal ins Stück zu gehen, sofern man Karten ergattert.
Denn keine Sekunde ist langweilig in dieser atemlosen Kette von Highlights aus Szenen und Liedgütern. Ihre Entwicklung huldigt derweil dem Kreis als Motiv.
Und so hängt auch über der Szenerie ein eisenfarbener Ring, der in die Welt der Mittelaltermythologie entführt. Die Ritter der Tafelrunde, aber auch Richard Wagners Rezeption werden vor dem geistigen Auge lebendig.
Edward Clug hütet sich, sein Personal auf bestimmte Benennungen festzunageln, obwohl einem manchmal scheint, es gebe einen Parzival und eine Herzeloide, eine Blancheflur und einen vierköpfigen Verbund der Jungritter, die mit martialischen Kampfschreien und äußerster Disziplin ausgestattet sind.

Die gleiche Situation ein wenig anders: Die „Carmina Burana“ von Edward Clug spielt es durch, das Ballett Dortmund brilliert darin. Foto: Gisela Sonnenburg
Carl Orff – der unter den Nazis ein Mitläufer war – vertonte übrigens auch Gedichte aus dem 19. Jahrhundert von Heinrich Heine, dessen Werke im Dritten Reich vernichtet und verboten wurden. Heine wiederum verfasste folgenden Vers:
„Die Söhne des Glücks beneid ich nicht / Ob ihrem Leben, beneiden / Will ich sie nur ob ihrem Tod, / Dem schmerzlos raschen Verscheiden.“
Es ist schon enorm, zu wie vielen Assoziationen die „Carmina Burana“ von Clug anregt. Auch Beziehungsstress von heute kann man entdecken, allerdings obsiegt hier letztlich die Utopie. Die Spannung zwischen Menschen, die das höchste Glück miteinander finden können, ist oftmals ein szenisches Thema.
Auch wenn am Ende klar ist: Ohne sinnvolle Anstrengung ist das Glück nicht zu haben. Und das ist gut so.

Sehnsucht hat, wer die Liebe kennt… hier sind es mal vor allem die Damen vom Ballett Dortmund in „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Eckige, manchmal fast kantige Bewegungen mit gestischer Ausdruckskraft formieren Bilder, die sich ins Gedächtnis einfräsen. Dass außerdem eine fließende Eleganz dazu kommt, erhöht die Chancen der wichtigen Botschaft der Liebe, sich beim Zuschauer einzuprägen. Es ist nun mal so: Künstler, die sich zu so einer positiven Botschaft bekennen, können uns oft mehr geben als die nur düsteren Apokalyptiker.
Es war denn auch Heinrich Heine, der zwar einerseits vom „finsteren Mittelalter“ schrieb, andererseits aber die Wiederbelebung des Mittelalters in der Fantasie als basislegenden Grundsatz der Romantik bezeichnete. Sich selbst sah er dabei als letzten Romantiker, als „Überwinder der Romantik“, der ihr dennoch nicht wenig verpflichtet blieb.
Aber auch die Aufklärung prägte sein Werk. Adorno hob Heine im letzten Jahrhundert darum auf einen besonderen, wohl verdienten Thron. Und das war nicht der von Hammonia, der Hamburger Schutzgöttin (die Heine am Ende von „Deutschland – ein Wintermärchen“ recht despektierlich beschreibt). Will sagen: Die Verbindung verschiedener mentaler Ebenen zeichnet auch Edward Clugs „Carmina Burana“ aus.

Und immer wieder lockt das Weib, lockt der Kerl… zu sehen in „Carmina Burana“ von Edward Clug beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg
Clugs „Carmina“ ist jedoch weder satirisch noch sarkastisch. Clug hat in anderen Werken, so in seinem in Berlin entstandenen „Ein Sommernachtstraum“ beide Elemente groß gespielt. Die „Carmina Burana“ aber nimmt er ernst, sublimiert auf einer gegenwärtigen Ebene.
In Deutschland ist Edward Clug, Jahrgang 1973, derzeit wie in einer zweiten Heimat angekommen. Seine nächste Premiere wird beim Bayerischen Staatsballett in München stattfinden, mit Musik des begabten Jazz- und Sound-Komponisten Milko Lazar. Und wir kommen im Gespräch darauf, dass sowohl Maribor als auch Dortmund starke Fußballstädte und passenderweise Arbeiterstädte sind. Schicksal?
Das Schicksalsrad, das im Anfangs- und Endgesang „O Fortuna“ wie ein Menetekel beschworen wird, setzt Clug fürs Kollektiv mit einem Kreis aus Leibern um: Die Tänzerinnen und Tänzer bilden einen Pulk, beugen sich nach vorn und umfassen ihren Vordermann. Zusammenhalt. Das ist Schicksal. Was sonst. Gerade heute.

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In zwei Reihen schart das Ensemble sich dann zusammen, beugt sich elastisch nach hinten – und bildet so eine nachgerade animalische, dennoch hoch poetische Urform.
Diese Grundfigur gab es von Beginn an. Aber das Licht ist heute in Dortmund teilweise viel heller als zum Beispiel in Maribor, und der Aspekt der Aufklärung wird dadurch verstärkt.
Dieses ist die dritte Version von Clugs „Carmina“, nach der Uraufführung in Kanada und der Einstudierung in Maribor, wo Clug dank dem Theatermacher Tomaž Pandur entdeckt und gefördert wurde. Mir sagte Clug, die Dortmunder Version sei die beste. Sie sei am vielschichtigsten. Wenn man online die Version aus Slowenien zum Vergleich anschaut, muss man zustimmen.

Die Liebe muss siegen… so zu sehen beim Ballett Dortmund mit „Carmina Burana“ von Edward Clug. Foto: Gisela Sonnenburg
Mit tollen Tänzern wie Simon Jones, Simone Dalè, Samuel Bassler und vor allem Javier Cacheiro Alemán, mit Ballerinen wie Sae Tamura und Daria Suzi ist das allerdings kein Wunder. Zudem glänzt das um das NRW Juniorballett ergänzte Ballett Dortmund insgesamt mit akkuraten, innig getanzten, niemals routiniert oder seelenlos wirkenden Gruppenszenen.
Großer Jubel belohnt denn auch das fleißige Team aus Künstlerinnen und Künstlern, die Technikerinnen und Techniker und ebenso die Führung vom Ballett Dortmund durch Jaš Otrin. Schicksalsrad, hier läuft was richtig!
Gisela Sonnenburg
Livestream noch bis Mitternacht: https://www.theaterdo.de/medien/mediathek/detail/m-matinee-carmina-burana/

Edward Clug hinter den Kulissen vom Ballett Dortmund: ein Künstler, der weiß, was er will. Foto: Gisela Sonnenburg