Vom neuen Zeitgeist des Rockpop Das „Ballet Revolución“ vereint kubanisches Talenteflair mit rockiger Live-Musik: eine Show zum Abhotten

Teamgeist und Solistenmut wechseln einander ab: in der populären neuen Show vom Ballet Revolución. Foto: Johan Persson

Es ist ein Kind der neuen Zeit – und passt vorzüglich in die turbulenten Tage des Jahreswechsels, aber auch in jede andere thematische Klammer der Erneuerung. Einzige Bedingung für den Genuss: Man muss laute Rockmusik mögen und auf deren Inhalte keinen Wert legen. Denn Rhythmus ist hier allein das pulsierende Herz, das den Tanz als quirliges Vergnügen sekündlich neu gebiert. Das „Ballet Revolución“ wurde 2011 gegründet, um hervorragend ausgebildete kubanische Tänzerinnen und Tänzer mit einer kunterbunten Mischung aus verschiedenen Stilen und Kostümen in die Welt hinaus zu schicken. Die Tourneetruppe, international bejubelt, ist allerbest gelaunt. Dabei ist es rundum Showdance, der hier mit hohen Sprüngen und rasanten Pirouetten imponiert! Auch wenn es sich dabei nicht um Ballett im Sinne einer Herzenskunst handelt, sondern um ein Medium der Modernität und Massentauglichkeit: Was woanders platt und oberflächlich wirken würde, hat hier das Flair des unbedingten Talents für Leichtigkeit. Denn das „Revolutionsballett“ illustriert mit seinen Choreografien die Rock- und Pop-, R & B- und Latin Songs nicht einfach nur, es sprengt sie sozusagen von innen: mit einer tänzerischen Power, die nachgerade überwältigt. Da darf man viel mitklatschen, sich innerlich aufheizen und einfach mal ganz vergessen, dass man eigentlich das Klassische liebt.

Lateinamerikanische Klänge pochen von der Bühne, auf der im Hintergrund auch die Band steht. Ein Dutzend sehr gut gebaute männliche Tänzer und sechs muskulöse Tänzerinnen zeigen mit nachgerade turnerischer Anmutung, inwieweit sich der Showdance seit Fred Astaire weiter entwickelt hat.

Das Ballet Revolución macht wieder die Tanzszene unsicher

Leben und leben lassen – das Ballet Revolución verkündet seine Botschaft mit hohen Sprüngen und heißen Pirouetten. Foto: Johan Persson

Akustisch überwiegt der Kuba-Sound, optisch das Fernsehballett. Denn die Choreografie stammt von Aaron Cash, einem Australier, der schon mit Mikhail Baryshniokov gearbeitet hat, sowie von Roclan González Chávez, einem extrem smarten Künstler, der in Havanna häufig fürs Kubanische Fernsehen arbeitet. Ihre Kreation fürs Ballet Revolución lässt nichts aus, um das Können und das heiße Blut der kubanischen Spitzentänzer hoch zu kochen.

Die Geschichten, die die Songs erzählen – etwa „Hello“ von Adele oder „Take me to Church“ von Hozier – spielen dabei keine Rolle, zumal die Lieder auch musikalisch und gesanglich neu interpretiert werden: rockiger, fetziger, lateinamerikanischer, manchmal auch einfach härter.

Das Resultat ist eine gefühlte Unendlichkeit an knalligen Showeffekten.

Spagatsprünge in allen nur erdenklichen Variationen, Hebungen mit artistischem Anspruch, jazzige Gruppentänze und Soli mit viel Blues im Gestus – man kommt aus dem Staunen kaum noch heraus, wird atemlos zweieinhalb Stunden gefangen gehalten in einem Universum, in dem der menschliche Körper qua Kraft und Anmut allmächtig und unsterblich erscheint.

Roxanne“, der soulige Aufschrei der Verliebtheit, den einst Sting mit Sehnsuchtsqualen in der Stimme sang, wird als sanfter Pas de deux von drei Paaren synchron angeliefert: Die Mädchen ranken sich in rubinrotem Glitzeroutfit um die sie weit empor hebenden Jungs in schwarzen Hosen. Ein Highlight an edlem Glamour!

Im Kontrast dazu stehen Auftritte in schwarzen, großgelöcherten Leotards oder in fetzigen Miniröcken (die Kostüme stammen von Jorge González, der aus dem deutschen Fernsehen bekannt ist). Mal in Spitzenschuhen, mal barfuß tanzen die weiblichen Kraftpakete einen aufgedrehten Blues des Vergessens, während „How deep is your Love“ musikalisch als Pop-Variante mit Techno-Einschlag einherkommt.

Man darf sich hier mal zuhämmern und zudröhnen lassen, denn der Anspruch ist keineswegs hehre kulturelle Wertevermittlung. Es geht um Fun, Fun, Fun – und um makellose, sportive Körper, die in immer neuen Outfits mal bunt, mal elegant auf der Bühne routieren.

Ein bisschen ist es wie Fernsehballett ohne Fernsehen oder wie Revue ohne Federbuschen, wie Varieté ohne Glitzerkugel und wie Zirkus ohne Arena – und doch ist es unverwechselbar das kubanische „Ballet Revolución“, das unter der Oberfläche des Showdance jede Menge Traditionen mischt.

Das Ballet Revolución macht wieder die Tanzszene unsicher

Wow – Spagatsprünge sind sozusagen das Lebenselixier in dieser Truppe. Das Ballet Revolución heizt ein! Foto: Johan Persson

Es wird Zeit, einmal gründlich hinter die Kulissen zu blicken und nachzuschauen, was alles dahinter steht.

Die Kubaner hatten es in ihrer Geschichte nicht immer leicht; die Ureinwohner, zarte Indianer, starben gar aus, weil sie gegen die Krankheitserreger der Kolonisatoren überhaupt keine Abwehrkräfte hatten.

Die spanischen Besatzer brachten afrikanische Sklaven als billige Arbeitskräfte auf die karibische Insel, ließen sie auf Zuckerrohrplantagen schuften. Nach mehreren Kriegen und einer amerikanischen Besetzung wurde 1902 endlich die Unabhängigkeit Kubas proklamiert. Aber ganz frei wurde das Eiland nicht – bis heute gibt es Sonderrechte, die im umstrittenen US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo gipfeln.

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1959 stürmten die Revolutionäre unter Fidel Castro und Ernesto Che Guevara den damals herrschenden Diktator – und errichteten ihren sozialistischen Staat. Dessen Öffnung gen Westen in den letzten Jahrzehnten lässt zum Einen den Tourismus, zum Anderen aber auch bestimmte Kulturgenres auf Kuba erblühen. Kennzeichnend ist das Miteinander verschiedenster Einflüsse – ein Bestreben, das sich gerade in jüngster Zeit und auf der Ebene der Tanzkultur immer weiter fortgesetzt hat.

Und neben allen geschichtlichen Vorkommnissen hat gerade das Tanzen in Kuba eine starke Tradition, sie lässt sich dort nicht wegdenken, aus dem Alltag nicht wie nicht aus der Hochkultur des Landes.

http://www.ballet-revolucion.de

Ein Paartanz der besonderen Art: artistisch über Mobiliar geflochten. Mit solchen Tricks verblüfft das Ballet Revolución in seiner neuen Show! Foto: Johan Persson

Da mischen sich Rumba und Samba, Habanera und Mambo: Wo man in Kuba geht und steht, wird getanzt, könnte man sagen.

Afroamerikanisches Rhythmusgefühl und spanische Emotion verbinden sich immer wieder zu neuen Ausprägungen der verschiedensten temperamentvollen Gesellschaftstänze.

Das ist die eine Wurzel des Tanzes auf Kuba. Die andere aber gehört der Klassik, dem Ballett. Damit verbunden ist der Name einer lebenden Legende:

Das Ballet Revolución macht wieder die Tanzszene unsicher

Alicia Alonso tanzt hier – fast blind, aber wunderschön und souverän – 1963 in „Giselle“ mit dem Kubanischen Nationalballett. Videostill von Youtube: Gisela Sonnenburg

Die kubanische Primaballerina Alicia Alonso, Jahrgang 1920, wurde 1940 als erste Kubanerin in das Ensemble des American Ballet Theatre (ABT) aufgenommen, wo sie sechs Jahre später zur Principal ernannt wurde. Allerdings ist ihr Schicksal kein normaler Werdegang. Sie erhielt nämlich früh die Diagnose einer Netzhautablösung und lernte, nahezu blind dennoch auf der Bühne zu tanzen. Während ihrer von der Krankheit erzwungenen Pausierung machte Alicia sich, überwiegend allein auf ihrem Bett liegend, nur von ihrem Ehemann unterstützt, als junge Tänzerin mit der Rolle der „Giselle“ vertraut – und erhielt 1943 tatsächlich Gelegenheit, diese wichtige Partie beim ABT zu tanzen.

1948 gründete sie gemeinsam mit ihrem Gatten Fernando Alonso in Havanna das heutige Kubanische Nationalballett, dessen Schule auch heute noch als eine der besten in der Welt gilt.

Das Ballet Revolución macht wieder die Tanzszene unsicher

Auch das gibt es hier beim Ballet Revolución: eine Variante des „Kitri“-Sprungs, ein Grand jeté en diagonale mit den Armen in der fünften Position und dem Oberkörper im Cambré. Und: mit jeder Menge Temperament im schönen Leib! Foto: Johan Persson

Aus diesen Gefilden kommen die Künstlerinnen und Künstler, die im „Ballet Revolución“ tanzen: Sie haben die exzellente Ballettausbildung in Havanna hinter sich, sind aber bereits mit Rhythmus im Blut in frühester Kindheit für den Tanz prädestiniert worden. Multikultureller Respekt ergänzt dabei die Verschiedenheit ihrer Herkunft.

Es fällt ihnen denn auch besonders leicht, sich weitere Tanzstile anzueignen und choreografisch alles miteinander aufzumischen.

Da finden sich Elemente des Jazz Dance, des Modern Dance, des Disco, des Rock’n Roll – wie auch des Tango, des Streetdance und des Hip Hop.

Das Ballet Revolución macht wieder die Tanzszene unsicher

Ein Pas de deux mit Komplikationszulage beim Ballet Revolución: Nicht nur das Mädchen steht auf den Zehen, auch der sie haltende Tänzer hat sein rechtes Bein auf den Ballen aufgestellt. Foto: Nilz Boehme

Ballet Revolución“ heißt diese Truppe ja auch nicht wegen Castro oder wegen Che Guevara – der im Oktober 2017 übrigens seinen 50. Todestag hatte – sondern, weil sich der Tanz hier so revolutionär unkonventionell verhält.

Die Grundlage, das klassische Ballett, ist dennoch unverkennbar!

Kuba? Sí! Immer wieder gerne!
Gisela Sonnenburg

www.ballet-revolucion.de

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