Wie kess! Wie frivol! Und dennoch: wie rätselhaft! Die beiden Tänzerinnen Anne Marchand und Camille Andriot tragen im Ballett „3“ von Martin Schläpfer viel nackte Haut zur Schau – und ein raffiniertes Geflecht aus schwarzen Streben, kombiniert mit samtbraunen Bikinizonen. Sie könnten, in ihren Kostümen von Catherine Voeffray, von Fred Astaire in die Zukunft geschickt worden sein, oder vom Cirque du Soleil ins Niemandsland der Zeitlosigkeit.
Seit knapp vier Wochen habe ich diese beiden Mädels jedenfalls fest im Blick, sowie ich von meinem cremefarbenen Sofa aus aufblicke. Denn sie hängen brav an der Wand, gleich neben der Zimmertür, an prädestinierter Stelle, wo sie mich auch beim Ein- und Ausgehen grüßen. Ich lebe mit ihnen!
Sie bilden das Januar-Blatt des Kalenders „Martin Schläpfer – Ballett am Rhein“, den der Tanzfotokünstler Gert Weigelt für dieses Jahr erschuf. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Blick ins Werk von Martin Schläpfer das neue Jahr begonnen habe und es nun tagtäglich erlebe – und ich stelle fest: So ein Kalenderbild ist durchaus raumbeherrschend und irgendwie nicht mehr aus der Behausung wegzudiskutieren.
Gerahmte Bilder oder solche auf Leinwand wirken immer irgendwie lahm und vorgestrig gegen die Kalenderkunst. Woran liegt das nur? An der Aktualitätsvortäuschung qua Wochenspalten oder Tagesliste? Am Wissen, dass der Kalender das Vergehen der Zeit behandelt? – Anders als ein Computerbild lässt sich ein großformatiges Kalenderbild jedenfalls nicht mal eben wegklicken. Und eine Abhängung ist dagegen schon fast ein martialischer Akt! Zumal der Wandkalender in modernen Zeiten mehr als glamouröser Wechselbildträger seine Bedeutung hat, denn als schnöder Tageszähler. Umso besser, weil: Anne und Camille halten im finsteren, trostlosen Januar für uns die Stimmung hoch.
Sie tun das mit einer großen Geste, die ebenso aus einer Revue der Zwanziger Jahre wie aus dem „Schwanensee“ stammen könnte, denn beide Tänzerinnen halten den linken Arm gestreckt seitlich oben – ein Selbstausdruck von Stärke und Gelassenheit. Dazu passen die Beine und die Füße: Die rechten Standbeine sind gestreckt und auswärts, die linken edlen Spitzenschuhfüße aber stellen jeweils ein locker abgewandeltes Tendu rückwärts dar. Als wollten sie betonen, dass es hier mal nicht nur um Strenge und Klassik geht, sondern auch um Aufmüpfigkeit und Lässigkeit, jawohl: um Lässigkeit im Ballett, die selten ist, aber eine jener Tugenden der Moderne, die der Choreograf Martin Schläpfer allerbest zu nutzen weiß.
In seinem Ballett „3“, das im Sommer 2010 in Düsseldorf premierte, gibt es denn auch große und kleine tänzerische Widersprüche in ausgefeilten Versöhnungsgesten zu bewundern. Die Musik von Paul Pavey ist modern und alarmierend: Das Cello zupft da freundliche Rhythmen, die allerdings stetig abwärts steigen. Sanfte Melancholie ist das, leider hört man sie nur auf youtube, nicht vom Wandkalender. Nun ja, unsere Gewohnheiten, mit Technik umzugehen, sind ja allgemein noch entwicklungsfähig. Vielleicht singt oder sägt oder surrt der Kalender 2016? Vorerst kratzt die Elektronik von Pavey nur im Internet spröde Fragmente von Melodien vor sich hin… als sei es eine Probe oder ein verpatztes Vorspielen. Schließlich kommen Steptanzgeräusche hinzu, und eine schier unerträgliche Spannung baut sich akustisch auf.
Die Tänzerinnen und Tänzer vom Ballett am Rhein halten sie aus. Tapfer und zugleich beglückt von ihrer Aufgabe. Die blonde Anne Marchand atmet da tief ein, hebt dazu machtvoll beide Arme. Was für ein weibliches Selbstbewusstsein! Die brünette Camille Andriot hingegen gibt sich zurückhaltender, sie lässt sich von einem Kavalier sanft in den zarten Nacken küssen. Und auch die von Weigelt eingefangene Standpositur der beiden Damen begünstigt solche herzlich netten Fantasien… Voilà – so gut kann das neue Jahr beginnen!
Flugs hat man zudem einen Grund mehr, sich auf das erbarmungslose Verrinnen der Zeit auch noch zu freuen. Denn auch der Februar, der März, der April und erst recht der Mai werden neue Bilder bringen, die zugleich mit dem choreografischen Werk von Martin Schläpfer bekannt machen – und auch ein tiefes Meditieren mit dem fotografisch eingefangenen Bühnenmoment ermöglichen. Bis Dezember, bis zur Jahreswende gelingt so allmonatlich die Erzeugung einer neuen Stimmungslage: als bühnentänzerisches Leitgefühl im eigenen häuslichen Bereich.
Das Januar-Bild ist dennoch etwas Besonderes, weil die zwei junge Frauen hier soviel Zuversicht und Skepsis vermitteln, wie es gerade das richtige Maß ist, um einigermaßen realistisch, aber nicht frustriert durchs Leben zu gehen. Ein schöner Auftakt für 2015! Die schönen Rücken der eleganten Tänzerinnen, gut ins Licht gesetzt, entzücken – und ihre Gesichter, das von Anne sehr auf Anmut bedacht, das von Camille dagegen mehr auf Zielstrebigkeit, enthalten soviel individuelle Power, dass man problemlos noch einen zweiten Januar damit überstehen würde.
Anne Marchand kommt übrigens aus Bern, und das gleich im doppelten Sinn: Sie ist dort geboren, studierte dann bei Birgit Keil und Vladimir Klos an der Akademie des Tanzes in Mannhein. Dann tanzte sie erst bei Jörg Mannes in Bremerhaven, alsbald in Marseille sowie bei dem hoch kreativen Angelin Preljocaj in Aix-en-Provence. Barcelona – und wieder Bern waren ihre weiteren Stationen. Von Bern ging sie 2006 zum ballettmainz von Martin Schläpfer, der sie 2009 mit an den Rhein nahm. Neben Schläpfers Werken tanzt sie Choreos von Balanchine, Miller, Tudor – und vereint ihre suggestive weibliche Kraft mit graziöser Konzentration auf das Wesentliche.
Ihre Kollegin Camille Andriot wurde am Konservatorium in Lyon ausgebildet. Sie war danach in Lyon engagiert, aber auch beim Aalto Ballett Essen – bis Martin Schläpfer sie 2004 ins ballettmainz holte. Sie ging mit ihm (und mit Anne Marchand sowie anderen Ballerinas und Ballerinos) zum Ballett am Rhein. Ihr Repertoire umfasst, außer Schläpfer, unter anderem Arbeiten von Kurt Joos, Nacho Duato, Twyla Tharp. Letztes Jahr studierte Camille erstmals eine ihrer Partien beim Royal Ballet in London ein: Die „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ von Frederick Ashton. Es will viel heißen, dass man Camille bat, diese Coach-Arbeit zu übernehmen. Denn vor wenigen Jahren noch tanzte die weltbekannte Primaballerina Tamara Rojo beim Royal Ballet dieses luftig-sportive Ashton-Stück, in dem mit einem lachsfarbenen Tuch gewedelt, mit rosa Papierblütenblättern geworfen und mit nostalgischer Anmutung eine frühmoderne Tanzart praktiziert wird. Jetzt aber wollte man Camille Andriots Stil und Interpretationshilfe in Londen!
Und solche Koryphäen stehen für mich den ganzen Januar über Modell – was will ich mehr?!
Gisela Sonnenburg
„Martin Schläpfer – Ballett am Rhein“. Fotografien von Gert Weigelt, Dumont Fotokunst, Kalender 2015
Ein Surrogat aus „3“:
www.youtube.com/watch?v=GLzzyPei4bE
UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/