Fast sind sie noch Kinder, diese Liebenden, die zum Inbegriff der wahren Gefühle wurden. Gegen alle sozialen Widerstände verlieben sich „Romeo und Julia“ und müssen doch mit ihrer Liebe scheitern. Weil ihnen die Gesellschaft keine Chance gibt, weil es ein großes Missverständnis gibt – Romeo weiß nicht, dass Julia zunächst nur scheintot ist – und weil die Feindschaft ihrer mächtigen Familien viel zuviel Gegenwind bedeutet. Was kann dagegen die ahnungslose Liebe zweier unbedarfter junger Menschen schon ausrichten? John Cranko spitzt in seiner Choreografie alles auf diesen Konflikt zu. Beim Stuttgarter Ballett reüssiert derzeit eine Alternativbesetzung zum Star-Duo Alicia Amatriain und Friedemann Vogel, die den Aspekt der naiven Liebe in den Vordergrund stellt. Miriam Kacerova und David Moore verkörpern solchermaßen die Unschuld der Liebe, die in die Falle des Todes tappt. Sehr ergreifend!
Man fühlt sich an den Film „Romeo und Julia“ von Franco Zeffirelli erinnert. 1968 drehte er – in Schwarzweiß – eine Aufsehen erregende, die beiden Liebhaber blutjung zeigende Interpretation, mit Olivia Hussey und Leonard Whiting in den Titelrollen: Sie war damals 15 Jahre jung, ihr Romeo mal gerade 17. Damit kamen die beiden den Shakespeare-Angaben zur Jugend der 14-jährigen Julia nachgerade naturalistisch nahe.
Im Ballett hat es so etwas noch nicht gegeben und wird es wohl auch kaum geben können, jedenfalls nicht im erwachsenen Profi-Ballett. Auch wenn superjunge Erste Solisten gerade wieder in Mode kommen, so die erst 18-jährige, furiose Maria Khoreva vom Mariinsky Theater in Sankt Petersburg, die ab dem 21. Dezember 2018 beim Gastspiel im Festspielhaus von Baden-Baden die Odette / Odile im „Schwanensee“ tanzt.
Die Partie der Julia zur modernen Ballettmusik von Sergej Prokofiew erfordert jedoch soviel schauspielerisches Wandlungsvermögen, dass ballettöse Berufsanfängerinnen, die ja vor allem dem Tanz in ihrer Ausbildung frönen, hier leicht überfordert sein könnten.
Im Stil und Ausdruck sind den Julien und auch den Romeos im Ballett allerdings keine Grenzen gesetzt, und der Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich beweist eine sehr sichere Hand bei der Besetzung dieser Rollen mit Paaren aus den Reihen seiner Ersten Solisten, die ihm wiederum in den Jahren seiner intensiven Tätigkeit als Ballettmeister bestens vertraut wurden.
Miriam Kacerova ist da eine Julia, die mit jedem Augenaufschlag heißes Temperament und rückhaltlose Hingabe signalisiert. Dennoch korrespondiert ihre erotische Ausstrahlung mit dem Duktus der Keuschheit, die auf die unerfahrene Jugend hinweist.
Eine brisante, eine schöne Mischung!
David Moore als ihr Romeo hat ebenfalls einen wunderschönen „Schlafzimmerblick“ mit Jugendzulage – und wenn er sie anschmachtet, dann funkt es so spürbar zwischen den beiden Bühnenliebesleuten, dass man ganz wie im Kino nur noch miterleben und sogar mitleiden möchte.
Tänzerisch sind beide sozusagen erste Sahne: „Miri„, wie Miriam genannt wird, kam 2005 vom Zürcher Ballett, das damals noch von Heinz Spoerli geleitet wurde, nach Stuttgart, wo sie sich zielstrebig nach oben tanzte und seit 2014 Erste Solistin ist.
Gebürtig ist sie in der heutigen Slowakei, ihre Ausbildung erhielt sie am Konservatorium in Bratislava und an der Académie Princesse Grace de Monaco. Entsprechend viel Stil und Grazie, aber auch Glamour hat sie – Sicherheit und Fragilität in feiner Form vereinend.
David stammt aus England und ist ein Zögling der Royal Ballet School, was man seinen vornehmen Ports de bras auch anmerkt. 2007 trat er sein erstes Engagement an – in Stuttgart – und er ist, wie Miri, seit 2014 dort Erster Solist. Auf der kürzlich erschienen DVD „Onegin“ vom Stuttgarter Ballett beeindruckt er als Lenski.
Als Team bilden die beiden ein perfektes Konglomerat aus Liebe und Schicksalhaftigkeit: jugendliche Ergebenheit lautet hier das Schlüsselwort.
Umso stärker fühlt man mit ihnen, desto argloser sie sich in ihren eigenen Plänen, ihre Liebe zu leben, verheddern.
Die Balkonszene, die Schlafzimmerszene, die Gruftszene strotzen nur so vor Fühligkeit und auf die Liebe bezogene Konzentration – wenn er nicht ein Romeo ist und sie nicht eine Julia, wie sonst sollten sie sein?!
Vor dieser starken Folie des Emotionalen verblasst die äußere Handlung zum Tableau; Romeo ist hier ein Stürmer und Dränger und Julia eine Rebellin. Man mag die Reife und Tiefe der Darstellung von Alicia Amatriain und Friedemann Vogel vermissen. Aber man wird reichlich entschädigt durch das kindhafte Schmachten und die naive gegenseitige Anbetung der beiden in dieser unbedingt auch sehenswerten Alternativbesetzung.
Fehlt noch die dritte Besetzung, die für diese Saison in Stuttgart angekündigt war: Jason Reilly und Anna Osadcenko müssen noch warten, bis sich das Knie von Jason erholt hat. Wir wünschen von Herzen gute Besserung!
Und teilen gerne mit, dass wir auch auf dieses Shakespeare-Paar sehr neugierig sind. Schließlich hat William Shakespeare, dessen „Romeo und Julia“ vermutlich 1597 in London uraufgeführt wurde, mit diesem Stück die Liebe quasi neu erfunden. Und jede neue, tolle Besetzung trägt dazu bei, eine weitere Auslotung dieser superben Erfindung vorzunehmen.
P.S. Übrigens tanzt auch das Staatsballett Berlin ab dem 27. Januar 2019 ebenfalls wieder „Romeo und Julia„, ebenfalls in der Choreografie von John Cranko, ebenfalls in wechselnden Besetzungen – aber mit einer Ausstattung von Thomas Mika statt, wie im Original, von Jürgen Rose. Wer kann, sollte den Vergleich nicht scheuen, sondern hin- und herreisen!
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg