Sie fasziniert mit einer zwischen seidenfein und prunkvoll-prächtig changierenden Körpersprache. Sie hat zudem diese Sicherheit und Geradheit im Rücken, die sie als Ballerina von Welt auszeichnet. Und wenn sie die langen Arme hebt und maliziös den Kopf neigt, dann ist es, als würde das Ballett gerade erst erfunden. So frisch und unikat wirkt sie: Shoko Nakamura, die zarte Japanerin. Bis 2013 war sie Erste Solistin in Berlin, dann ging sie nach Budapest, und eigentlich wollte sie jetzt beim Staatsballett Berlin gastieren: in der Titelrolle von „Die Bajadere“, bei der für heute vorgesehenen Premiere in der Deutschen Oper Berlin.
Doch aus dem erhofften Wiedersehen in indisch aufgemachten Bühnengefilden wird vorerst nichts. Das Staatsballett Berlin, eine so tapfere wie leistungsstarke Compagnie, sieht sich gezwungen, seinen legendären Streik um einen von ver.di auszuhandelnden Hausvertrag fortzusetzen – der heutige Sonntagstermin von Vladimir Malakhovs Inszenierung der „Bajadere“ wurde darum gecancelt.
Natürlich ist das für so manchen balletthungrigen Zuschauer ein Schock. Aber man darf gewiss sein, dass es auch den Tänzerinnen und Tänzern nicht leicht fällt, auf den Glanz-und-Glamour-Termin zu verzichten.
Schließlich leben und arbeiten diese begabten Menschen seit ihrer frühesten Jugend viele harte Jahre, um bei solchen Gelegenheiten ihre Brillanz zu zeigen. Die Entscheidung, eine Premiere zu bestreiken, fällt da niemandem leicht. Aber: Was sie machen, indem sie streiken, hat, historisch und sozial gesehen, ebenfalls seine Berechtigung. Denn es ist ja kein Zufall, dass die Tanzkünstler es so schwer haben, sich mit ihren Forderungen nach Akzeptanz durchzusetzen. Das ist das Streiken eben auch: Ballettschicksal, und zwar von den Künstlern selbst in die Hände genommenes!
Das ist nun kein ganz schwacher Trost. Ein weiterer wartet zwischen zwei Buchdeckeln auf die wissbegierigen Ballettfans.
Denn Shoko, die japanische Koryphäe, hat ihren Fans soeben ihr Herz geöffnet: im ungewöhnlich aufgemachten Buch „Shoko Nakamura & Wieslaw Dudek“. Darin steht sie dem versierten Ballett-Autoren Jan Stanisław Witkiewicz in groß angelegten Interviews, die auf deutsch und auf englisch abgedruckt sind, ausführlich Rede und Antwort.
Auch Shokos Mann, der Tänzer, Ballettmeister und Choreograf Wieslaw Dudek, wird in dem bildreichen Interview-Band trefflich portraitiert. Ballett aus der Innenansicht ist ja nun immer spannend, zumal, wenn die Erzählungen authentisch und nicht allzu sehr beschönigt sind.
Und hier bekommen wir sowohl in die Sonnenseiten als auch in die Schattengräben des Ballerinenlebens Einblicke – toll gemacht!
Das Buchcover kommt in flippigem Hellblau daher; ein grafisches Werk, das das Tänzerpaar in klassischer Aktion zeigt, prangt wie ein nostalgisches Kinoplakat auf dem Titel.
Das b-4-Format ist handlich und lesefreundlich: gut zum Durchblättern, aber auch schön zum richtigen „Durcharbeiten“. Auch die sorgsam ausgewählten Fotos kommen so gut zur Geltung: Da hat jemand im Verlag nachgedacht, sehr lobenswert!
Die inhaltliche Struktur des Buchs ist logisch: Erst kommt ein freundliches Vorwort vom Entdecker der beiden Tanztalente, also vom ehemaligen Intendanten des Berliner Staatsballetts, Vladimir Malakhov.
Dann folgt ein ausgedehntes Interview mit der schönen Shoko Nakamura über ihren Werdegang – und man weint beim Lesen manchmal fast, weil es einen so mitnimmt zu sehen, was alles hinter der vordergründigen Easyness und der propagierten Leichtigkeit im Tanz steht.
Dann wird Wieslaw interviewt, was auch in internationaler Hinsicht interessant ist: Er kommt aus Polen, begann in Stuttgart seine Tanzkarriere und wurde dann von „Vladi“ Malakhov in Berlin regelrecht erwartet.
Schließlich gibt es ein Interview mit beiden, das sich locker und ungezwungen ausnimmt (obwohl bestimmt viel, viel Arbeit drin steckt).
Jan Stanisław Witkiewicz trifft dabei stets das richtige Maß aus kurzen, einfachen Fragen und hartnäckigem Nachhaken. Es entsteht jeweils ein Rede- und Gedankenfluss, in den man sich leicht einfühlen kann, der Spaß macht und einen hineinzieht in diese exotische Welt des Balletts.
Unmerklich wird man beim Lesen auf eine rosa Wolke gehoben. Gute Bücher vermögen das nämlich auch, nicht nur Ballettaufführungen!
Und es liest sich wirklich rührend, was die beiden Stars von ihren Schicksalswegen zu erzählen haben.
Da erzählen sie vom Leistungsdruck bei Wettbewerben. Vom großen Glück, wenn etwas gewonnen wurde. Von der harten Arbeit am eigenen Körper, damit der so wird, wie er fürs Ballett zu sein hat. Vom Erfolg, der endlich lächelt, wenn das Spiegelbild nach vielen Jahren Arbeit genau das zeigt, was man sich erhoffte.
Aber die beiden Ballettmenschen reden auch von der Einsamkeit, die entsteht, wenn man für seine Ausbildung sein Land und seine Familie verlässt. Sie berichten von den Tränen, die geweint werden, weil man unsicher und frustriert ist. Oder auch zu Tode erschöpft.
Und da sind all die Zufälle, die das Leben in die richtige Richtung bringen, wenn einem das Glück hold ist!
Aber am liebsten spricht das Tänzerpaar mit Schicksalsbonus vom einmaligen Erfahrungsschatz, den es bei Proben etwa mit Vladimir Malakhov sammelte.
Und es erzählt auch vom jüngsten Ziel: mit Söhnchen Joel bald von Japan aus als moderne Künstlerfamilie voran zu kommen. Was sie noch machen wollen – es gibt da privat etwas nachzuholen – wird hier nicht verraten. Aber manchmal muss man wirklich lachen über die Arbeitswut und Bescheidenheit so großartiger Künstler.
Wie gut die beiden auch darin zusammen passen! Man hat gar keinen Zweifel: Wieslaw ist der Prinz in Shokos wahrem Leben – und sie ist seine absolute Traumfrau, die er liebend verehrt, und zwar nicht nur auf der Bühne. Ballettschicksal, auch das ist es!
Und wer schon immer mal das Musterbeispiel einer funktionierenden Beziehung bestaunen wollte – voilà!
Toll ist aber auch, wenn Shoko ganz ehrlich erzählt, wie unwohl sie sich zunächst mit dem Tanzen im „Schwanensee“ fühlte.
Man mag es kaum glauben, weil man es ihr im Scheinwerferlicht nie ansah, aber: „Ich bin eine sehr starke Kritikerin von mir selbst. Im Spiegel sah ich mich nicht als Schwan und ich habe mich nicht als Schwan gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass alle anderen mehr Schwan sind als ich.“
Gerade das fanden nun viele im Publikum ganz toll, diese Prise Anderssein, dieser Hauch von Verfremdung im klassischen Stil – Shoko war so ein exotischer Schwan, der noch im Werden war… und irgendwann fertig wurde.
Langsam, aber stetig wuchs von Aufführung zu Aufführung das Gefühl, in der Rolle doch passend zu sein. Shoko sagt, sie selbst wisse nicht, wodurch genau. Einerseits half ihr die frühere Starballerina Margaret Illmann. Sie sage Shoko ein paar Dinge, die zur scheinbar gefühlten Verwandlung in einen Wasservogel beitrugen. Aber andererseits war es wohl vor allem dieses ständige, unerbittliche Weiterarbeiten an sich, das half!
Shokos Resümee: Jeden Tag hart zu arbeiten, dabei vor allem bei den Grundlagen nicht zu schludern, sondern bei der Platzierung des Körpers stets besonders gründlich zu sein, ist am wichtigsten – dann können auch große und größte Aufgaben bewältigt werden.
Allen anderen hilft schon dieser Band: Für alle jungen und auch älteren Menschen, die mit Ballett zu tun haben wollen, ist er ein hervorragendes Kompendium – voll indirekter guter Ratschläge und herzlicher Erinnerungen.
Und wer mit Shoko, dieser wundervollen Ballerina, und Wieslaw, diesem wunderbaren Ballerino – der ein ultimativer „Onegin“ ist und diese Rolle auch schon am Bolschoi mit Evgenia Obraztsova tanzte – ganz hautnah mitfühlen will, der muss sich dieses Buch sowieso holen.
Darin lernt man zu verstehen, was die Berufung als Balletttänzer für die Künstler selbst bedeutet. Und das vermag einen zu beglücken: intellektuell und emotional.
Gisela Sonnenburg
„Die Bajadere“ laut Spielplan am 23. (mit Bolschoi-Star Ekaterina Krysanova in der Titelrolle) und am 25., am 26. und 28. Juni in wechselnden feinen Besetzungen in der Deutschen Oper Berlin
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-outlook-bajadere/
Jan Stanisław Witkiewicz: „Shoko Nakamura & Wieslaw Dudek“, deutsch und englisch, 242 Seiten, Theater der Zeit, Berlin, 18 Euro (auch als E-Book erhältlich) – als Lektüre bei Aufführungsstreik zu empfehlen!
Auch zu empfehlen:
www.ballett-journal.de/onegin-dudek/
www.ballett-journal.de/staatsballett-onegin/
www.ballett-journal.de/er-liebt-sie-nicht-er-liebt-sie/
Und: Am 24. Juni findet um 20 Uhr in der Berliner Buchhandlung Einar & Bert (Winsstraße 72 in Prenzlauer Berg) eine offizielle Buchpremiere statt: live mit den vier Stars Shoko, Wieslaw, Vladimir und Jan Stanisław!