Schwarze und weiße Magie – in jedem Menschen Aaron S. Watkin spricht über seinen „Schwanensee“ an der Dresdner Semperoper

Schwanensee

Ein „Schwanensee“, ganz den Erwartungen an klassisch-ästhetisches Ballett entsprechend, aber dennoch für moderne Sehgewohnheiten neu choreografiert und gestaltet: die Version von Aaron S. Watkin beim Semperoper Ballett. Foto: Costin Radu

Er ist unbestritten das Sinnbild des populären klassischen Balletts: der „Schwanensee“. In Dresden zeigt das Semperoper Ballett ihn in einer ganz klassischen Ausrichtung, aber mit deutlichen Neuerungen in der Choreografie und in den Details. Dabei passt alles zum alten Stil – und geht im Libretto sogar stark zurück zu der historischen Version von 1895. Im Interview erklärt Choreograf und Ballettdirektor Aaron S. Watkin seine Ideen und Absichten.

Ballett-Journal: Warum macht man eigentlich so einen klassischen „Schwanensee“ – und warum mag das Publikum ihn so sehr?
Aaron S. Watkin: Jeder kennt „Schwanensee“, sogar Leute, die sich sonst mit Ballett so gut wie nie beschäftigen und weit davon entfernt sind, Balletttänzer zu sein. „Schwanensee“ hat eine wundervoll zeitlose und faszinierende Geschichte. Ich habe in meiner Version für Dresden versucht, noch mehr als üblich das alte Märchen vom „Schwanensee“ mit all seinen Facetten der Magie in das Ballett zu integrieren. Darin trifft Rotbart, der böse Zauberer, als ein Adliger die Mutter von Odette, dem späteren Weißen Schwan. Ihre Mutter ist eine Fee. Rotbart hat laufend solche edlen Frauen, die er sich untertan macht und die dann sterben. Deren Töchter werden seine Gefangenen, als Schwäne. Das ist grausam, aber diese Idee eines Zwischenwesens, das tagsüber ein Schwan ist und nur nachts für einige Stunden noch ein Mensch sein darf, ist sehr prägnant. Der Aspekt der Verzauberung ist wichtig: Dadurch sind sie nie ganz normale Frauen. Außerdem gehört hier die Großmutter dazu, die Mutter der Mutter von Odette, auch sie eine Fee. Sie ist ebenfalls ein Teil der historischen Version von 1895.

DAS ERSTE GESAMTKUNSTWERK DES BALLETTS

Ballett-Journal: Hinzu kommt die dramatische Musik von Peter I. Tschaikowski. Er war stark von Richard Wagner beeinflusst, hat darüber auch geschrieben – und im „Schwanensee“ ist die Verzahnung von szenischer Handlung, Atmosphäre und dramatischer Musik sehr stark. Das ist schon fast cineastisch. Kann man da vom ersten Gesamtkunstwerk des Balletts sprechen?
Aaron S. Watkin: Unbedingt! Das ist auch ein Teil der Faszination, der Schönheit von „Schwanensee“. Die Musik ist genau dafür entstanden, also für genau dieses Ballett, für genau dieses Libretto. Alle Ideen darin wurden von Tschaikowski aufgegriffen und musikalisch umgesetzt. Und es steckt da so viel Leidenschaft drin, das ist schon umwerfend.

Aaron S. Watkin

Aaron Sean Watkin ist Ballettdirektor beim Semperoper Ballett und choreografierte 2009 seinen „Schwanensee“ für Dresden: mit vielen durchdachten Details. Foto: Ian Whalen

Ballett-Journal: Wieviel ist in der heutigen Dresdner Version noch von der originalen Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow vorhanden?
Aaron S. Watkin: Das ist tatsächlich gar nicht mal so viel, denn ich habe vieles für unsere heutigen Sehgewohnten neu formuliert, neu choreografiert. Aber die großen Pas de deux mit dem Weißen Schwan Odette, auch die Variationen des Schwarzen Schwans sind original von 1895. Wir sind allerdings nicht wie das Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg: Dort läuft die komplette Originalversion, seit über hundert Jahren, ohne Bruch oder nennenswerte Änderung. Was bei uns aber zusätzlich etwas Besonderes ist, ist die Musik: Mit dem Dirigat von David Coleman haben wir die originalen Tempi und die originalen Anweisungen von Tschaikowski umgesetzt, und die Sächsische Staatskapelle liebt es, diese Version zu spielen. Denn sie ist keineswegs selbstverständlich.

Schwanensee-Probe

Aaron S. Watkin mit der Ballerina Caroline Beach auf der „Schwanensee“-Probe. Klassik macht ja bekanntlich viel Arbeit! Foto: Ian Whalen

Ballett-Journal: Auch die Pantomine in „Schwanensee“ hat ihre Wurzeln bis tief in die Tradition hinein.
Aaron S. Watkin: Die Pantomime ist mir besonders wichtig, wenn es darum geht, was mit Odette geschah. Sie selbst erzählt, mit Hilfe der Pantomime, warum und wie sie zum Schwan wurde: dass ihre Mutter in der Beziehung zu Rotbart starb und Odette daraufhin von ihm mit dem Bann belegt wurde. Relevant ist die Pantomime auch im Hinblick auf die Großmutter, aus deren Tränen der Schwanensee entstand. Auch am Ende ist die Großmutter sehr wichtig, wenn sie die Liebenden in den See ruft.

Ballett-Journal: Es ist wie bei Sigmund Freud, der den „Familienroman“ hinter jedem menschlichen Schicksal witterte.
Aaron S. Watkin: Genau! Und es ist auch so in „Schwanensee“, dass sich zwar viele keine Gedanken darüber machen, woher all die Schwanenmädchen kommen. Aber sie haben eine Geschichte: Sie sind unterdrückte und misshandelte Mädchen, von Rotbart unfrei gemacht. Ihre Mütter sind allesamt Opfer dieses brutalen Mannes. Und er hat die Töchter dazu verdammt, keine Frauen zu sein, sondern Schwäne. Odettes Großmutter hat ihrer Enkelin hingegen eine Krone gegeben, die symbolisch ist und eine Funktion hat: Diese Krone beschützt Odette vor weiteren Sanktionen Rotbarts. Am Ende würde er sie gern ganz vernichten und töten, aber das verhindert ihr Schutz durch die Krone. Sie steht für die Feenkraft einer anderen Welt, es ist die Welt der Großmutter.

Ballett-Journal: Rotbart hasst Odette im Lauf des Stücks immer mehr.
Aaron S. Watkin: Er hasst sie, weil sie die Liebe ihres Lebens gefunden hat. Und das passt ihm nicht. Er will nicht, dass sie liebt und geliebt wird, denn Liebe kann stärker sein als sein Zauber. Und darum will er sie am Ende töten.

Ballett-Journal: Rotbart verkörpert die schwarze Magie, aber da ist – mit der Großmutter – auch weiße Magie vorhanden. Spielt Magie auf der Bühne eine besondere Rolle für das Publikum?
Aaron S. Watkin: Sie spricht das Gefühl in uns an, dass da etwas Größeres ist als wir es sind. Das Interesse an Märchen und Zauberkraft in solchen Stücken wird sicher niemals weniger. Wir haben ja auch im wahren Leben manchmal das Gefühl, es könnte Zauber sein – oder ein Wunder. Deshalb muss man nicht an Geister glauben. Aber das Gefühl fürs Spirituelle ist doch da.

Olga Melnikova

Hier tanzt Olga Melnikova in „Schwanensee“. Die einstige Primaballerina Dresdens unterrichtet mittlerweile an der Palucca Hochschule für Tanz, ebenfalls in Dresden: damit die Studentinnen und Studenten von Melnikovas Erfahrung in der strengen klassischen Tanzform profitieren. Foto: Costin Radu

Ballett-Journal: Prinz Siegfried in „Schwanensee“ hat so sehr die Hilfe der weißen Magie nötig! Er versagt ein einziges Mal, nämlich, als der Schwarze Schwan auftaucht. Da lässt er sich, wohl auch, weil die Sache mit Odette am See so schwierig erscheint, zu einem falschen Liebesschwur hinreißen, eigentlich auch verführen – und er verliert damit seine ganze Zukunft. Das ist wie mit manchen jungen Leuten heutzutage, die, wenn etwas nicht gleich klappt, sich aus Frust zu Drogen- oder Alkoholmissbrauch verführen lassen.
Aaron S. Watkin: Es ist bei Prinz Siegfried die große Frage, ob er es weiß, dass Odile, der Schwarze Schwan, nicht mit Odette, dem Weißen Schwan, identisch ist – oder ob er die beiden wirklich verwechselt. Ich denke, dass er für einen Moment begreift, dass die zwei nicht ein- und dieselbe Person sind. Da fühlt er, dass er in Versuchung kam und nicht genügend widerstanden hat. Aber dann wird ihm bewusst, dass das ein Fehler war – und er flüchtet an den See, um Odette zu finden. In meiner Choreografie sieht man dann am Schwanensee auf der einen Seite die Schwarzen Schwäne, das ist die Entourage von Rotbart, die für das Böse steht – und auf der anderen Seite die Weißen Schwäne, die verzauberten jungen Frauen, also das Gute.

Swan Lake Black Swan

Elena Vostrotina tanzt hier die Odile, also den Part des atemberaubend virtuosen Schwarzen Schwans – die Doppelrolle der Odette / Odile erfordert höchste Präzision, Belastbarkeit und Vielseitigkeit. Schließlich geht es um zwei Seelen, die genau entgegen gerichtet sind… Foto: Costin Radu

Ballett-Journal: Diese Dualität findet sich auch in der Doppelrolle der Odette / Odile. Finden sich diese beiden Seiten ganz allgemein in jeder Frau? Das Zarte, Verletzliche, Freundliche einerseits und andererseits das Raffinierte, Manipulative, Aggressive?
Aaron S. Watkin: Natürlich! Aber es gibt dieses Phänomen nicht nur bei Frauen, sondern auch in jedem Mann, denn das ist nicht geschlechtsspezifisch, sondern betrifft Personen allgemein. In meiner Version von „Schwanensee“ gibt es außerdem noch Benno, den Freund von Siegfried, als Alter ego des Prinzen. Benno hat bei mir eine ziemlich starke Position. Er leitet Siegfried an, nächtens zur Jagd aufzubrechen – und dadurch finden sie erst die Schwäne am See. Aber Benno kann Siegfried nicht beschützen, vor dem Schwarzen Schwan nicht und auch nicht vor Rotbarts Tricks. Bis Benno merkt, dass es falsch und gefährlich war, auf den Schwarzen Schwan einzugehen, ist es zu spät.

Ensemble

Ob Solisten- oder Ensembletanz: „Schwanensee“ birgt Magie und dient der begeisterten Läuterung des Publikums. Foto: Costin Radu

Ballett-Journal: In Rotbart kulminiert das Böse. Er ist zwar nur eine einzige Person, aber alles Böse findet sich in ihm versammelt, diabolisch und symbolhaft. Ballett insgesamt versucht aber etwas ganz anderes. Wie Natalia Makarova es sagte: „Ballett ist Schönheit, um die Welt zu retten.“
Aaron S. Watkin: Oh ja, so ist Ballett! Theater ist ein Ort, um der Realität zu entkommen, um in eine andere Welt einzutauchen. Sogar die relativ einfache Liebesgeschichte aus dem „Schwanensee“ vermag das zu bewirken. Und wenn man aus dem Opernhaus heraus kommt, dann sollte man ein besserer Mensch sein.
Interview: Gisela Sonnenburg

Wieder am 13. und 15.3. (zwei Mal) sowie am 16.3. in der Semperoper in Dresden (dann wieder im Juli)

www.semperoper.de

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