Vom Spindelverbot zu den Rosenranken der Liebe Das Semperoper Ballett nimmt „Dornröschen“ in der Inszenierung von Aaron S. Watkin wieder auf: Melissa Hamilton tanzt erstmals die Titelfigur

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

„Dornröschen“ auf sächsisch: Aaron S. Watkin schuf eine neue Version, mit psychologischer Tiefenschärfe und cineastischem Drive, fürs Semperoper Ballett. Hier tanzt eine frühere Besetzung: Olga Melnikova, heute Lehrerin an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden, und Claudio Cangialosi. Foto: Costin Radu

O heile Traumwelt des Barock und Rokoko! O Seidenschleife und Puderperücke! O Rosenglück und Feenfluch! Alles ist hier so verliebt, so niedlich und so surreal, wie es in einem Märchenidyll nur sein kann: Das klassische Ballettlibretto von „Dornröschen“ strotzt nur so vor Spielereien und Details, die jedes für sich einen Sinn ergeben, die insgesamt aber weit davon entfernt sind, augenscheinlich schlüssig zu sein. Da werden Spindeln und Stricknadeln verboten, weil der Fluch über ihnen liegt, die süße Prinzessin könne sich an ihnen stechen – aber Rosen mit ihren pieksigen Dornen stören niemanden. Da reisen Verehrer an, um um das schöne, reiche Mädchen zu freien – aber wach küssen kann sie nur jemand, der sie schon liebt, bevor er ihr jemals begegnete. Hundert Jahre älter ist die Braut dann als ihr Bräutigam – aber auch das stört niemanden, verschlief doch ein ganzer Hofstaat mal eben locker zehn Dekaden. Die Logik liegt hier in der symbolträchtigen Überwirklichkeit des Traumhaften – sowie in der emotionalen Stimmigkeit einer überbordenden Fantasiewelt, im Verein mit der sie gleichermaßen erschaffenden wie begleitenden Musik. Der Komponist Peter I. Tschaikowsky hielt es denn auch für sein bestes (Ballett-)Stück: 1890 in Sankt Petersburg in der Choreografie des Ballett-Titanen Marius Petipa uraufgeführt, zählt „Dornröschen“ bis heute zu den Lieblingskindern der Ballettfans weltweit. Aaron S. Watkin hat für sein Dresdner Semperoper Ballett gemeinsam mit Francine Watson Coleman eine eigene Version kreiert, die das ursprüngliche Libretto hier und da sanft ergänzt, ohne es mit starken Eingriffen zu verändern. Dresdens neue Erste Solistin, der Weltstar Melissa Hamilton, tanzt in der Wiederaufnahme die Titelrolle.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

Rosen für die Festivitäten: Der Werbetrailer des Semperoper Balletts für „Dornröschen“ zeigt schön, wie das Ensemble mit den Rosen zu tanzen vermag. Videostill: Gisela Sonnenburg

In Dresden hat allerdings der Realitätssinn ein Stück weit in das Libretto Einzug gehalten. Die Herrscher des heimlich von Feen beherrschten Landes haben hier deutsche oder auch sächsische Vornamen bekommen (Katharina und Heinrich), und ihr künftiger Schwiegersohn scheint aus Bayern oder Österreich anzureisen: Aaron S. Watkin nennt den glücklichen Prinzen österreichisch Florimund statt, wie in der klassischen Ballettversion, französisch Prinz Désire.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

Carabosse, die böse Fee, macht in Aaron S. Watkins Version von „Dornröschen“ eine erstaunliche Wandlung durch… hier auf dem Foto wird sie getanzt von Laura Graham, die heute Trainingsleiterin beim Semperoper Ballett in Dresden ist. Foto: Costin Radu

Dafür heißt die Fliederfee weiterhin ebenso, und die böse Fee Carabosse ist zwar mit einer Frau besetzt (und nicht en travestie), hat aber ansonsten ebenso viel vom frankophilen Charme der Dekadenz wie ihre sonst männlichen Kollegen in diesem Part. Feine Pastellfarben in prächtig-eleganter Ausführung (Kostüme: Erik Västhed), mit viel Rosenrankenrosé und Himmelblau, machen aus dieser Inszenierung von „Dornröschen“ insgesamt ein zwar mit den beiden Pausen drei Stunden langes Mega-Event, aber das Publikum wird zugleich wie in einem Märchenfilm mit Action und psychologisch motivierter Handlung gefüttert.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

Auch Dmitry Semionov tanzte schon den Prinzen Florimund in Aaron S. Watkins „Dornröschen“ in Dresden. Foto: Costin Radu

Das von ihnen selbst verhängte Spindelverbot aufgrund des Fluchs der bösen Fee führt hier zu einer regelrechten Hysterie bei den besorgten königlichen Eltern, die das Geburtstagsfest ihres sechzehnjährigen Töchterchens darum einfach abbrechen lassen. Aber das nützt natürlich nichts, denn schicksalhaft muss sich der Fluch erfüllen können.

Da flieht die von Carabosse zunächst in Trance versetzte und erst dann mit einer Spindel verletzte Aurora in den Wald, also in die freie Natur, um erst dort bewusstlos zusammen zu sinken. In den eng an Petipas Libretto orientierten klassischen Versionen kippt sie noch während ihres Geburtstagsfestes um. Und der Prinz findet die verzaubert schlafende Aurora in Dresden auch keineswegs im Nu, wie er es sonst recht zügig durch den Dornenwald zu ihr schafft. Sondern die Jahreszeiten ziehen an ihm vorüber, bis er es endlich im Frühling schafft, aus seiner Vision von Aurora zur Wirklichkeit der liebesfähigen Frau vorzustoßen. Und dennoch bedrängt ihn nochmals die Widerstandskraft des Bösen, verkörpert von den dunklen Mächten, die in Carabosse kulminieren, und sie scheinen ihn in letzter Sekunde fast noch in den Bann zu schlagen.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

„Dornröschen“ in Himmelblau: Natalia Sologub tanzt hier die Partie beim Semperoper Ballett, mit lang gestreckten, eleganten Gliedmaßen. Foto: Matthias Creutziger

Dann aber bezwingt der Held die böse Fee. Carabosse wird dadurch (und das ist einzigartig und meines Wissens nach nur in dieser Dresdner Inszenierung so zu haben!} erstens eine Sterbliche und zweitens eine Renegatin. Sprich: Carabosse dient am Ende fortan dem Guten, dem Königreich und dem Liebespaar – und wo das Böse abbleibt, oje, das müssen wir uns alle selbst jetzt einmal fragen, womöglich sitzt es nunmehr im Publikum, ohne, dass wir es da gleich auf Anhieb erkennen wollen… eine prickelnd philosophische Pointe ist das, und Aaron S. Watkin hat sich mit seinem „Dornröschen“ mal wieder seines guten Rufes als Erneuerer der großen klassischen Ballette für würdig erwiesen.

Und für den weiblichen Star der diesjährigen Wiederaufnahme dieser Supershow ist es zudem sogar ein absolutes Rollendebüt!

Die zarte, flinke, durch ihren anmutigen Bewegungsfluss und ihr intensives Augenspiel ungeheuer faszinierende Melissa Hamilton stammt aus Belfast in Nordirland, für das sie ehrenamtlich auch als Kulturbotschafterin tätig ist. Ihre Ausbildung erhielt sie unter anderem an der renommierten Elmhurst School for Dance in Birmingham sowie, als private Weiterbildungsmaßnahme, bei der Bolschoi-Veteranin Masha Mukhamedov. Melissa tanzte zunächst in London beim Royal Ballet, seit 2007. Seit 2013 ist sie dort Erste Solistin – und zur Zeit für Dresden frei gestellt. Wayne McGregor kreierte beim Covent Garden für sie, die auch in den elegischen Stücken von Christopher Wheeldon auftrat. Sie gibt eine entzückende Olga in „Onegin“ ab und einen funkelnden Rubin in George Balanchines „Jewels“. Ihren guten Namen machte sie sich aber vor allem auch mit Gastauftritten. So gilt sie zurecht als aktuell weltbeste „Manon“ – und ist überhaupt eine der versiertesten Kenneth-MacMillan-Interpretinnen. Mit „Manon“ hatte Melissa Hamilton im November 2015 auch ihren Dresdner Einstand. Jetzt tanzt sie ihre zweite große Partie in der Barockmetropole an der Elbe: als Aurora in „Dornröschen“.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

Weltstar Melissa Hamilton auf Facebook: im „Dornröschen“-Look während einer Pause… süß und sinnlich. Sie tanzt diese anstregende und wichtige Partie des klassischen Ballerinenballetts zum ersten Mal – und ist damit das erste neue „Dornröschen“ beim Semperoper Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Es ist das erste Mal, dass du die Rolle der „Aurora“ in Dornröschen tanzt. Wie fühlt sich das an?

Melissa Hamilton: Das ist eine ganz schöne Herausforderung! Es ist ja nicht nur das erste Mal, dass ich Aurora tanze – es ist der erste klassische Dreiakter überhaupt, in dem ich eine Hauptrolle übernehme. Ich genieße es aber sehr, mich selbst so zu neuen Grenzen voranzutreiben, und ich werde sicher geleitet vom künstlerischen Stab des Semperoper Balletts.

Ballett-Journal: Aurora ist die Perfektionsprinzessin schlechthin. Aber in Aaron S. Watkins Version hat sie auch eine psychologisch plausible Familie, ihre Eltern haben (deutsche) Vornamen, und sie erscheint manchmal als ganz normale junge Frau, die ihr Leben auf die Reihe bekommen muss. Würdest du bitte deine Interpretation noch konkretisieren?

Melissa Hamilton: Ich denke, dass Aurora – wie viele sechzehn Jahre alte Teenager – Träume davon hat, wie und wo ihr Leben sich gestalten sollte. In ihrem Fall geht es auch darum, wie sie jenseits der Tatsache, dass sie die Tochter des Königs und der Königin ist, leben wird. Es geht ihr darum, Anerkennung zu finden und dennoch auch unabhängig zu sein. Das zeigt sich vor allem in ihrem veränderten Verhalten bei ihrer Hochzeit im dritten Akt. Manchmal sieht man Aurora vielleicht als lediglich zweidimensionalen Charakter – über all ihre virtuosen Tanzschritte und die technischen Raffinessen der Choreografie von Petipa. Aber ich hoffe, das ich ihr mehr Farbe und einen deutlichen Charakter verleihen kann.

Ballett-Journal: Hast du dir früher manchmal gewünscht, die Aurora darzustellen? Du hast ja schon die Fliederfee und die Prinzessin Florine in „Dornröschen“ getanzt.

Melissa Hamilton: Ich habe beide Rollen in London beim Royal Ballet getanzt. Die schiere Ungeheuerlichkeit des Tanzens, die von Aurora während der drei Akte verlangt wird, kennzeichnet die Rolle als eine der schwierigsten Partien für Ballerinen in der Geschichte des Tanzes – was mich aber immer sehr angesprochen hat. Ich hatte von daher auch immer großen Respekt vor dieser Rolle und hoffte auf eine Chance wie jetzt, sie eines Tages auf mich nehmen zu dürfen.

Melissa Hamilton ist Dresdens neues Dornröschen.

Natalia Sologub und Dmitry Semionov tanzen hier das Liebespaar in „Dornröschen“ beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Costin Radu

Ballett-Journal: Als Manon bist du so fantastisch, so frisch und jung und erotisch. Dürfen wir darauf hoffen, eine kleine Facette dieser Manon auch in der wohl erzogenen, unschuldigen Aurora aufblitzen zu sehen? Ist die Psychologie der Rolle am Ende gar nicht so weit von Manon entfernt?

Melissa Hamilton: Ich hoffe, meine Aurora wird dieselbe Jugend und Frische haben, aber auch eine wärmere, mehr delikate Seite meines Naturells offenbaren. Femininität ist essenziell für Aurora, aber ohne den Erotizismus von Manon. Die Entwicklung eines unbedarften sechzehnjährigen Mädchens zu einer hoheitsvoll gereiften jungen Frau in ihrem Hochzeits-Pas-de-deux ist etwas, das ich hoffe, in „Dornröschen“ erreichen und zeigen zu können.
Interview: Gisela Sonnenburg

Weitere feine Besetzungen der Aurora: Anna Merkulova und Gina Scott!

Termine: siehe „Spielplan“

www.semperoper.de

 

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