Sie sind das große Anti-Paar der Weltliteratur, und John Neumeier hat mit seinem 1985 uraufgeführten Ballett ein weiteres, als eigenständig zu erachtendes Meisterwerk über die Unglücklichsten aller Liebenden geschaffen: Othello und Desdemona, die zunächst über alle Hürden des Altersunterschieds und der Kulturen hinweg eine leidenschaftliche Verliebtheit verbindet, enden tragisch sondergleichen. Der Grund scheint, ob im Drama oder im Ballett, seltsam banal: Jago, Othellos Untergebener, hoffte auf eine Beförderung, die dann ein anderer bekam. Aus Rache – so will es das Libretto – schürt er Eifersucht und Wahn bei seinem ihm gut bekannten Dienstherrn, bis dieser erst seine schöne Frau und danach sich selbst umbringt.
Neumeier erfand zur Illustration dieses Plots zusätzliches Personal, das der Gedankenwelt Othellos oder auch dem gesellschaftlichen Willen entstammt. Da ist vor allem „La Primavera“, bei der Uraufführung getanzt von Stefanie Arndt (eine der wenigen deutschen Spitzentänzerinnen ihrer Generation). Sie schaut, in ein transparent-voluminöses Flatterkleid gehüllt, aus wie eine schwülstige Jugendstil-Fantasie und wird begleitet von zwei sie flankierenden Mädchen, die ihr offenbar nacheifern. In den entscheidenden Szenen der Primavera agiert sie aber solistisch – als eine Art heimliches Abbild von Desdemona, welches zunehmend in Othellos Fantasie die eigentliche Geliebte überlagert. Emilie Mazon und Florencia Chinellato tanzen sie derzeit abwechselnd: Mazon mit diabolisch-lockender Anmut, Chinellato mit zuverlässiger Präzision.
Als Pendant zur Primavera gibt es den „Wilden Krieger“, 1985 von Ralf Dörnen getanzt ( er ist heute Ballettdirektor vom Theater Vorpommern). Der Krieger verkörpert die Seele des Wilden – er tanzt faszinierend nicht-europäisch und liegt am Ende, wenn Othello seine Schreckenstaten begeht, bereits abgestorben am Boden, nah an der Rampe, unübersehbar, wie ein erschreckendes, modernes Kriegerdenkmal.
Dörnen musste sich, wie auch heute noch jeder Darsteller des „Wilden Kriegers“, mit Body-Make-up kohlschwarz anmalen lassen: ein Schicksal, das dem Tänzer des ursprünglichen Mohren im Stück – Othello – bei Neumeier erspart bleibt. Dafür wird sein Othello zumeist mit einem Tänzer nicht-weißer Hautfarbe besetzt: das Stigma des vorgeblichen Andersseins, des Ausländerseins, des Fremdseins in der europäischen Kultur bleibt der Rolle somit erhalten.
WENN DIE LIEBE FUNKEN SPRÜHT
Bei der ersten Begegnung von Othello und Desdemona sprüht es Funken; während eines Gesellschaftstanzes sehen sie sich, suchen einander. Bei der Uraufführung tanzte der gebürtige Ägypter Gamal Gouda, heute Erster Ballettmeister beim Semperoper Ballett in Dresden, den Othello: das schwarze Kostüm mit weißgoldenem Hüfttuch stand ihm besonders gut. Mit starker Sprungkraft und superben Linien in den Posen sowie großer Zartheit in den Pas de deux überzeugte er in jeder Hinsicht! Seine Desdemona war Gigi Hyatt, die heute Neumeiers Ballettschule in Hamburg leitet. Ihre Kostüme im Stück sind zumeist weiß und durchsichtig, aber nicht tief ausgeschnitten: Sie verleihen der Tänzerin den Nimbus erotischer Keuschheit. Den erfüllte auch Hyatts Tanz: Stets stand sie mit einer madonnenhaft-erotischen, dabei stark sensitiven Aura auf der Bühne und betonte so das Schicksalhafte der Rolle.
Bühnenbild, Kostüme und ausdrücklich auch die Inszenierung sind hier aus derselben Hand wie die Choreographie: Neumeiers Allround-Talente für seine Ballette sind geradezu sprichwörtlich. Auch als Othello Desdemona anbaggert, fällt ein nicht zufällig gestaltetes Requisit ins Auge: Othellos an den Enden goldglänzender, sonst weißer Lendenschurz (ein Symbol für Keuschheit, aber auch für Potenz). Gemeinsam mit dem „Wilden Krieger“ tanzt Othello hier, um Desdemona werbend, in einer Mischung aus Afro-Dance und Disco-Dancing auf sie zu. Eine applaudierende Antwort gibt ihm aber nicht nur Desdemona selbst, sondern auch Othellos Fantasiegespinst, La Primavera. Sie tanzt auch gleich für ihn: Zart und lockend lässt sie ihre Arme vor ihm auf- und abflattern, in fließenden, sehr sinnlichen Bewegungen.
Es folgt ein berückend eindringlicher, weltberühmter Paartanz. Hierzu eine Anekdote: Anna Polikarpova, die seit dieser Spielzeit Lehrerin an Neumeiers Schule ist und die zuvor eine seiner Primaballerinen war, kam aufgrund genau dieser Szene nach Hamburg: Sie sah diesen ersten Pas de deux zwischen Othello und Desdemona auf einer Gala im Kirov Theater, wo sie damals Solistin war, und sie bewarb sich daraufhin von dort aus in Hamburg bei Neumeier. Dieser erste Pas de deux zwischen Othello und Desdemona ist also nicht nur berühmt, sondern auch ein probates Lockmittel für Talente.
Es handelt sich um eine traumtänzerische Sequenz, die ein heimliches nächtliches Treffen des Liebespaares darstellt. Amilcar Moret Gonzalez tanzt derzeit als hinreißender Gaststar den Othello, seine Desdemona ist die bildschön-expressive Hélène Bouchet. In der zweiten Besetzung tanzt dann ein Deutscher den Othello, ohne Schuhcreme im Gesicht: Carsten Jung. Ihm zur Seite: die stets ergreifend-melancholische, langbeinige Anna Laudere.
Zur minimalistischen Musik „Mirror in Mirror“ („Spiegel im Spiegel“) von Arvo Pärt, in der Geige und Klavier so zart wie ein Zirpen zu hören sind, trägt Desdemona eines ihrer transparenten Negligées, während Othello nackt ist, bis auf eines seiner weißen, an den Zipfeln goldglänzenden Hüfttücher überm Suspensorium. Langsam nähern sich die beiden an, üben gemeinsam die erste und fünfte Position des klassischen Ballettexercise, bewegen sich dabei aber wie in Zeitlupe. Was ihrem Ausdruck etwas Schwebendes, Entrücktes verleiht: Sie sehen sich nicht immer an, sondern scheinen oft weit in die Ferne zu schauen. Hand in Hand gehen sie ins Elevé – in der Parallelposition – und zugleich knicken sie die Köpfe zur Seite. Langsam entstehen dann typische Mann-Frau-Figuren: Sie auf Spitzenschuhen an ihn gelehnt, von ihm erhoben, dann sinkt sie huldvoll zu Boden. Und während er um sie herumgeht, fasst sie seine Füße an, als wolle sie begreifen, wie ein so wundervoller Mann überhaupt irdisch existieren könne. Fußfetischismus ist wirklich selten so stark inhaltlich aufgeladen, zumal, wenn eine Frau ihn praktiziert!
GOLDZIPFEL ZUM AUSWICKELN
Schließlich reicht er ihr einen Goldzipfel seines Schurzes und lässt sich langsam von ihr auswickeln. Das so frei werdende Tuch wickelt sich durch sein Um-sie-herum-Gehen um ihre Taille, und wenn er es verschnürt, geht er dazu vor ihr in die Knie. Der tänzerische Moment hier ist ganz ernst, keineswegs heiter oder verspielt. Denn es wird klar, vor allem für Desdemona: Was jetzt passiert, ändert ihr Leben, nicht nur von Grundauf, sondern sogar im Hinblick auf den Tod. Man kann das erahnen, wenn das Paar sich abschließend umarmt und sie ihren Kopf dabei wie innerlich aufgebend und nicht wie Geborgenheit suchend an seine Schulter schmiegt. Othello hebt sie danach auf ihre Fußspitzen, stellt sie vor sich auf, packt sie seitlich am Hals, mit beiden Händen, und wiegt sie langsam hin und her. So endet dieser Pas de deux, der Beginn ihrer Beziehung.
Eine intensive Beziehung ist das, von Anfang an – aber Glücklichkeit im Sinne von Fröhlichkeit kann man hier nicht verorten. Es ist das Glück des gemeinsamen Abgrunds, das Neumeier beschwören lässt: Die Sehnsucht zweier Menschen nacheinander kann ja so groß sein, dass sie sich selbst durch inniges Zusammenleben nicht erfüllt.
Verstärkt wird dieses unendliche Gefühl bei Othello und Desdemona durch ihre innere und äußere Gegensätzlichkeit, also auch durch seine negroide Herkunft. Ob Afrika, Kuba oder der Orient: Es ist die Fremdheit einer anderen Kultur, einer anderen Lebensart, auch einer anderen Art des Empfindens, die Othello für Desdemona so attraktiv macht. Und vice versa! Auch er brachte sich keine Frau aus seiner Heimat mit, sondern verliebt sich in die junge, typisch europäische Desdemona. Und sie? Sie erkennt im Fremden sich selbst, weil sie sich in der lustig-munteren Allerweltsgesellschaft ihres Umfelds einsam und gelangweilt fühlte. Insofern ist sie eine Julia. Man könnte sagen: In ihr lebt die Wüste, und als Othello ihr begegnet, findet sie endlich eine Oase.
Die Fata Morgana dieser Liebe, ihr Illusionscharakter, ist dennoch offenbar. Desdemona ist vom Typ her leichtfüßig, leichtsinnig, vielleicht sogar etwas oberflächlich. Othello hingegen ist in seiner Angepasstheit ans Militär, das ihm seine Karriere ermöglichte, preußischer als die Preußen. Treuherzig, aber stur, könnte man seine hervorstechenden Merkmale zusammenfassen. In erotischer Hinsicht ergänzen die beiden sich. Aber was die Tauglichkeit ihrer Beziehung im Alltag angeht, muss man Bedenken haben. Ein besonders ruhiger Pas de deux der beiden im ersten Teil des Balletts kann davon nicht ablenken. Denn es ist eine Beruhigung auf Zeit, die sich in die noch junge Beziehung zwecks Legalisierung vor der Gesellschaft eingeschlichen hat.
Unter dieser Oberfläche brennen beide lichterloh. Eine Gruppe fantasievoll gestalteter Multi-Kulti-Eingeborener treibt zudem die Hitze im Stück voran – wie ein exotisches Chili-Gewürz. Diese Stimmung erfasst alle. Die jungen Männer, die ins Bordell flüchten. Den abenteuerlustigen Leutnant Cassio, den Jago zu seinem wichtigsten Mitarbeiter gemacht hat. Und ist es nur berufliche Eifersucht, die Jago zum Intriganten macht? Oder ist Jago auch aus anderen Gründen so voll Hass auf Othello?
Als Othello ohne Musik ein bravourös-expressives Solo mit vielen Spagatsprüngen und Tours en l’air tanzt, liefert er damit viel Grund für Neid. Othello stellt sich selbst damit ausdrucksstark und repräsentativ, zugleich aber fast verzweifelt in seiner eigenen Brillanz dar: Er ist ein Kämpfer, der es weit gebracht hat und der Befähigungen hat, die jederman staunen machen. Dennoch hat er augenscheinlich das Gefühl, nie gut genug zu sein und immer in der Gefahr der Missachtung zu leben. Jeder Einwanderer, jedes Einwandererkind kennt dieses Gefühl.
Aber Othello hat soeben auch noch diese entzückende Desdemona erobert! Es muss bei Jago viel mehr an Frustation und negativen Emotionen vorhanden sein als nur das diffuse Gefühl, beruflich übergangen worden zu sein. Seine wachsende Aggressivität vermag Jago jedoch geschickt vor Othello zu verbergen, natürlich nicht vor dem Zuschauer – und in einem komplizierten, mit Spannungen aufgeladenen Pas de deux mit Othello beginnt er, diesen mit falschen Informationen über Desdemona in den Eifersuchtswahn zu schicken.
Das ist ein Thema für sich: Männerfreundschaften oder überhaupt Freundschaften, die keine sind, weil ein Partner den anderen am liebsten umbringen möchte. Die kriminelle Energie, die Menschen mitunter auch in ihrem engsten Umfeld auffahren, kann immens sein. Und sie sucht sich geschickte Tarnungen, kommt, wie hier, als Vertrautheit oder gute Meinung einher. Die in diesem Sinne sehr wichtige Figur des Jago wurde von Max Midinet kreiert, einem Tänzer, der mit starkem Schauspiel die Perfidie des falschen Freundes zu vermitteln vermochte. Er tanzte den Jago zugleich als Egozentriker, als narzisstisch Gekränkten, auch als Rasenden, der aber – wie ein Nazi – mit kalter Ratio den eigenen Hass portionierte.
In den letzten Jahren haben viele große Tänzer den Jago getanzt, in Stuttgart etwa Marijn Rademaker und Evan McKie. In Hamburg stellen ihn zurzeit abwechselnd Otto Bubeníček und Alexandre Riabko dar. Ersterer betont in seiner Darstellung die Hinterfotzigkeit von Jago, während Riabko ihn mehr offensiv aggressiv agieren lässt. Beides ist toll anzusehen! Und spätestens, wenn Jago mit laut gebrüllten Zahlen im Stampfschritt die eigene Gattin Emilia (Carolina Agüero und alternierend Leslie Heylmann) dressiert und zur Komplizin des Bösen abrichten will, wird deutlich, welch doppelten Boden diese Charakterrolle hat.
Jago ist nicht nur geschmeidig-verlogen und begabt in Heuchelei – auch das zeigen die Neumeier-Tänzer mit faszinierender Hingabe an ihre Kunst. Sondern sie müssen auch, im Umgang mit Emilia, sie wörtlich mit Füßen treten, offene Brutalität zeigen. Und zwar so, wie sie im Alltagskontext gar nicht mal so selten anzutreffen ist. Stichwort seelische Grausamkeit: Diese zeigt sich ja auch im realen Leben meist weniger im Umgang mit Außenstehenden, sondern vor allem im familiären oder freundschaftlichen Rahmen.
Ein Ausflug ins Tierreich sei erlaubt, um die tiefgreifenden Wurzeln solchen Verhaltens auch bei dem Menschen verwandten Primaten aufzuzeigen: Bei Makaken, einer Affenart, wurden Vorgänge beobachtet, die an das tödliche Intrigenspiel in so manchem Theaterstück von William Shakespeare erinnern. So vermochte ein einziger, besonders aggressiver männlicher Affe, gleich zwei Alpha-Tiere – das jahrelang herrschende Alpha-Pärchen – durch Bisswunden tödlich zu verletzen. Woraufhin sie, von der Herde als zu schwach deklassiert und durch die eiternden Wunden auch noch übel riechend, ausgestoßen wurden.
Nacheinander verendeten sie, allein und unbeachtet von den Gefährten, die ihnen viele Jahre lang gehorcht hatten, sie gelaust hatten, ihnen Nahrung offeriert hatten. Und auch nach ihrem Tod gab Tony, der besondere Aggressor, keine Ruhe. Normalerweise rückt bei einem Verlust der oder des Affenchefs das in der Rangordnung nächstfolgende Tier auf. Im Fall von Tony verjagte dieser aber den „Erben“ und konnte selbst die Kontrolle der Gruppe übernehmen. Sind Affen wie Menschen oder sind Menschen wie Affen?
Inwiefern auch Jago nach Othellos Tod seine soziale Stellung verbessern kann, bleibt ungewiss, weil seine Karriere nicht das Thema des Stücks ist. Aber den kalten Hass, den Jago empfindet, kann er mit laut spottendem Gelächter kundtun, als Othello ihm gesteht, Desdemona ermordet zu haben. Erst dann bringt Othello auch sich um – nicht aus Scham über seinen Liebesmord, sondern weil er erkannte, dass er ein Instrument der Machtgier Jagos geworden war.
Das führt zum Ursprung des Stücks zurück, in dem Othello als testosterongesteuerter Ausländer erscheint. Wieso ließ Shakespearere ihn nicht europäisch sein? Ging er davon aus, ein europäischer „Gentleman“ hätte seinen vermeintlichen Rivalen bekämpft, aber nicht die Frau ermordet, die er liebt? Oder waren diese sehr dunklen Triebkräfte des Sexus und des Charakters damals von vornherein derart tabuisiert, dass sie einem Fremdling zugeschoben werden mussten?
Niemand sollte Shakespeare den Vorwurf machen können, hochgestellte Militärs – Othello ist schließlich ein Feldherr – des sexuell motivierten Eifersuchtswahns zu bezichtigen. Man konnte damals die Mächtigen in Theaterstücken mit Mordgier, Rachsucht, Machtgeilheit behaften. Aber nicht mit rein privat motivierten Untugenden wie dem Mord an der eigenen Gattin wegen deren etwaiger Untreue. Das hatte null Fallhöhe, war moralisch komplett indiskutabel und ließ sich auch nicht mit etwa berechtigtem Besitzdenken in Bezug auf die Angetraute im zeitgenössischen England rechtfertigen. Indem Shakespeare einen „Außerirdischen“, also einen für die damalige europäische Welt absolut Fremden erfand, schob er die Triebproblematik auf eine andere Kultur ab. Motto: Sowas würde es bei einem von uns nicht geben.
AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT WAR FÜR SHAKESPEARE KEIN PROBLEM
Ausländerfeindlichkeit war im Elisabethanischen Zeitalter kein offizielles Problem, insofern machte sich Shakespeare auch gar keine Feinde mit seinem negativen Bild vom Dunkelhäutigen. Heute – und auch schon im letzten Jahrhundert – haben und hatten wir das Problem, die historische Verschiebung typisch männlichen Verhaltens zu erklären. Peter Zadek etwa ließ in seiner Sprechtheaterinszenierung von „Othello“ den Schauspieler Ulrich Wildgruber mit der Schuhcreme-Nummer agieren. Wildgruber war als Othello mit dunkler Farbe benetzt, die nicht hielt, sodass Desdemona bei jeder Berühung von ihm schmutziger wurde. Die unmäßige Triebkraft seiner Liebe wurde so drastisch ins Bild gesetzt – als Provokation.
John Neumeiers Othello ist ein anderer. Neumeier siedelt „Othello“ in einer fiktiven Multi-Kulti-Gesellschaft an, und seine Fremdheit wird als exotischer Reiz inszeniert. Er ist mit seiner dunklen Haut der schönste Mann im Stück, daran ist gar kein Zweifel, er ist schöner als die europäischen Jungs inszeniert, die gegen den aparten Othello fast langweilig wirken müssen. Der eigentliche Schurke im Ballett ist ohnehin der blasse Jago, dessen Heimtücke im Bühnentanz noch stärker heraus gearbeitet ist als im Sprechtheater. Black is beautiful!
In Neumeiers Othello-Welt, einem fiktiven Stadtstaat Venedig, dürfen Eingeborene denn auch als Neulinge der Zivilisation vortanzen – sie haben ein helles Tuch, das Othellos Lendentuch ähnlich sieht, dabei, ihr Anführer spielt damit wie mit einer Trophäe. Der Mythos der unverbrauchten, naturhaften Kulturen dräut, setzt sich gegen die degenerierten Europäer. Und in ethnologisch bunter Kostümierung, teils auch mit Masken bestückt, lassen sich die exotischen Masken-Tänzer genau so bestaunen wie heutzutage die tanzenden Migranten beim Berliner „Karneval der Kulturen der Welt“.
Es herrscht sowieso so eine Art Aufbruchstimmung in dieser „Othello“-Gesellschaft, obwohl dieses Venezien gar nicht zu wissen scheint, woher es selber kommt und wohin es geht. Wie so oft im Ballett, kulminiert das gesellschaftliche Befinden dann auch in der Darstellung des Hauptliebespaares. Für Othello und Desdemona ist aber nicht nur das Lieben typisch, sondern vor allem der Liebesmord: Der Schluss-Pas-de-deux der beiden ist eine Pretiose in der Geschichte der Choreographie und verdient es, mindestens so beachtet zu werden wie der so häufig gelobte „Mirror-in-Mirror“-Pas de deux.
Das große Entsetzen des Finales beginnt mit der Aufwiegelung Othellos durch Jago. Dieser täuscht Desdemonas Untreue vor – und will wohl eigentlich eine Herabsetzung seines beruflichen Rivalen Cassio erreichen. Dieser war statt Jago von Othello zum Leutnant ernannt worden, und jetzt behauptet Jago dreist, Cassio habe Desdemona verführt. Ausgerechnet ein weißer Lendenschurz Othellos – durch den ersten Pas de deux zum Symbol der Liebe zwischen Desdemona und Othello avanciert – soll als Beweisstück herhalten. Jago hofft, dass Othello Cassio absetzt.
Doch er hat nicht mit der Seelenlage und der entsprechenden Reaktion des „Südländers“ gerechnet: Othello fällt zwar auf Jagos Falle herein, er steht ohnehin stark unter Druck, als Außenseiter und sozialer Aufsteiger in dieser „weißen“ Gesellschaft, er ist anfällig für eine Nervenkrise. Aber sein Zorn richtet sich in erster Linie gegen die geliebte Frau, nicht gegen den vermeintlichen Rivalen Cassio. Was Jago nicht wusste: Othello fühlt sich regelrecht verfolgt von den Ausgeburten seiner Fantasie – „La Primavera“ und „Der wilde Krieger“ – und er scheint sein eigentliches Ich dabei schon seit längerem zu verlieren.
Die Primavera – eine unsichtbare, triebhaft-unbewusste Macht verkörpernd – treibt Desdemona dem schon verrückt gewordenen Othello zu. Desdemona bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt, dass er nur äußerlich ruhig ist, und sie versucht, sich gleich wieder von ihm loszueisen, kaum, dass er sie berührte. Doch er hält sie am Handgelenk fest, unerbittlich, wie im Klammergriff. Die beiden kämpfen etliche Takte lang, sie will sich losreißen, er lässt sie nicht gehen. Eine gebrochene Streichermelodie in fast quietschenden Höhen untermalt den Tanz.
Dann lässt er sie los, Desdemona bleibt stehen, weil sie glaubt, es handle sich um ein Versöhnungsangebot. Othello beginnt seinen letzten, tödlichen Tanz mit ihr: Es sind Vorwürfe und Anwürfe, es ist Besitzergreifung und Vereinnahmung, die er ausdrückt. Und es scheint, als sei sein Morden ein einziger langsamer Koitus mit ihr, in dessen Verlauf sie sich immer weniger gegen seine Übermacht zur Wehr setzen kann.
Höhepunkte erreicht die Choreographie, als Jago sie über den Boden zieht, um sie später auf seinen Rücken zu laden. Kopfüber baumelt Desdemona an ihm herab, wie ein Beutetier, was ihm jedoch noch nicht genügt. Als er sie umbringt, steht sie vor ihm auf ihren Spitzenschuhen, und er wiegt sie, ähnlich wie im „Mirror-in-Mirror“-Pas de deux. Dann drückt er zu, die Hände an ihrem Hals – und sie fällt tot herab. Es ist ein Mord anstelle eines Kusses. Er geht ebenfalls zu Boden, vergewissert sich ihres Todes, kann ihn zugleich nicht fassen, er packt sie und kullert im Liegen, Kopf an Kopf, mit ihr nach hinten über die Bühne. Umsonst. Sie wird nicht wieder lebendig.
Dann sitzt er da, als hätten ihn alle Geister verlassen: in einem lässigen Herrenspagat, die Hände tatenlos mit den Handrücken am Boden vor sich. Als wolle er sagen, dass nicht er es war, der die junge Frau umbrachte.
Gisela Sonnenburg
Über den Bösewicht Jago in John Neumeiers „Othello“:
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Über die Besetzung mit Anna Laudere und Carsten Jung in den Hauptrollen:
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