Das Mädchen Marie läuft frohgemut auf die Bühne, tänzelt im Belle-Époque-Interieur vor sich hin, an der modischen Zimmerpalme im Silbertrog vorbei. Marie erklimmt das Sofa, wackelt und reckt und streckt sich, um sich eine Porzellanfigur vom Nippesregal zu angeln. Sie spielt damit, tanzt unbeholfen, bestaunt das filigrane Dekor der zierlichen Statue. Dann wendet sie sich ihrer bezopften Puppe zu, einer altmodischen, mit schlackernden Beinen. Aber eigentlich fühlt sich Marie für das Puppenzeugs schon viel zu erwachsen. Sie träumt sehenden Auges davon, bereits eine Frau zu sein, sie haucht den Dingen um sie herum darum Seele ein. Ihre Fantasie verleiht ihr Flügel. Für diese Marie hier ist alles lebendig: das Sofa, die Porzellanfigur, die Puppe… Emilie Mazoń tanzt diese Rolle in John Neumeiers „Der Nussknacker“ beim Hamburg Ballett: erstmals, mit nur 19 Jahren, und das ist ungewöhnlich jung für die tragende Partie.
Dabei ist Marie tatsächlich noch jünger als Emilie, sie hat im Stück gerade erst ihren zwölften Geburtstag zu feiern. Allerdings sei angemerkt: Eine überzeugende Darstellung der Marie kommt seit letzter Saison auch von Alina Cojocaru, obwohl diese an sich oft den Eindruck macht, sie sei als Ballerina fast zuende gereift. Aber das Spiel, das Kostüm, der Tanz, die Darstellung – die Kunstmittel erlauben eine starke Verschiebung des Bühnenalters vor oder zurück.
Auch Emilie Mazoń tut gut daran, sich nicht nach dem Motto Eins zu Eins selbst auszustellen. Sie könnte das, weil sie ein außerordentlich zartes Persönchen ist und mit ein bisschen blass machendem Make-up glatt als Minderjährige durchgehen würde. Aber sie schauspielert, und sie tut das kräftigst, sie grimassiert sogar, wie es die Rolle im übrigen auch vorschreibt. Sie verzieht das Gesicht, macht eine betont moderne Jungmädchenvisage: immer ein bisschen erstaunt, aber auch hilflos-verwirrt vor Begeisterung.
Auch Emilies feingliedriger Körper zelebriert ritualhaft jenes Schwanken und Hinundhergerissensein, das für das Alter einer Zwölfjährigen so typisch ist. Einerseits glitzert und funkelt die Welt in ihren Augen, andererseits ist vieles neu und angsteinflößend. Vor allem der eigene Körper, der sich in den ersten Pubertätsjahren ständig verändert und der dem jungen Mädel jetzt nachgerade monströs vorkommt. Emilie spielt das alles, mit wenigen Gesten und Bewegungen erschafft sie das Stimmungsbild dieser Marie. Sie schaut an sich herab, als sehe sie unter ihrem lustigen Rock sich eine Katastrophe anbahnen. Und das ist gut so: Hier balanciert sich eine künftige Primaballerina vor aller Augen in eine neue Position.
Einst hat Emilies deutsch-amerikanische Mutter Gigi Hyatt die doppelbödige Rolle der Marie in Hamburg getanzt – sie und Emilies polnischstämmiger Vater Janusz Mazoń haben ihr Kind in den USA zur Profi-Tänzerin ausgebildet. In der tiefsten Provinz übrigens, in der Schule des Georgia Ballet in Marietta – kein Mensch fliegt je dorthin, um Ballett anzusehen, von Europa und New York aus jedenfalls nicht. Es ist den Engpässen guter Stellen auf dem internationalen Ballettmarkt geschuldet, dass tänzerische und pädagogische Talente wie Hyatt und Janusz Mazoń jenseits der großen US-Compagnien fast im Stillen ihr Glück machen mussten. Nach ihren beendeten Karrieren als Bühnentänzer bei John Neumeier in Hamburg, wo sie in den 80er und 90er Jahren das Publikum begeisterten.
Es ist natürlich selten, dass eine so junge Ballerina wie Emilie Mazoń solche Chancen wie die Rolle der Marie erhält. Natürlich kann man lästern, das Mädel habe nun mal Beziehungen und verdanke alles nur ihrer Herkunft. Aber dann übersieht man, dass hier ein außerordentliches Talent, vereint mit außerordentlichem Fleiß sowie einer ebensolchen Tanzwut herangewachsen ist.
Tanzwut, das ist ein Begriff aus dem ausgehenden Mittelalter, er bezeichnet das damals massenhaft verbreitete Phänomen, wie besessen bis zum Zusammenbruch zu tanzen. Das ist hier, auf Emilies Marie angewendet, natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Aber da ist so ein besonders starker Wille zur Bühne bei ihr zu bemerken, so eine fast trotzige, ausnahmslose Hinwendung zu dem, was sie gerade tut, wenn sie tanzt, ein Antrieb, der nicht nur von innen kommt, sondern tatsächlich irgendwie übermenschlich wirkt – da passt das Wort Tanzwut schon ganz gut.
Leicht und graziös ist Emilie Mazońs Stil, sie flirrt, wo andere zu keuchen scheinen, und sie leistet bereits virtuose Schrittkombinationen, als wären die ein tänzerischer Klacks. Natürlich, alles sitzt noch nicht zu hundert Prozent an seinem Platz, an den kleinteiligen Sprüngen und Hüpfern und auch beim vollständigen Nachstrecken, wenn beide Beine hoch durch die Luft wirbeln, wird sie in den nächsten Jahren noch zu arbeiten haben. Aber so etwas anzumerken, ist wirklich erbsenzählerisch betrachtet und kann als leiser Vorwurf gelegentlich sogar Ballerinen von Welt betreffen, wenn deren Tagesform mal nicht ganz auf der Höhe ist. Alles in allem ist Emilie Mazoń trotz ihrer Jugend bereits eine eigenständige Ballerina mit großer Wirkung!
Darstellerisch zeigt sie hier sogar ein ganz neues Muster, etwas, das man weder bei den diversen Marien im „Nussknacker“ noch von Emilie in anderen Rollen so gesehen hat. Immerhin hat sie als La Primavera in „Othello“ und als Bathilde in „Giselle“ (beide Stücke in Neumeiers Choreografien) schon gezeigt, dass sie an Wandlungsfähigkeit viel drauf hat. Vor allem La Primavera, diese teuflisch-süße Fantasiegestalt im Flattergewand, die Othello den Verstand verwirrt, gerät in Mazońs Interpretation zu einer Hauptfigur, die heimlich das ganze Stück zu manipulieren vermag. Das muss man erstmal können.
Wer sie in den letzten eineinhalb Jahren mehrmals gesehen hat, bemerkt die zügige Entwicklung, die Emilie genommen hat. Als sie 2013 nach einigen Wochen Crash-Unterricht in John Neumeiers Ballettschule ins Ensemble eintrat, war sie noch nicht ganz glaubwürdig beim Auftreten auf der Bühne. Sie drängelte sich manchmal unbotmäßig vor, wirkte mitunter fahrig statt geschmeidig, und auch ihr Vorab-Debüt als Marie mit einem „Nussknacker“-Auszug in einer „Ballett-Werkstatt“ ließ Mazońs heutige Qualitäten nur erahnen. Aber: Diese Ahnung war eben da, und sie war hochkarätig begründet und keinesfalls zu übersehen.
Heute lässt sie sich heben und lenken, als sei sie für all die schwierigen Pas de deux wie gemacht. Soli tanzt sie wie aus einem Guss, Interaktionen mit den anderen Tänzern führt sie mit Spaß und Neugierde aus. Vor allem aber hat sie keine Angst, für den Sinn ihrer Rolle auch mal tolpatschig oder unelegant – sprich: ultrakomisch – zu wirken.
Die kleine Marie hat nämlich im ersten Teil des Stücks viele Posen und Tanzschritte, in denen sie als niedliche Versagerin dastehen muss. So lässt sie sich von ihrem erwachsenen Schwarm Günther (dem Verlobten ihrer Schwester) hoch empor heben, um dann wie ein nasser Sack hilflos und zappelnd in der Luft zu hängen. Oder sie hofft auf seine Aufmerksamkeit, während er zur Freude aller nach etlichen Tours en l’air sicher auf einem Kavaliersknie landet. Alexandr Trusch tanzt die „Quasi-Prinzenrolle“ des Günther sternenklar, himmlisch-anmutig und mit einem gesegneten, absolut bezaubernden inneren Licht.
Und Marie übt weiter zu tanzen, schließlich hat sie doch Spitzenschuhe zum Geburtstag bekommen. Sie probiert es mit dem genial-spinnerten Ballettmeister Drosselmeier (furios-tiefgründig-virtuos: Otto Bubeníček), der ihr diverse Sprünge beizubringen sucht – an denen sie glatt verzweifeln könnte, wenn dafür nur genügend Takte in der mitreißenden Musik von Peter I. Tschaikowski vorhanden wären. Es ist von kunterbunter Heiterkeit, diese ausgestellte Bemühtheit, diese Freude am Lernen anzusehen.
SIE HAT BEREITS DIE FÜSSE EINER SUPRABALLERINA
Nur Emilies Füße verraten den Kennern, dass dieses Mädchen schon lange hart an sich und im Ballett arbeitet: mit formvollendet hohem Spann berückt Emilie Mazoń die Anhänger des unvergänglichen, klassischen Spitzenschuhfußideals. Ihre gebrauchten Bühnenschuhe werden, mit einer Signatur der Tänzerin versehen, bei Ebay mal Höchstpreise erzielen.
Zu Beginn des zweiten Teils versucht diese brillante kleine Ballerina jedoch rollengemäß erstmal, von der Bühne auszubüchsen: Unheimlich erscheinen ihr das brennend starke Bühnenlicht und auch das schwarze Nichts, in das sie, geblendet von den Scheinwerfern, plötzlich sieht, nachdem sie mit Drosselmeier vom Orchestergraben aus die Bühne erklommen hat. Der Ausflug in die Theaterkulissen scheint zunächst fast nach hinten abzugehen. So kindlich wie Emilies Lächeln als Marie ist, so naiv ist hier ihre gebückte Haltung, in der sie mit animalischer Schnelligkeit versucht, dem Ballettmeister und seiner für sie noch fremden Theaterwelt zu entkommen. Umsonst – der Erwachsene ist noch schneller und viel stärker.
Wie oft machen Kinder (und gerade weibliche) diese lehrreiche Erfahrung! Emilie zeigt mit einer ausdrucksstarken Gestik, dass das Erwachsenwerden auch mit Ängsten verbunden ist, die sich dann zum Glück wundersam leicht auch auflösen lassen. Dann entsteht ein Ausdruck von Glück, der scheinbar Nichtwissen und Alleskönnen in sich vereint.
Mongoloide haben oft diese Art von Grazie, die sich ohne Umschweife schlicht und effektiv im Sinne von „schnörkellos“ ausdrückt. Es kann sein, dass hier bei der Probenarbeit entsprechende Vorbilder benutzt wurden; Robert Wilson, der große amerikanische Theaterregisseur, hat seine stilisierten Bühnenikonen ebenfalls aus der intensiven Arbeit mit sich ziemlich stereotyp bewegenden geistig Gehandicapten abgeleitet.
Emilie Mazoń setzt dieser hier eher neckischen Einfalt der Bewegungen in der weiteren Rollengestaltung etliche brillant-schwerelose Figuren entgegen. Ihre Marie zeigt damit, wie schön sie als erwachsene Frau einmal werden wird. Und es ist zwar einerseits schade, dass Maries Wallfahrt ins Theater unter der Ägide von Ballettmeister Drosselmeier nur ein Traum ist. Aber andererseits ist es sogar gut, dass es sich um einen Traum handelt! Denn Träume, an die man glaubt, sind wegweisend – und sie können, wenn auch selten ohne hohen Arbeitseinsatz, durchaus Wirklichkeit werden. Das macht verdammt viel Mut.
Im Fall von Emilie Mazoń ist tatsächlich schon ein großer Traum wahr geworden: Sie träumte bereits in den USA davon, auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zu tanzen. Jetzt muss sie nur noch erwachsen werden, um hier weitere tragende Partien in Neumeier-Balletten zu übernehmen – nach ihrem „Nussknacker“-Debüt dürfte niemand mehr daran Zweifel haben, dass sie zu einer ganz großen, tragisch wie komisch begabten, durchaus auch modern interpretierenden Tänzerin heranwächst. Herzlichen Glückwunsch ihr – und allen, die sie als Marie sehen dürfen!
Gisela Sonnenburg
Mehr über Neumeiers „Nussknacker“: www.ballett-journal.de/der-grandiose-erneuerer/
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