Der Sieg der Transzendenz über die Begierde John Neumeier schuf mit „Le Chant de la Terre“ an der Pariser Opéra ein oszillierendes Spätwerk  

Neumeier in Paris

„Le Chant de la Terre“: eine Sphäre zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, mit oszillierender Schönheit in Paris kreiert, rechts oben im Bild mit einem bekannten aufgepolsterten Hamburger Weiblichkeitssymbol – alles von John Neumeier designt. Foto: Ann Ray

Sie stehen, gehen, biegen sich im Leben mit traumwandlerischer Sicherheit, sie wirken mitunter entrückt, dennoch aber in Beziehungen involviert – und sie versuchen, das Irdische im Guten hinter sich zu lassen. Diesen Eindruck machen die Figuren, die John Neumeier in seiner jüngsten abendfüllenden Kreation zeigt, die mit dem Ballett der Pariser Opéra im Palais Garnier uraufgeführt wurde. Mathieu Ganio, Karl Paquette und Laetitia Pujol tanzen die Hauptrollen in der A-Besetzung: zeitlos schön, aber auch irreversibel transzendent. „Le Chant de la Terre“ („Das Lied von der Erde“) nutzt die gleichnamige Musik von Gustav Mahler, die der österreichische Komponist 1907 / 08 schuf. Die Arbeit knüpft an Neumeiers umfangreiches Mahler-Werk an, vor allem an sein 2011 in Hamburg kreiertes Ballett „Purgatorio“, welches die Nöte Gustav Mahlers in seiner Ehe mit Alma Schindler (später: Mahler-Werfel) illustriert. Hier wie dort wird Mahler als herzkranker, schwächelnder, hochgradig leidender, aber auch mit Liebe, Verständnis und Tapferkeit kämpfender Mann mit Künstlerseele gezeigt.

In beiden Fällen, jetzt in Paris wie damals in Hamburg, schuf Neumeier auch das Bühnenbild, und auch hier gibt es Parallelen: ein stilisierter grüner Hügel, also eine „Rasenschräge“, zeigt den locus amoenus an, den Ort der fleischlichen Liebe und Begierde, der im „Chant de la Terre“ zugleich ein Ort des Verstehens ist.

Mahler schwul in Paris

Die latente Homosexualität ist auch ein Thema: Der grüne Hügel, der sich ähnlich, aber auch anders in Neumeiers „Purgatorio“ findet, steht in seinem „Chant de la Terre“ für den schwulen locus amoenus. Foto: Ann Ray

Der Tod, in Paris getanzt von Pujol, ist im „Chant“ dezidiert weiblich – damit entspricht Neumeier einer großen kulturellen französischen Tradition. Diese findet sich nicht zuletzt in Roland Petits Zwei-Personen-Ballett „Le jeune Homme et la Mort“ manifestiert. Bei Neumeier ist der Tod nun aber nicht so eindeutig perfide, raffiniert, bösartig. Vielmehr sind Geburt und Tod miteinander verbunden, in nahezu asiatischer Weisheit. Das klang schon in früheren Werken Neumeiers an, aber jetzt treibt er es auf die Spitze. Er vermittelt uns: Der Tod ist unausweichlich, also stellen wir uns besser gut mit ihm – und das tut Neumeier nicht nur mit den Mitteln des Balletts, sondern auch mit den Mitteln der biografischen Illustration, die in diesem Fall mit radikaler Identifizierung als Impetus den Tonsetzer Gustav Mahler betrifft. In früheren Balletten hatte der Tod bei Neumeier übrigens schon eine ähnliche philosophische Notwendigkeit. Aber man war nicht gezwungen, so derart mitzugehen.

Und während in „Purgatorio“ noch die chronische Fremdgeherei seiner Frau Alma den Komponisten Mahler in den Herztod trieb (wobei sie ihm bei selbigem auf der Bühne liebend beistand), wirken im „Chant“ viele Aspekte zusammen, um Mahler unter die Toten zu bringen.

Das frühe Ableben einer geliebten Tochter an Diphterie, ein Wiener Skandal um Mahlers Person, der allgemeine Antisemitismus seiner Zeit, aber auch die typische Einsamkeit des Künstlerdaseins sowie sogar die eigene latente Homosexualität machen ihm hier zu schaffen.

Chant de la Terre

Der Tod umarmt, der Tod nimmt Leben – im „Chant de la Terre“ von John Neumeier in Paris. Foto: Ann Ray

Das Alter läutert, das Alter umarmt, das Alter nimmt Leben, das Alter wird der Tod. In diesem spannungsgeladenen Magnetfeld bewegt sich „Le Chant de la Terre“. Häufige musiklose Tanzpassagen erinnern sowohl an frühe Neumeier-Mahler-Stücke wie seine fulminante „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von 1975 als auch an sein vorzuletzt in Hamburg entstandenes Mahler-Stück, „Um Mitternacht“ von 2013.

Seit Antony Tudor 1937 begann, zu Mahler-Musiken Ballette zu schöpfen, hat die Musik des vom Katholizismus faszinierten gebürtigen Juden Mahler die Gemüter der Choreografen bewegt. Ebenfalls Tudor schuf – 1948 – mit „The Farewell“ das erste bekannte Ballett zur Musik des „Liedes von der Erde“, allerdings nur zu dessen letztem Satz. Kenneth MacMillan machte dann 1965 von Stuttgart aus die „Ersatz-Sinfonie“ Mahlers als Tanzstück weltberühmt; auch da gibt es zwei Männer und eine Frau im Widerspiel in der szenischen Umsetzung. Neumeier bedient also eine Vielzahl von Traditionen, und dieser Verantwortung kann niemand in dem Maße gewachsen sein wie er. Bravourös.
Gisela Sonnenburg

Ab 4.12.2016 beim Hamburg Ballett (www.hamburgballett.de)

Hamburger Premierenkritik bitte hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-lied-von-der-erde/

www.operadeparis.fr

Und hier gibt es mehr zu MacMillans Mahler-Arbeit in Stuttgart:

www.ballett-journal.de/euphorische-erhabenheit/

ballett journal