Wer weiß, der weiß – und leidet Großartig: Claus Peymann liest im Foyer vom Berliner Ensemble aus „Holzfällen“ von Thomas Bernhard

Peymann liest Holzfällen von Bernhard

Märchenstunde für Erwachsene: Claus Peymann liest aus „Holzfällen. Eine Erregung“ von Thomas Bernhard. Foto von 2015: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Wer unter der Heuchelei, der Lüge, der Verstellung, der Kleingeistigkeit und der Unzulänglichkeit seiner Mitmenschen besonders leidet, sollte Schriftsteller werden. Hass und Liebe liegen dann ganz eng zusammen, wenn ein Meisterpoet wie Thomas Bernhard (1931 – 1989) das Wort ergreift. Bernhards Dramen leben außerdem von etwaiger schauspielerischer Feinkunst, der er mit drastisch-hinterfotzig formulierten Einsichten Vorschub leistet. Seine Romane atmen zudem den mal witzigen, mal schaurigen Impetus des Immerbesserwissens. Liest man sie vor, sind sie sofort ein Stück Dramatik – ohnehin sind Monologe, wie in „Der Theatermacher“, Bernhards Spezialität. Claus Peymann (Jahrgang 1937), scheidender Intendant vom Berliner Ensemble und zuvor der vom Wiener Burgtheater, las am letzten Samstag im Foyer des Berliner Ensembles (BE) aus Bernhards Prosastück „Holzfällen. Eine Erregung“. Als Schlüsselerzählung, als Schlüsselerregung, war sie1984 erschienen – und praktisch sofort zunächst verboten, dann aber wieder erlaubt worden.

Dabei muss man sich fragen: Wieso hat eigentlich noch nie jemand ein Ballett aus einem Werk Bernhards gemacht? Meiner Kenntnis nach steht das noch aus. Dabei ist so vieles darin als Vorlage für einen anzureichernden satirischen Gedankenstrom, den man ausgiebig zu vertanzen hat, geeignet!

Die Publikationsgeschichte des Werks „Holzfällen. Eine Erregung“ ist derweil ebenfalls höchst spannend. Es handelt sich um einen Skandal und um eine Legende dazu.

Kaum, dass es – auf dem Höhepunkt von Bernhards Ruhm – in den Buchläden lag, beantragte der darin leicht zu erkennende, als trunksüchtig und hassenswert geschilderte stinkreiche Literaturmäzen und Komponist Gerhard Lampersberg eine Einstweilige Verfügung, die er dank einer jungen Wiener Richterin auch bekam. Das Buch verschwand in Österreich umgehend aus dem Verkauf – Buchhändler etwa in München, relativ grenznah an Österreich gelegen, feixten sich Eins: In Deutschland durfte der Band weiterhin verkauft werden.

Im weiteren Verlauf des juristischen Geschehens einigten sich dann auch Kläger und Beklagter, zumal sie sich aus den 50er Jahren sehr gut kannten – und einander Einiges zu verdanken zu hatten. Das Buch ging also in Ösiland auch wieder in den freien Handel – und wurde ein Bestseller, unbestritten in seiner hohen Qualität.

Man könnte im Rückblick glauben, das Ganze sei ein raffiniert geplanter Coup von alten Freunden, dem Dichter und dem Mäzen, gewesen, damit beide mit einem Schlag ihren Ruhm nochmals steigern können.

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Aber Peymann, der den Dichter sehr gut kannte und selbst im Buch als damals bald kommender Burgtheater richtig bezeichnet wird, beteuert: Das zeitweilige Buchverbot habe Thomas Bernhard sehr zu schaffen gemacht, er habe deswegen kräftig gelitten. Aber vielleicht ist Peymann auch ein Teil des Komplotts damals gewesen?

Zuzutrauen wäre es ihm.

Peymann machte Bernhard mit seinen Uraufführungen, unter anderem mit dem „Theatermacher“ (uraufgeführt 1985 bei den Salzburger Festspielen) regelmäßig als Dramatiker immer und immer wieder berühmt und berüchtigt; umgekehrt profitierte Peymann von den profunden, wortmächtigen Textvorlagen seines Arbeits- und also auch Geschäftsfreundes Thomas Bernhard.

Zudem ist von der Vermittlung eines unbekannten Dritten die Rede, wenn es um die öffentlich nicht näher bezeichnete Einigung zwischen Lampersberg und Bernhard geht. War das Peymann? War das Ganze also ein abgekartetes Spiel, von dem auch Lampersberg insofern profitierte, als er mächtig viel PR dadurch hatte? Er ist als Komponist nicht eben so bekannt wie Pierre Boulez

Wir werden es vorerst nicht erfahren, dürfen aber den Text von Bernhard ausgiebig inhalieren.

Im BE tänzelt Peymann mit einer kleinen Kaffeetasse in der Hand herein, darauf hinweisend, dass samstags um halb sechs am frühen Abend für einen Theatermann wie ihn, also vor allem für ihn persönlich, eigentlich keine gute Zeit sei (das Theater beginnt ja zumeist deutlich später).

Außerdem läuft da irgendein Fußballspiel im Fernsehen, das der passionierte Sportinteressent Peymann, der im übrigen auch den Brutalosport Boxen gern ansieht, sonst zuende geguckt hätte. Aber er muss an diesem Samstag arbeiten, er hat diesen Termin, den er ja selbst als sein eigener Boss am Theater anberaumt hat.

Nachts in einem Zug, der voller besoffener Hooligans ist, von Hamburg nach Berlin zu fahren, hat er als Erfahrung offenbar noch nicht hinter sich. Vielleicht würde er dann seine Freude am Kommerzsport noch mal überdenken?

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Peymann kommt dann aber rasch zur Literatur, stellt das Buch vor, eine theaterübliches Scriptbuch in der Hand: „Holzfällen. Eine Erregung“ – und beim Wort der „Erregung“ zupft er ein weißes Laken von einem wie ein Denkmal auf einem Podest bereit stehenden tiefroten Ohrensessel.

In den lässt sich der Theatermacher fallen, um konzentriert, den Text stimmlich illustrierend und auch gestisch begleitend, aus dem Buch vorzutragen.

Kontinuierlich sucht Peymann dabei den Blickkontakt mit dem Publikum, das vergnügt-wissbegierig zurück schaut.

Aus der Ich-Perspektive berichtet also der Erzähler, wie er in Wien auf der Einkaufsmeile „Am Graben“ von dem Ehepaar Auersberger angesprochen und zu einem „künstlerischen“ Abendessen zu Ehren eines Burgschauspielers eingeladen wird.

Er bereut bald, diese Einladung angenommen zu haben – pikante Details schälen sich erst Stück für Stück aus diesem vermeintlichen Roman (der wohl faktisch eher eine Erzählung ist) heraus.

Da brachte sich eine gemeinsame Freundin des Erzählers und der anderen Gäste erst kürzlich mit dem Strick um. Ist der Abend ein verkapptes Requiem für diese Unglückliche?

Da säuft der Gastgeber mal wieder, bis er kaum noch kenntlich ist. Oder kennt man ihn gar nicht anders?

Da hat seine Gattin einen steten hysterischen Unterton in der Stimme, die zudem brüchig und unschön ist – obwohl sie doch früher einmal klassische Sängerin war.

Ach, und die anderen „künstlerischen“ Gäste! In Bernhards Augen sind sie allesamt zu Kleinbürgern mutiert, geistig beschnitten und im eigenen Sud des Alltags und der Eitelkeit zu einer bösartigen, grauen Masse verkocht.

Nur der Burgschauspieler, der statt um halb zwölf erst um halb eins nachts erscheint, gibt Rätsel auf. Das ganze Souper begann ja erst um 22.30 Uhr, während der Schauspieler in Gerhart Hauptmanns „Die Wildente“ bis 23 Uhr auf der Bühne stand.

Aber inmitten all der Unsympathen scheint der sich gern aufblasende, um Aufmerksamkeit ringende Bühnenstar gar nicht mal lächerlich. Sondern verständlich und, zur Überraschung des Erzählers, fast menschlich.

So lobpreist der Burgschauspieler als Höhepunkt des Abends die Natur – und bemerkt gar nicht, dass er deren Vernichtung, also das massenhafte Holzfällen weltweit, gleich mit lobt: als vermeintlichen Teil eines grandiosen Idylls, dem der Mensch ursprünglich zu entstammen scheint.

Des Schauspielers Ausruf ist die Erregung pur:

„Wald! Hochwald! Holzfällen!“

Nur diese drei Vokabeln braucht Bernhard, um die ganze absurde Utopie des Burgschauspielers – der übrigens als einzige Figur des Prosastücks hier kein reales Vorbild hat – zu illustrieren.

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Peymann genießt die Lustmomente des Märchenerzählens sichtlich…

Er darf hier mitleidlos sein, aber auch unendlich wehleidig. Er darf hier schmunzeln, aber auch grantelig sein. Er darf sich über die anderen stellen und doch ein Teil von ihnen sein.

Der Erzähler Thomas Bernhard, auch im Buch selbstredend von Beruf Schriftsteller, macht’s genauso.

Schließlich hat all das Leiden unter dem perfiden Abend, der perfiden Nacht, für den wortgewandten Gast aber auch noch einen Sinn: Er stürmt, nachdem er selbst höchst verlogen für das inspirierende Mahl dankte, morgens um 4 Uhr durch das nächtlich stille Wien – und er nimmt dabei erstaunt zur Kenntnis, dass sein Hass auf diese seine Stadt und ihre dubiose Bevölkerung zeitweilig umschlägt in eine unbändige Liebe zu den Menschen. Ach!

„Meine Menschen!“

Peymann liest Holzfällen von Bernhard

Noch ein Blick ins Berliner Ensemble, ins dortige Foyer. Claus Peymann liest aus „Holzfällen. Eine Erregung“ von Thomas Bernhard. Foto von 2015: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Ja, seine Menschen, sein Wien, mehr hat er nicht, sie sind sein Imperium, sein Universum, und indem er sich intellektuell über sie erhebt, ist er ihr Herrscher. Und natürlich dient dieses Gefühl der sinnlich-exaltierten Aufregung nur einem Ziel: dem Schreiben.

Als hätte er es nicht von Anfang an geplant, wird der Erzähler also aufschreiben, was er sah, hörte, dachte und fühlte – und zwar sofort, „bevor es zu spät ist“.

Denn die Liebe zu den Menschen, nun ja, sie ist – aus gutem Grund – meistens eines der flüchtigsten Gefühle überhaupt.

Und genau das ist der Grund, warum dieses Buch, eine heimliche Ode an die Zunft und Kunst des Schreibens, ein Klassiker ist und auch bleiben wird und gerade heute brandaktuell ist.

Heute, da zum Beispiel das Berliner Ensemble eine Ära – nämlich die von Claus Peymann – ohne Alternative zu beenden im Begriff ist. (Auch interessant dazu: www.ballett-journal.de/berliner-ensemble-peymann-kleist-homburg/ und www.ballett-journal.de/berliner-ensemble-die-unschuldigen/

Applaus – alternativlos!
Gisela Sonnenburg

www.berliner-ensemble.de

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