Ende des Waffenstillstands Beim Bayerischen Staatsballett wird bald wieder geprobt und getanzt: Opernintendant Nikolaus Bachler verkündet trotz Corona stolz die Wiederaufnahme seines Betriebs

Prisca Zeisel tanzte – der Situation entsprechend leicht verkrampft – bei einem Online-Montagskonzert der Bayerischen Staatsoper bereits vor leerem Haus in John Neumeiers „Der Nussknacker“. Foto: Wilfried Hösl

Der Waffenstillstand ist vorbei. Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper in München, liefert sich wieder heiße Gefechte mit der Vernunft. Denn vernünftig wäre es, die Füße ruhig zu halten und während der Corona-Krise nicht zu drängeln und nicht zu pushen, sondern abzuwarten, wann Proben für eine Premiere wieder Sinn machen. Doch „KlausBachler kann nicht warten. Auf seine Ungeduld ist er wohl noch stolz. Und so erhielten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter letzte Woche eine höchst fragwürdige E-Mail. Deren Inhalt: Ab Montag, den 20. April – also ab morgen – werde schrittweise der Arbeitsbetrieb in der Oper, also im Nationaltheater, wieder aufgenommen. Dabei hatten Bachler und sein Ballettchef Igor Zelensky gerade erst der Presse mitgeteilt, wie schmerzhaft sie das durch Corona festzustellende  vorzeitige Ende der laufenden Spielzeit treffe.

Doch das Jammern ist wohl Schnee von gestern im frühlingshaften München.

Offenbar wird dort um jeden Beifall aus der Ecke der Rekordverwöhnten gebuhlt, als ginge es darum, eine Medaille für nassforsches Vorpreschen zu gewinnen.

Bachler (69) und Zelensky (50) hätten gute Karten, eine solche einzuheimsen.

Igor Zelensky, Ballettdirektor vom Bayerischen Staatsballett, am 15. März 2020 bei der digitalen Vorstellung der damals geplanten kommenden Spielzeit. Videostill: Gisela Sonnenburg

Während andere Opernhäuser sich in Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft üben und alles daran setzen, um die Infektionsketten von Covid-19, dem Corona-Virus, auch bei dessen Wirken in Anonymität zu unterbrechen, zählt bei Bachler und Zelensky nur die Sicherheit auf kurzes Augenmaß. Dabei geht es vor allem um die Gesundheit der eigenen Leute.

Seitenlang belehrt Bachler seine Untergebenen in einem Anhang seiner Mail über Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensregeln. Darin mahnt er, man solle „nie krank zur Arbeit!“ erscheinen.

Dass Covid-19 auch schon vor dem Auftreten von Symptomen übertragbar sein soll, verdrängt der gelernte Schauspieler offenbar.

Bachler, der vor seiner Karriere als Kulturmanager im Sprechtheater auf der Bühne stand, bemüht sich zwar um Korrektheit.

Aber leider beinhaltet das bei ihm anscheinend auch ein Art Verweigerung notwendiger Einsichten.

Auf diese wartet so mancher Opern- und Ballettfan seit Wochen – umsonst.

Opernintendant Nikolaus Bachler bei der digitalen Vorstellung der Spielzeit 20/21 der Bayerischen Staatsoper. Videostill: Gisela Sonnenburg

Zur Erinnerung: Vor knapp drei Wochen war die Münchner Polizei im Ballettprobenhaus der Oper erschienen und hatte dem munteren Trainingstreiben dort ein Ende gesetzt (wie das  Ballett-Journal berichtete). Obwohl daraufhin alle Trainings-, Proben- und Aufführungsaktivitäten von Oper und Ballett vor Ort subito eingestellt worden waren, stritten Bachler und seine Leute einen Zusammenhang mit der Polizeirazzia hartnäckig ab.

Dabei gab es sogar Abonnementkündigungen, weil nicht jeder Freund der Kunst einen Betrieb unterstützen möchte, der – zumindest von außen betrachtet – rücksichtslos die eigenen Ambitionen über das Gemeinwohl in puncto Seuchenschutz stellt.

Und auch Bernd Sibler, der fürs Opernhaus zuständige Minister für Wissenschaft und Kunst, hat damals flugs eine Distanzstrecke zwischen sich und Nikolaus Bachler festgelegt.

Aber ab kommenden Montag heißt es bei Bachler wieder: Für Premieren wie die umstrittene Uraufführung „7 Deaths of Maria Callas“ darf geprobt werden, und „schrittweise“ soll auch das Ballett-Training wieder eingeführt werden. Ob das „schrittweise“ hier nun wörtlich zu nehmen ist?

Und was ist mit den Umkleide- und Duschräumen? Macht das Corona-Virus vor ihnen automatisch halt?

Hat Igor Zelensky kleine rote Stopp-Schilder für Viren aufgestellt? Und halten sich die Erreger wegen seiner Autorität als Ballettdirektor auch brav daran?

Immerhin sollen im ganzen Haus verstärkt Desinfektionsmittel bereit gestellt werden. Wie beruhigend.

Auf freiwilliger Basis sollen zudem wieder „Montagskonzerte und ähnliche Projekte“ für Live-Streams im Internet durchgeführt werden, um das Publikum bei der Stange zu halten: von Sängern und Musikern und auch von Balletttänzern.

Szene aus einem Montagskonzert der Bayerischen Staatsoper vor leeren Rängen: A. Zaharia und F. Cerroni bei der wohl merkwürdigsten Form ihrer Arbeit. Foto: Wilfried Hösl

Dass Kunst ganz andere Aufgaben hat, als das Publikum auf Biegen und Brechen irgendwie zu unterhalten, ist ausgerechnet dem früher für die Verpflichtung von anspruchsvollen Regisseuren bekannten Bachler im Eifer des Gefechts offenkundig entfallen.

Aber wie steht es mit den Inhalten, die von Bachlers neuen „Projekten“ vermittelt werden sollen? Um Gemeinsinn, Geduld und Tapferkeit – durchaus Tugenden, die in vielen Opern eine Rolle spielen – kann es darin eigentlich nicht gehen.

Doch die Werkstätten sollen schon mal wieder produzieren, für Aufführungen, von denen niemand weiß, wann sie kommen werden.

Außerdem sollen ab Montag die Bühne für Bauproben verplant und die Backstage-Räume im Nationaltheater für Orchesterproben sowie auch für Coachings mit Korrepetitoren vorgesehen werden. Bald wird es dort also so fleißig wie in einem Bienenstock zugehen. Gesummt wird vermutlich mit Mundschutz – was von den Opernsängern bei ihren Arien wohl eher nicht zu verlangen ist. Oder doch?

Mozart mit Maske?

Die Absurdität solcher Vorgänge in Zeiten, in denen noch nicht einmal klar ist, ob das Opernhaus noch dieses Kalenderjahr überhaupt wieder für Besucher geöffnet werden kann, liegt auf der Hand.

Das Ganze hat was von Beschäftigungstherapie – eher als von zielgerichteter Kunstausübung.

Deutlich zeitgemäßer wären Videoclips, die Musiker, Sänger und Tänzer bei heimischen Proben oder auch kleineren Auftritten in ihrem trauten Heim zeigen würden. Gerade der Sommer und die eine oder andere Gartensituation lassen hier viel künstlerischen Spielraum.

Man könnte auch schon mal überlegen, wie man neue Aufführungsformate für den irgendwann später wieder anlaufenden Betrieb erfindet. Es wird ja zunächst darum gehen, Social distancing und exzessive Hygienemaßnahmen einzuhalten.

Wie können Inszenierungen zum Beispiel die Heimarbeit von Künstlern einbinden, etwa mit Video oder Zooming, und wie kann man Opern und Ballette so präsentieren, dass sie niemanden gefährden?

Wer könnte das inszenieren, komponieren, choreografieren? Kann man „Aida“ als Kammeroper realisieren? Und „Coppélia“ als Kammerballett? Was sonst kann es geben?

Und soll man zunächst für die Vorstellungen nur ein Drittel der Karten verkaufen, um Infektionen zu vermeiden? Sollte das Orchester auf den ersten Rang verteilt werden und nur der Dirigent im Orchestergraben residieren, über zahlreiche Monitore?

Was ist machbar, sinnvoll, kontrollierbar und nebenbei auch noch schön?

Das sind die Fragen der Zeit im Opern- und Ballettbetrieb. Es geht nämlich nicht um einen Start von Null auf Hundert mit ganz normalen Aufführungen.

Für hochtrabende Inszenierungen nach altem Muster weht momentan kaum ein zeitgeistiges Lüftchen.

Herkömmliche Operninszenierungen vor vollem Haus gehören vorerst der Vergangenheit an: Als Video on demand haben sie jedoch ihre Berechtigung, und es ist lobenswert, dass auch die Bayerische Staatsoper diesen Service anbietet. Faksimile von staatsoper.de: Gisela Sonnenburg

Gefragt sind spielerische, fantasievolle und humoristische Wege, mit der gesellschaftlichen Gesundheitskrise und ihren Folgen umzugehen.

Aber auch Mitgefühl mit den Erkrankten und ihren Angehörigen könnte sich durch konzertierte Online-Aktionen aus den heimischen Exil-Enklaven eindringlich übermitteln.

Der Vernunft und mit ihr auch der Innovation hat Nikolaus Bachler jedoch wenn auch keine Mundschutzmaske, so wohl doch einen Maulkorb verordnet. Ihr Votum findet nicht statt oder wird überhört. Für ihn zählt nur, möglichst bald wieder gewohnte Kost abliefern zu können.

Dabei guckt man viel lieber eine gute DVD, eine schöne Aufzeichnung, als diese billig gemachten, bruchstückhaften und konzeptlosen Not-Aufführungen, die Bachler bislang als Montagskonzerte servierte.

In Spanien spricht man davon, dass erst im Jahr 2022 Großveranstaltungen wie die in Opernhäusern wieder erlaubt sein werden. Für Deutschland gibt es keine solche düstere Prognose. Aber es gibt auch keine hoffnungsvollere. Ist es da wirklich angemessen, Dienst nach Plan zu schieben und so zu tun, als würde schon im Herbst 2020 einfach alles nachgeholt? Ist es das Risiko wert?

Schade, dass jene von Bachlers Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die über deutlich mehr gesunden Menschenverstand verfügen als er und die darum seinen Aktionismus kritisch sehen, nicht an seiner statt das Lenken der Geschicke des Opernhauses übernehmen dürfen.

Journalismus ist Arbeit, die nicht so leicht ist, wie man glauben könnte: Unterstützen Sie darum bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Kein anderes Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal. Honorieren Sie das! Und freuen Sie sich über all die umfassenden Beiträge, die Sie hier im Archiv im Ballett-Journal finden. Es sind rund 660 aus den letzten fünf Jahren, Sie entstanden ohne Fördergeld und ohne staatliche Unterstützung. Wir danken Ihnen von Herzen für eine Spende – auch und gerade in Corona-Zeiten!

So steht auch das Ballett als Ganzes gefühlt schutzlos vor Bachlers Feuerwall aus Ehrgeiz, da Ballettdirektor Igor Zelensky das Wort NEIN zu seinem Vertragspartner Bachler nicht zu kennen scheint.

Was nützt da die Betonung, dass die Teilnahmen an den Montagskonzerten freiwillig sein sollen? Wenn es ums Risiko geht, ist jede und jeder sein eigener Herr beim Bayerischen Staatsballett. Aber sonst?

Ansonsten zählt vor allem der Wunsch der Chefs nach Erfolg, Erfolg, Erfolg. Irgendwie ganz schön out, nicht nur in Corona-Zeiten. Wollten wir die nicht zum Anlass nehmen, um uns als Gesellschaft neu zu erfinden? Wäre das nicht ab sofort angesagt? Wäre das nicht Fortschritt?

Ein Wechsel an der Münchner Opernspitze und auch in der Ballettleitung käme vielen aufgeklärten Bayern nicht ungelegen.
Gisela Sonnenburg

www.staatsoper.de

ballett journal