Man möchte es ihnen freundlich zurufen, den drei Protagonisten aus der „Möwe“, die so unglücklich verliebt sind: „Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling!“ Hey, Nina, Kostja, Mascha! Was der Schlager von Siw Malmquist 1964 vor sich hin trällerte, kann man doch glattweg zur Lebensdevise erheben: „Schade um die Tränen in der Nacht!“ Lieber sollte man ins Ballett gehen und da ein bisschen heulen, das macht wenigstens Spaß. „Die Möwe“ von John Neumeier, nach dem Drama von Anton Tschechow 2002 entstanden, bietet dafür auch so richtig Gelegenheit. Tschechows Theaterfiguren würden hier sicher zustimmen! Obwohl das Stück offiziell eine Komödie ist und auch für jede Menge Lacher und Schmunzler sorgt. Letztendlich aber ist es tiefsinnig und auch tief traurig. Nach der fulminanten Wiederaufnahme des Balletts beim Hamburg Ballett (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-die-moewe-neumeier/) gibt es nun auch eine interessante Zweitbesetzung zu sehen: mit Georgina Hills als Nina, Christopher Evans als Kostja und Xue Lin als Mascha, außerdem unter anderem mit Silvia Azzoni als Arkadina, Karen Azatyan als Trigorin und Ivan Urban als Sorin.
Nun lohnt sich diese Inszenierung, die Tschechows leidenschaftliche Pechvögel auch librettomäßig vom Sprechtheater- ins Tänzermilieu verlegt, sowieso jederzeit. Aber mit so vielen jungen Stars ist es nochmals ein besonderer Event.
Man könnte sagen: eine Talenteschau, ganz nebenbei.
Georgina Hills, die in der Zweitbesetzung die weibliche Hauptperson der Nina tanzt, ist – genau wie Emilie Mazon, die die Wiederaufnahme tanzte – erst 21-jährig. Auf die Berufsanfängerin Nina, die auf die Tanzbühne will, passt das natürlich sehr gut. Hills kommt übrigens aus Australierin. Sie wurde aber auch in Hamburg ausgebildet – und tanzt jetzt die wichtige Rolle der Nina, obwohl sie in ihrer zweijährigen bisherigen Karriere noch nie eine Hauptrolle in einem Profi-Abend getanzt hat. Sie ist eine Débutante assoluta sozusagen.
Man darf allerdings sehr zuversichtlich sein, zumal Georgina Hills schon einige Male bei Vorstellungen positiv auffiel (so vor einem knappen Jahr im „Messias“: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias-2016/). Die jugendliche Frische der Nina und hoffentlich auch das Kämpferische an ihrem Naturell weiß sie bestimmt sehr gut zu verkörpern.
Ihr Tanzpartner Christopher Evans ist nun sowieso kein Unbekannter mehr beim Hamburg Ballett, und seit knapp zwei Jahren tanzt er als Solist auch Hauptrollen. Er kam 2012 von der Schule des Hamburg Balletts in die Compagnie, mit dem Bonus als unausgesprochener Klassenbester.
Evans wird eine elegante Neuinterpretation des schwärmerischen Choreografen Kostja liefern – und die Avantgarde, die dieser im Stück kreiert, wird durch ihn wie auch durch die sie tanzende Georgina Hills eine neue Note erhalten.
Silvia Azzoni als Kostjas selbstverliebte Mutter Irina Arkadina (in Neumeiers Libretto passenderweise eine berühmte Ballerina) wird wohl eine Sensation für sich sein: 2002 tanzte Silvia die Nina, mittlerweile ist sie eine Grande Dame beim Hamburg Ballett.
Ihre unnachahmlich vornehmen, immer organisch wirkenden Linien bei Attitüden und Arabesken sowie ihre durch puren Fleiß erworbenen, bildschönen Fußstreckungen sind sowas von, na, also sowas von legendär, also, da muss man stets ein zweites Mal hinsehen – und sie genießen. Auf bald!
Karen Azatyan als ihr Bühnenpartner wird den Schürzenjäger und Erfolgskünstler Trigorin möglicherweise ähnlich anlegen wie seinen Gabriele d’Annunzio in der „Duse“ von John Neumeier: Dass er Machos tanzen kann, hat Karen schon bewiesen, jetzt muss er auch noch im zweiten Teil des Abends die Selbstironie aufbringen, eine reibungslose Parodie auf Ballett als Primoballerino anzubieten.
Dario Franconi brachte hier in der Erstbesetzung viel Pep in die Szene!
Die schöne Xue Lin als Mascha wird hoffentlich auch berücken – Mascha ist unsterblich in Kostja verliebt – wenn auch mit einem ganz anderen Gestus als Carolina Agüero, die die Rolle eindrucksvoll bei der Wiederaufnahme gestaltete.
Mascha ist ja eine der drei unglücklich liebenden Personen hier.
Sie liebt Kostja, der allerdings seiner großen Liebe Nina weiterhin anhängt, wiewohl diese dem Schürzenjäger Trigorin so stark auf den Leim ging, dass sie ihn auch nach mehrfachen Abstürzen in tiefstes Unglück nicht vergessen kann. Sondern vielmehr immer wieder alles um sich herum vergisst, wenn sie ihm begegnet… Dabei gehört er doch mit Haut und Haaren Kostjas Mutter…
Wie köstlich verworren die Verhältnisse hier doch sind.
Und was für ein Bedarf an Trostpflastern in diesem Stück herrscht!
Jacopo Bellussi, frisch ernannter Solist (ab nächster Spielzeit wird dieser Titel vertraglich besiegelt sein), kann sich da allerdings ganz gut selbst trösten bzw. stellt er hier ein wandelndes Trostpflaster dar, denn er tanzt die Rolle des Medwedenko, der schließlich Mascha zu einer Ehe ohne Kribbeln in der Magengegend überzeugt.
Wird es Glück oder Unglück mit der Zweckehe geben? Mal sehen, was Bellussi in dieser Rolle verheißt!
Auf Mathieu Rouaux als Dorn – das ist eine kleine, aber immerhin Potenzial bietende Rolle – darf man gleich doppelt gespannt sein: Mathieu zählt zu den Neuankömmlingen in Hamburg, die erst diese Saison (also 2016) dazu stießen. Sein freundliches Lächeln, seine ernsthaften Blicke und seine gute Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper – wo Neumeiers „Allzweckwaffe“ Kevin Haigen häufig als Gastlehrer arbeitet – machen Hoffnung auf mehr: nämlich auf sehr guten Tanz.
Ivan Urban als Sorin schließlich hat als Zweitbesetzung für Lloyd Riggins – der in dieser Rolle absolument brilliert – einen komisch-stoisch-lethargischen Gutsbesitzer abzugeben, der mit sinnfälligen Bewegungen den Verfall der zaristisch-bürgerlichen Gesellschaft symbolhaft aufweist. Denn um das teilweise erstarrte, zugleich aber vorrevolutionäre Lebensgefühl dieser altrussischen Gesellschaft geht es im Stück ja auch.
Vor allem aber stehen die zumeist unglücklichen Lieben der handelnden Personen, all die enttäuschten privaten wie beruflichen Hoffnungen, aber auch die Liebe zur Freiheit der Kunst im Vordergrund.
Kunst und Kultur als Trostpflaster, das darf gelten, aber man kann, ganz locker, hier mit Tschechow und Neumeier auch das ganze Leben als ein einziges großes Trostpflaster betrachten.
„Die Möwe“ macht’s möglich…
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“ – in dieser Besetzung am 9. und am 10. März; der Cast vom 12. März 2017 stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest