Als Alexander Puschkin in den 1820er-Jahren seinen umfassenden Versroman „Eugen Onegin“ schrieb, konnte er nicht ahnen, dass dieses satirisch angelegte Werk die Grundlage für eines der beliebtesten Ballette werden würde. John Cranko, Stuttgarts Ballettwunder-Choreograf, musste allerdings zwei Anläufe für seinen „Onegin“ nehmen, um zu überzeugen. 1965 und 1967 waren die Uraufführungen, beide Male mit Marcia Haydée als Tatjana, und mit der zweiten Version funkte es. Seither liebt das Publikum das neoklassische Ballett in historisch anmutenden Kostümen von Jürgen Rose. Seinen endgültigen Siegeszug trat das Stück aber erst in den letzten zwanzig Jahren an, als Ballettcompagnien von Berlin bis Moskau es in ihr Repertoire aufnahmen. Beim Stuttgarter Ballett ist es sowieso Bestandteil der angesagtesten Knüller-Abende, aber auch beim Hamburg Ballett, beim Aalto Ballett Essen, beim Bayerischen Staatsballett, beim Wiener Staatsballett, an der Mailänder Scala, an der Pariser Opéra, beim Norwegischen Nationalballett, beim Kanadischen Nationalballett, beim Royal Ballet in London… und natürlich in Berlin wird es getanzt. Seit 2003 hat das Staatsballett Berlin (SBB) das Stück rund um die Liebe im Repertoire. Nadja Saidakova, heute Ballettmeisterin in Berlin, Ksenia Ovsyanick und Polina Semionova sind zwei herausragende Interpretinnen der weiblichen Hauptfigur Tatjana an der Spree – und Polina tanzt diese großartige Partie seit letztem Freitag wieder. Und wie!
Sie ist darin nur noch mit Lucia Lacarra vergleichbar, die kommenden Sonntag in Berlin in einem modernen, aber ebenfalls ergreifend schönen Pas de deux auftreten wird, und zwar beim Benefiz-Event „Schicksalstanz mit Nurejew“.
Zu Beginn ist sie das liebliche Mädchen, das mit Audrey-Hepburn-Charme und aufgeweckter Hingabe liest. Für einen Dichter wie Puschkin ist sie eigentlich die Idealfigur, denn sie nimmt Literatur wirklich ernst. Sogar, als ihre vaterlose, aber an Tanten und Onkel reiche Familie an einem Sommertag im Garten Gäste erwartet, ist für Tatjana das Buch am wichtigsten. Zunächst.
Als Onegin – seinen Vornamen hat John Cranko zwecks guter Unterscheidung zur Oper „Eugen Onegin“ von Peter I. Tschaikowsky einfach weggelassen – die Szenerie betritt, ändert sich das. Polina Semionova zeigt wunderbar die Aufregung, die der ältere, erfahrene Dandy in ihr auslöst. Er ist in Crankos Choreografie ein bisschen ein Playboy, aber durchaus auch ein Intellektueller.
Alexei Orlenco tanzt die Titelpartie nicht zum ersten Mal. Aber mit der starken Polina Semionova an seiner Seite hat er es nicht leicht. Dafür brilliert sie umso mehr nicht nur im Technischen – mit vielen Hebungen – sondern auch im Spiel. Dabei nimmt sie Orlenco mit auf die Reise in die Gefühlswelt von Tatjana. Semionova spielt immer mit ihren Partner:innen – das Miteinander zu zeigen, ist einer ihrer großen Vorzüge.
Ein anderer ist ihre sanftmütige Schönheit, die sich über ihren ganzen Körper erstreckt. Es ist schwer, eine so aufregende und doch majestätische Person auf der Ballettbühne noch einmal zu finden. Als Tatjana im ersten Akt zeigt sie alle neugierige Offenheit, alle Wissbegierde, auch alle Verletzlichkeit, die dieses Mädchen haben muss.
Onegin beeindruckt sie. Einen scheinbar so souveränen Mann hat Tatjana zuvor noch nicht erlebt. Stolz zeigt sie ihr Buch vor, als er sie zum Spaziergang ausführt. Er begutachtet den Band kurz, dann gibt er ihn ihr mit abschätziger Haltung zurück. Natürlich, dieses Buch ist nichts wert. Kitsch, keine hohe Kunst. Kein philosophischer Wert. Muss ja so sein, denn Tatjana ist eine Frau, und für Männer wie Onegin gehört es zum Lebenselixier, Frauen zu demütigen. Es darf nur nicht allzu sehr auffallen.
Tatjana weiß das nicht. Sie ist fasziniert von diesem schillernden, etwa arroganten Lebemann. Wenn er sagt, das Buch sei nicht gut – nun, so wird es so sein. Er hat ja soviel Erfahrung!
Mag sein, sie erhofft sich insgeheim, von dieser Erfahrung zu profitieren. Vielleicht auch nicht nur in literarischen Dingen. Sondern auch in erotischer Hinsicht. Denn irgendwie sind die Dinge für sie, Tatjana, doch immer schwerer als für andere.
Sie schaut auf ihre Schwester Olga: Diese ist, obwohl jünger, bereits verlobt – und gibt ein fröhlich-verliebtes Pärchen ab. Und zwar mit Lenski, dem engsten Freund von Onegin. Über Lenski kam Onegin auch zum Gartenfest der Larinas, also von Tatjanas Familie.
Olga wird von Alizée Sicre hinreißend getanzt, mit jenem leichtlebigen Flair bei hoher Präzision, das unabdingbar zu dieser Rolle gehört. Sie hat sich seit ihrem Debüt nochmals sichtlich gesteigert.
Aber auch Alexander Bird hat seit seinem Rollendebüt im letzten Jahr absolut gewonnen. Mit Anmut und lyrischer Grazie, aber auch mit Heißblütigkeit und sogar Todessehnsucht spielt und tanzt er den zunächst glücklichen Mann, der dann doch so schnell in sein tragisches Ende stürzt.
Das Ensemble tanzt akkurat, nicht ganz so hervorragend wie vor der Corona-Pandemie, aber immer noch beschwingt und rhythmussicher genug, um mitzureißen und zu begeistern.
Die Staatskapelle Berlin unter Ido Arad ist übrigens über jeden Verdacht erhaben. Kurt-Heinz Stolze schrieb Kompositionen von Peter I. Tschaikowsky um – und schuf damit einen filmreifen Sound, der immer wieder Tänzer:innen wie ihre Zuschauer:innen mit hoher Spannung in den Bann schlägt.
Tatjana aber braucht fast keine Musik, um zu wirken, wenn Polina Semionova sie tanzt.
In ihrem Schlafzimmer zeigt sich noch die mütterliche Amme (Martina Böckmann wächst sehr gut in diese nicht unwichtige Rolle hinein) – dann kann sich Tatjana ihrem Schwelgen in Liebesträumen hingeben. Und sie lässt sich hinreißen, einen Liebesbrief an Onegin zu schreiben.
Zumal der begehrte Mann ihr als Traumbild im Spiegel erscheint. Und heraustritt!
Es kommt zu einem der schönsten lyrisch-situativen Pas de deux der Tanzgeschichte. Die hohen Hebungen gehören hier zum Konzept. Und sie sind der Grund dafür, dass das Stück in Stuttgart entwickelt wurde und nicht in London. Denn Choreograf John Cranko, in Stuttgart Ballettdirektor, war mit Kenneth MacMillan befreundet, der wiederum am Royal Ballet wirkte. Man suchte nach einem neuen Sensationsstück für Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn und fragte Cranko, der seinen „Onegin“ anbot. Weil er aber unbedingt hohe „Lifts“, also Hebungen verwenden wollte, lehnte Margot Fonteyn ab.
Das Thema war für Cranko aber bereits so drängend in seiner Vorstellungskraft vorhanden, dass er es dann in Stuttgart machte, zunächst mit wenig, dann mit sehr großem Erfolg.
Im zweiten Akt dann zeigt Onegin die andere, dunklere Seite seines Charakters. An Tatjanas Geburtstag wird auch Onegin als Gast erwartet – aber das Wiedersehen wird zur großen Enttäuschung für sie. Ihren Liebesbrief gibt er ihr zurück, indem er ihn in ihre Hände zerreißt. Sie ist so entsetzt, dass sie die Demütigung, die in dieser Handlung steckt, gar nicht begreift.
Sie setzt in ihrem jugendlichen Übermut sogar alles auf eine Karte – und tanzt für den eine Patience legenden Onegin ein Solo von nachgerade überirdischer Feinheit. Zunächst fast elfenhaft legt sie ihre Gefühle für sich, die Welt und diesen Mann dar, um dann energisch und rückhaltlos zu zeigen, was sie kann, bis hin zum Spagatsprung.
Was für ein Pech, dass Onegin, ein eher blasierter Mensch, diese Liebe überhaupt nicht versteht und auch gar nicht annehmen will. Er springt auf, wütend, aggressiv – und flirtet, um Tatjana noch stärker herabzusetzen, als es ihm ohnehin schon gelang, mit ihrer Schwester Olga.
Im Walzertakt wiegt sich nicht nur das Ensemble, das alle Erwachsenengenerationen umfasst, sondern auch Onegin, der Olga beinahe zu verführen scheint.
Lenski rastet darüber aus, ohrfeigt Onegin mit seinem Handschuh und wirft ihm diesen vor die Füße, zum Zeichen der Forderung nach einem Duell.
Die gute Stimmung ist – mit Verlaub – versaut.
Das Duell findet frühmorgens statt, und das mondsüchtige Solo Lenskis vorab ändert am tödlichen Ausgang für ihn ebenso wenig wie die deutlichen Versuche Onegins vorab, Lenski dazu zu bewegen, auf das Duell zu verzichten.
Für Tatjana und Olga bricht eine Welt zusammen. Die erste muss nun endgültig einsehen, dass Onegin nicht ihr Partner werden kann. Die zweite sieht sich verwittwet, bevor sie verheiratet ist. Im Roman und in der Oper sucht sie, die Leichtlebige der beiden Schwestern, sich bald einen neuen Galan, den sie dann auch heiratet. Im Ballett erfahren wir nicht, wie ihr Schicksal beschieden sein wird.
Denn die Szenerie wechselt, springt über einen Zeitraum von zehn Jahren nach Sankt Petersburg. Dorthin hat Tatjana inzwischen geheiratet, und der Fürst, der sie ehelichte, ist gesellschaftlich sehr arriviert.
Und wer taucht dort auf? Genau. Onegin fallen fast die Augen aus dem Kopf, als er die durch Glück und Selbstbewusstsein erblühte Tatjana wiedersieht.
Sie tanzt mit ihrem Gatten das Hohelied der ehelichen Liebe: gegenseitiger Respekt wurde von Cranko aufs Schönste in den Paartanz umgesetzt.
Yevgniy Khissamutdinov tanzt hier Fürst Gremin – und von ihm wird nicht klar, wieso er besetzt wird, er ist so blass und unscheinbar in seiner Uniform, dass man ihn für einen Irrläufer aus einem anderen Stück hält. Gremin sollte ein stattlicher, attraktiver Mann sein, der Tatjana das geben kann, was sie braucht und liebt. Immerhin ist die Choreografie des Pas de deux dahingehend nicht zu übersehen.
Onegin verspürt Eifersucht. Vielleicht ist es vor allem gekränkte Eitelkeit, die ihn jetzt dazu bringt, Tatjana zu lieben. Er kündigt ihr in einem Brief sein Kommen an.
Er ist sich seiner Macht über sie sicher. Aber für sie ist die Liebe ein Abgrund, in den sie zu fallen droht. Alles, was sie sich aufgebaut hat, kann dieser Onegin zerstören. Indem er sie dazu bringen könnte, alles zu zerstören, alles aufzugeben, ihm zu folgen – ins Ungewisse und ins ganz sicher nicht würdige Liebesglück.
Nervös erwartet sie ihn. Als er erscheint, ist er bereits fast aufgelöst von seinen eigenen Gefühlen. Reue, durchmischt von Begehrten, drückt auch sein Tanz aus. Er fällt vor ihr, der damaligen Landpomeranze, auf die Knie. Er barmt. Er küsst sie von hinten auf die Schulter.
Wie gut, dass die Kostüme von Elisabeth Dalton Tatjana auch hier schulterfrei zeigen.
Und sie widersteht. Aber sie hört ihm zu, geht auf ihn ein. Synchron tanzen sie einige Schritte, dann drängt er stürmisch zu ihr. Hebt sie, hält sie. Legt sie hin. Zieht sie zu „Hexensprüngen“ im vertikalen Spagat empor. Es klappt zwei Mal eine wunderschöne Diagonale in der Luft, die aus Polinas Beinen besteht.
Fast hat er sie soweit. Sie gibt nach.
Doch dann besinnt sie sich. Sie macht wieder zu. Holt seinen Brief. Und zahlt ihm Gleiches mit Gleichem zurück: Sie zerreißt den Brief in seine Hand.
Er lässt die Schnipsel fallen. Ist fassungslos. Und stürmt, von ihr mit ausgestrecktem Finger abgewiesen, hinaus.
Sie aber bleibt zurück, tänzelnd, lavierend, innerlich zerrissen.
Die Liebe, sie ist ein Schwert, das selten nur heilt…
Polina Semionova zeigt uns, wie schön und wie schmerzhaft es ist, stark zu lieben und dennoch stark zu sein.
Gisela Sonnenburg