Superschlechter Geschmack in Berlin Das Staatsballett Berlin geht mit Christian Spuck in eine neue Ära – und war noch nie so geschmacklos wie heute

Der junge Mensch – vermutlich ein Mann – schnuppert mit geöffneten Lippen an seinem Arm, als Werbung fürs Staatsballett Berlin auf dessen neuen Plakaten. Foto: Gisela Sonnenburg

Im U-Bahnhof „Mitte“ in Berlin-Mitte stehen Manche nur da und glotzen. Das große Werbeplakat ihnen gegenüber stammt vom Staatsballett Berlin (SBB) und zeigt eine vielleicht nackte Person, die offenkundig verhaltensgestört ist und sich in aller Öffentlichkeit ungehindert selbst abschnuppert. Man kennt so ein Verhalten von sozialpädagogisch betreuten Kindern: Sie schnüffeln an ihrem Handgelenk oder an den Haarwurzeln ihrer Arme, manche lecken sich dann auch noch begierig ab. Zuschauer törnen sie dabei eher noch an, als dass die Kids Scham empfinden. Die Selbstwahrnehmung dieser jungen Menschen ist möglicherweise nicht gesund, und das versuchen sie zu kompensieren, indem sie ihren eigenen Körper unkontrolliert beschnüffeln und ablecken. Natürlich sind das verkappte Masturbationsgesten – und wer nicht gelernt hat, sich vor anderen diesbezüglich zu beherrschen, verdient größtes Mitleid. Aber auch auf der Homepage vom SBB gibt es derzeit solche merkwürdigen Close-up-Aufnahmen von nackter Haut und groß gezeigten Mündern. Ob Pornostar der eigentliche Berufswunsch hier ist, bleibt offen – Werbung für Tanz, gar für Ballett, kann man nicht wirklich aus den ekelhaften Bildern ablesen.

Ob das neue SBB hier absichtlich skandalös provozieren möchte? In einer Zeit, in der jedes noch so biedere Rathaus eine Regenbogenfahne hisst – nicht etwa, um sich weltoffen zu zeigen, sondern um es Menschen ausdrücklich zu erlauben, anders als heterosexuell Sex zu haben – ist es wirklich schwer geworden, mit so einem Thema noch aufzufallen.

Der Fotograf Florian Hetz sollte eigentlich verschiedene Körperposen in möglichst verletzlicher Form zeigen. Aber seine Models wirken eher roh und abgestumpft als sensibel. Und von portraitierten Posen kann eigentlich auch keine Rede sein: Zu nah geht die Kamera jeweils ans Sujet heran, sodass nur Ausschnitte zu erkennen sind und nichts Halbes und nichts Ganzes. Es ist ein schmuddliger Trick auch aus dem Bereich der Laienfotografie, nah an nackte Haut heranzugehen, um Geilheit zu evozieren.

Mit den Aufgaben eines Staatsballetts ist das nur schwer zusammenzubringen. Eher wirkt das Ganze wie Werbung für einen modernen Puff. Auf der Homepage von Hetz geht es weiter, dort baumelt auch ein Phallus von oben ins Bild, allerdings ohne satirische oder irgendeine Witzkomponente. Das männliche Geschlechtsteil als Sinn des Daseins in der Kunst.

Staatsballett Berlin - Christian Spuck - Werbekampagne

Auch „Madame Bovary“, die Uraufführung von Christian Spuck, die für Oktober 23 erwartet wird, wirbt mit einer Nahaufnahme von nackter Haut für sich. Warum nur? Will das SBB künftig an Kostümen sparen? Screenshot von der Homepage vom SBB: Gisela Sonnenburg

Christian Spuck, selbst schwul, gibt mit dem neuen Outfit vom SBB in der Öffentlichkeit seinen Einstand als neuer Berliner Ballettintendant. Die Signalwirkung der bestimmt nicht billigen Werbecampgne ist deutlich: Ade, Poesie; ade, Disziplin; ade, bürgerlicher Anstand, ihr alle seid wohl jetzt veraltete Werte beim SBB. Und eines der Fotos sieht auch noch fatal nach gewalttätigem Abmelken eines Menschen aus. Sollen hier Übergriffe belobigt werden?

Schon eine mit einem Mund-auf-Haut-Foto als Dekoration geschmückte Stellenanzeige vom SBB war missverständlich freizügig bebildert und erweckte bei manchen Rezipienten die Erwartung sexuellen Missbrauchs. Es wurde zwischenzeitlich entfernt.

Die anderen Bilder von nackter Haut aber bleiben, ungeschönt und bar jeder Tanzästhetik.

Was denkt sich das SBB nur dabei? Auffallen um jeden Preis?!

Sollen die Fotos vielleicht Vorübungen für den Cunnilingus zeigen? Und können sich Tänzer eigentlich selbst einen blasen? Wenn sie auf so komische Fotos stehen, wer weiß, was sie insgeheim in ihrer Freizeit machen. Normale Masturbation reicht da offenbar nicht mehr. Ekel statt Bewunderung erfasst einen.

Staatsballett Berlin - Christian Spuck - Werbekampagne

Irgendwie der Gipfel des schlechten Geschmacks: Als soll da jemand – Mann oder Frau oder Diverses – abgemolken werden. Zärtlichkeit und Respekt gehen auf Fotos jedenfalls anders. So zu sehen auf der Homepage vom Staatsballett Berlin. Screenshot von dort: Gisela Sonnenburg

Vielleicht sollen so aber auch die herkömmlichen Ballettfans verprellt werden, damit dann möglichst viele psychologische Patienten an die Sitzplätze kommen? Man denkt schon unwilllkürlich an Menschen mit Drogenproblemen oder ganz ohne gute Erziehung, die sich nun mal nicht anders als unflätig benehmen können. Sie dürften sich mit den Fotos identifizieren können.

Wer sich online in der Ballettwelt auskennt, schwenkt recht schnell zwecks ästhetischer Erholung rüber zum Hamburg Ballett. Dort gibt es in der letzten Spielzeit unter der Ägide des Genies John Neumeier noch hochfeine, zur Ballett- und Bühnenkunst passende Fotos anzusehen.

Videostill von der Homepage vom Hamburg Ballett: Blanche sehnt sich in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier zurück in ihr altes, unversehrtes Leben… Videostill: Gisela Sonnenburg

Mehr noch: Dort in Hamburg laufen Stücke wie die „Endstation Sehnsucht“, die Themen wie sexuelle Gewalt und Homosexualität nicht platt zum Werbe-Aufhänger machen, sondern sich ernsthaft und intensiv damit auseinander setzen.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen, möchte man so gern sagen und ein Plädoyer auf die Geschmacksvielfalt halten. Aber wenn die Grenzen dessen, was überhaupt noch eine Botschaft jenseits des Sexismus hat, so zusammen schnurren wie jetzt beim SBB unter Christian Spuck, dann muss man doch leider mal den Zeigefinger erheben.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein kleines, tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig zu sein!

Sind diese seltsam hässlichen Bilder eigentlich jugendgefährdend? Zumindest laden Sie dazu ein, schlechtes sprich leicht obszönes Benehmen zu imitieren. Und das im Namen der teuren Hochkultur.

Oder schnüffelt Ihr Kind oder Enkel sowieso schon dauernd an seinen eigenen Fingern und Handgelenken? Wühlt es mit Nase und Mund bei jeder Gelegenheit gierig in seiner Hand? Ist es bereits ganz auf dem Berliner Kurs in Sachen schlechtem Geschmack?

Geben Sie ihm ein gutes Desinfektionsmittel und klären Sie das Kind sexuell gründlich auf. Möglicherweise wird ihm sein unbeherrschtes Benehmen dann peinlich und es bemüht sich in Zukunft, ein ansehnlicheres Bild für seine Umwelt abzugeben.

Sollte Ihr Kind Ihnen aber beichten, dass es mit seinem Geschnüffel nur seinen Lehrer nachmacht, dann haben Sie ein Thema für den nächsten Elternabend. Der wird unter Umständen wichtiger sein als jede Berliner Ballettvorstellung.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

www.hamburgballett.de

ballett journal