Quietsch, brumm, hämmer, wumm: Das Berliner Staatsballett (SBB) tanzt dieses Mal nicht in einer der drei Berliner Opern auf, sondern im Szenebunker Berghain in Berlin-Prenzlauer Berg. Gerade erst machte übrigens der Spiegel diesen berühmten Club unbotmäßig runter. Und einer Clique von Geschäftsleuten in Berlin, die in Kunst und Bau macht, gefällt die spektakuläre Bunker-Immobilie vom Berghain so gut, dass sie sie gern als Ausstellungsraum und nicht mehr als Club hätten. Dann gäbe es für die Tanzwütigen dieser Welt einen hippen Vorzeigeschuppen weniger. Denn nach wie vor ist im Berghain musterhaft das Highlife der Szenehotter angesagt. Standesgemäß erklingt dabei viel Techno, Trends wie dem zu R & B zum Trotz. Schon 2013 premierte in diesem wilden Eldorado der Marathon-Dance-Freaks ein Ballettexperiment, eben der dreiteilige Abend „Masse“ mit dem Staatsballett Berlin. Die Fernseh-Doku „Masse – Techno-Ballett aus Berlin“ von Nicola Graef beleuchtet dessen Entstehung. Das Bühnenbild dazu ist übrigens nicht nur trashig, sondern auch von prominenter Herkunft: Es stammt vom hypererfolgreichen Berliner Kunstmaler Norbert Bisky. Womöglich sollte er der organisierten Kunstszene schon mal die Tür öffnen?
Wie auch immer: Ein ausgebranntes Buswrack der Marke Bisky steckt da rechts auf der theaterähnlichen Bühne im Boden. Ganz so, als handle es sich um einen Artefakt von einem anderen Planeten. Oder ist das ein Gruß aus dem Reich Hollywoods, vom „Planet der Affen“?
Sci-Fi-mäßig sind denn auch alle drei Stücke an diesem Abend. Vom Titelthema „Masse“ sind sie indes leitmotivisch verklammert.
Zurück in die Zukunft – hier kommt dieser Losung eine besondere Bedeutung zu.
Das erste Stück des Abends ist bereits sein Höhepunkt. „Quinque viae – Dynamics of Existence“ (Lebensbeweis) nennt SBB-Tänzerin Xenia Wiest, die als Choreografin bereits international einen guten Namen hat, ihren Entwurf einer zersiedelten, postkatastrophalen Gesellschaft.
Da ist ein junger Mann (Ibrahim Önal), der als Schiffbrüchiger aufwacht. Sein alle Dimensionen auslotendes Solo hat Drive, ist originell, stark, intensiv: Nervosität und Anspannung wachsen in der Einsamkeit an. Von fern sieht man eine Gruppe Langberockter, die sich amöbenmäßig am Boden wälzt. Manches erinnert aber auch an den elegischen choreografischen Stil von Antony Tudor.
Dann folgt flackerndes Schlaglicht: Paartänze, etwas unterkühlt, und ein Pas de trois, sehr leidenschaftlich, entwickeln sich zu einer gnadenlos menschlichen Gesellschaft. Eine Frau wird von zwei Männern entblättert, bis auf den Unterrock. Das Ende: Der Mann vom Anfang begegnet der „Masse“, also dem Corps, ohne mit diesen anderen Tänzern in Kontakt zu kommen. Er bleibt allein, unrettbar. Das hat was Ergreifendes.
Das zweite Stück „Boson“, was eine Elementarteilchenart bezeichnet, kommt von der damaligen Primaballerina und heutigen Ballettmeisterin Nadja Saidakova. In gewisser Weise ist ihr Stück die Fortsetzung von Wiests Kreation. Sie lässt einen einzelnen Menschen auf einer Steilrutsche auf die Bühne kommen, wie ausgespuckt von der Mauer erscheint er. Schön! Aber dann bleibt er einfach liegen, wie scheintot.
Auffallend ist hier das Buswrack von Bisky inszeniert. Aus ihm tropft eine zähdunkle Plasmamasse auf den Boden. Auch das ist „Masse“. Dazu wirken die Body-Kostüme von Julia Motti wie süßliche 70er-Jahre-Remake-Fantasien. Das Plündern von Klamottenfetzen am Ende soll wohl Barbarei bedeuten. Saidakova traut der Menschheit demnach keine Lösung mehr zu, ihre Zivilisationen zu bewahren. Leider hat sie mit dieser konsequenten Skepsis wohl nicht nur Unrecht.
Sowas kommt einem bei Tim Plegge indes nicht in den Sinn. Plegges „They“ illustriert, was „Mensch und Masse“ im sozialen Sinn, also im sozialen Miteinander anrichten. Heute ist der damalige Shooting Star Plegge übrigens Ballettdirektor am Staatstheater Wiesbaden – so schnell kann’s gehen.
Das SBB hat Plegge einigermaßen herausgefordert und vice versa.
Mutig zeigen sich hier Tanzkünstler wie Alexander Shpak – und machen den Abend zum Ereignis.
Da tanzt eine Urmenschengruppe mit weißen Masken, bis sich Shpak als Solo-Junge in Stimmung bringt. Köstlich: Er lüftet seine Hose, schaut rein, will von sich selber was. Genießerisch und geschmeidig bis zum Anschlag tanzt er ein „Masturbationssolo“. Da werden andere neugierig. Shpak formt aus drei Fingern eine symbolische Pistole: haut ab! Das gehört alles nur mir allein!
Man muss schmunzeln bei dieser satirischen Umgehensweise mit Narzissmus.
Später gibt es Formationen, die durch den Raum wachsen und ihn mitunter vor Schönheit zu sprengen scheinen.
Die Menschenmasse, für deren Darstellung Plegge nur neun Tänzer braucht, wuchert vom Boden über Eck an die Wand – und kann sich auf- und abfächern wie ein einziges Stück Natur.
Arshak Ghalumyan bringt im Pas de deux seine Partnerin in jeder Sekunde auf den Punkt, musikalisch und souverän. Michael Banzhaf und Shoko Nakamura – beide heute nicht mehr beim SBB – vollenden die Utopie von Liebe selbst in der Salzwüste. Doch dann stellt Sphak, der begnadete Masturbant vom Beginn des Stücks, das Opfer dar, liegt leblos am Boden.
Die blutgierige Meute hat, was sie will, das gebildete Publikum auch, denn Choreograf Plegge zitierte hiermit eindeutig das bedeutende Ballettstück „Le sacre du Printemps“, das 2013 seinen hundertsten Geburtstag feierte und dennoch als Markstein der musikalischen und tänzerischen Avantgarde in Europa gilt.
Fazit des Abends: In dieser Nacht ging das sonst opernhausgewöhnte Staatsballett Berlin nicht ohne Lustgewinn fremd. Der ungewöhnliche Dreier öffnet die Augen für die Bespielbarkeit ballettfremder Szenerien; der Club Berghain könnte da theoretisch nur einer von vielen sein.
Die Probenarbeit für den ungewöhnlichen Event hat zudem die Fernsehjournalistin Nicola Graef in ihrer Doku mit viel Elan und Sinn für Humor dokumentiert.
Trotz einer teils nicht nur guten Kameraführung kitzelte Graef in ihrem Film schlaue Einsichten aus den Künstlern.
So aus dem Maler Norbert Bisky. Er definiert Erfolg für sich so: „Dass ich mir die besten Farben kaufen kann.“ Da darf man annehmen, dass er in diesem Punkt schon glücklich wurde.
Choreografin Xenia Wiest gibt hingegen offen zu: Zweifel an sich selbst seien im Grunde „auch normal“.
Ah! Endlich mal eine Spitzenkünstlerin, die nicht immer nur die allerbeste von allen sein will. So die Frau, so ihre Arbeit: erfrischend ehrlich und wahrhaft nahrhaft!
Gisela Sonnenburg
Am Samstag, 7. April 2018, um 22.40 Uhr auf 3sat