Es ist eine gute Tradition: Bevor die Opernhäuser ihre Ensembles in die Sommerferien verabschieden, darf das Ballett nochmal so richtig aufdrehen. In Stuttgart und München tun sie das dieses Jahr im Juli, in Berlin powern sie eine Woche ab der Wiederaufnahme-Premiere von „Die Bajadere“, aber in Dresden und Hamburg beginnt noch im Juni der ausgesprochen ballettöse Festival-Trubel: Das Semperoper Ballett beteiligt sich erstmals am Internationalen Tanzfestival Dresden – und in Hamburg toben die 41. Hamburger Ballett-Tage. In Hamburg wie in Dresden nehmen zudem je ein Erster Solist ihren Bühnenabschied. Es folgt hier jetzt ein Ausblick, damit man gezielt Kraft tanken kann, bevor die Urlaubsstrapazen beginnen.
„Ein Panorama der aktuellen Ballettlandschaft“ verspricht Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin. Und: „Eine großartige Gelegenheit für das Dresdner Publikum und für die Gäste von auswärts, die verschiedensten Choreografie-Stile in kürzester Zeit zu erleben und dabei Neues zu entdecken.“ Denn eigentlich richtet sich das Internationale Tanzfestvial Dresden an Interessenten des zeitgenössischen Tanzes. Im Festspielhaus Hellerau in Dresden angesiedelt, empfängt es Ensembles mit Werken etwa von Anne Teresa De Keersmaeker, Alain Platel und Ohad Naharin. Doch 2015 beteiligt sich auch das Semperoper Ballett am Festival – und lädt zu neun Events ins Opernhaus.
„Nordic Lights“ machen den Anfang, und im Kontext wenig ballettöser, dafür flippiger, kantiger, poröser Arbeiten, wie sie die zeitgenössische freie Szene des Festivals anliefert, wirken auch diese drei Ballette, die von den drei schwedischen Choreografen Pontus Lidberg, Johan Inger und Alexander Ekman stammen, noch einen Zacken moderner. Verstaubt sind sie ohnehin nicht!
„Schwanensee“ hingegen mag zwar bei den meisten Freunden des Contemporary Dance spontan ein gelangweiltes Gähnen evozieren. Aber ist das nicht voreilig reagiert? Immerhin liegen die Grundlagen für so freakige Veranstaltungen wie die vom Vater des Trash Dances, Alain Platel, im Klassischen. Und wann könnte man besser in Klassik schwelgen als in „Schwanensee“? Zumal es sich bei der Version von Aaron S. Watkin um psychologisch plausibilisiertes Theater handelt, keinesfalls um Klischee-Ballett. Also hingehen!
Mit „Impressing the Czar“ überschneiden sich dann die Fangemeiden. Denn Choreograf William „Bill“ Forsythe begeistert sowohl die avantgardistisch Ausgerichteten, als auch die Freunde des hehren Operntanzes. Da Forsythe viele Jahre eine Compagnie in Hellerau hatte, ist das traditionelle Hellerauer Publikum an seinen Stil ohnehin noch im guten Sinn gewohnt – und wird also fleißig in die Semperoper wallfahren.
David Dawsons hochkarätige Neuschöpfung von „Tristan + Isolde“, die im Februar diesen Jahres in Dresden uraufgeführt wurde, muss leider wegen gleich mehrerer Tänzerverletzungen entfallen – wie wünschen gute Besserung! Statt „Tristan“ wird darum „Giselle“, ebenfalls von David Dawson, zur Aufführung kommen. Eine tänzerisch kostbare, zudem modernisierte Version, in deren Verlauf der männliche Held Albrecht eine nachvollziehbare Wandlung durchmacht. Der Dresdner Star Raphael Coumes-Marquet nimmt hiermit als Albrecht seinen offiziellen Bühnenabschied – er ist ein ausdrucksstarker Ballerino, der für viele glanzvolle Abende in Dresden sorgte und dieses auch weiterhin tun wird: als Ballettmeister in Watkins Team ab kommender Spielzeit.
Das weibliche Element in Dawsons „Giselle“ kommt derweil einerseits als mädchenhaft-moderne Titelfigur daher, zweitens als lasziv-mondäne Lady Bathilde und kulminiert drittens in nebelschwadenähnlichen Sylphiden – anstatt der klassisch-romantischen Tutu-Furien.
Eine „Öffentliche Ballettprobe“, die faktisch aus mehreren Proben besteht, erlaubt dem Publikum in Dresden am 4. Juli ab 11 Uhr morgens den ganzen Tag lang Einblicke in den intimsten Arbeitsbereich des Balletts, nämlich ins Training und in die Probenarbeit – alles am authentischen Ort, im „Großen Ballettsaal“. Ein Schmankerl für wahre Fans!
Danach will man natürlich noch mal mehr sehen, also in eine Vorstellung dieser feinen, großen, strebsamen Spitzentruppe gehen. In gewisser Weise kann das Semperoper Ballett ja als Newcomer-Ensemble gelten, denn Ballettdirektor Aaron S. Watkin baut zielstrebig ein vielseitiges, auf Weltniveau tanzendes Ballett mit einer charakteristischen Ausstrahlung auf. Das Semperoper Ballett ist weder zickig noch blasiert, sondern eine weltoffene und publikumsfreundliche Compagnie – Leistung und Leidenschaft sind hier keine Widersprüche.
Dass der Superstar Jiří Bubeníček, der kommende Saison seinen Bühnenabschied nehmen will, in etlichen der Festival-Vorstellungen tanzt, so in „Nordic Lights“ am 3. Juli und in „Impressing the Czar“ am 5. Juli, ist ein Grund mehr, hinzufahren. Den tänzerischen Nachwuchs aus Dresden kann man dann am 7. Juli begucken: in der Soirée der renommierten Palucca Hochschule für Tanz.
Wer zudem den spezifischen Humor von Tänzern zu schätzen weiß, dieses wortlos-skurrile, aufheiternd-tiefsinnige Fluidum, der ist in Vorstellungen wie „Nordic Lights“ und „Impressing the Czar“ ohnehin genau richtig. Wer hingegen eine elegante Verbindung von Alt und Neu sucht, dem seien Watkins „Schwanensee“ und Dawsons „Giselle“ ans Herz gelegt – Ballette zum Mitfühlen und sich Hingeben!
Mitfühlen darf man auch beim Hamburg Ballett, wo der ewig scheiternde Abenteurer „Peer Gynt“ in der Neuchoreografie von John Neumeier am 28. Juni premiert. Die Musik, ein Auftragswerk aus den 80er Jahren, stammt von Alfred Schnittke, dem großen zeitgenössischen jüdischen Russen, der seinen letzten Lebensabschnitt in Hamburg verbrachte. Alina Cojocaru als Solveig und Carsten Jung als Peer machen genauso neugierig wie Anna Laudere als Peers Mutter und ein Quartett sprungmächtiger Herren als „Aspekte“ der Titelfigur, also auf die Bühne gebrachte weitere Neumeier’sche Musen. Solveigs Part ist in der Neufassung nach Henrik Ibsens Drama gestärkt, ließ Neumeier verlautbaren: Ihr lebenslanges Warten aus Liebe auf Peer sei keine Schwäche, sondern eine Stärke, und das solle zum Ausdruck gebracht werden.
Mit weiteren Stücken von John Neumeier, dem genialen Gründer und langjährigen Hausherrn vom Hamburg Ballett, geht es in der Hamburgischen Staatsoper weiter: Sein entzückendes Frühwerk „Romeo und Julia“ vermag ebenso in eine Welt für sich zu entführen wie das viel modernere, aber auch fantasy-like Spätwerk „Die kleine Meerjungfrau“. Zum letzten Mal für lange Zeit wird „Der Tod in Venedig“ zu sehen sein – mit der großartigen Pianistin und Dirigentin Elizabeth Cooper live am Flügel auf der Bühne. Ein Kultabend für Eingeweihte!
Mit „Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne“ und „Tatjana“ (nach „Eugen Onegin“ von Puschkin), mit „Giselle“ (die hier eine ganz andere ist als in Dresden!) und mit „Othello“ sind Repertoire-Stücke, die das Hamburger Publikum bereits kennt und schätzt, angesagt.
Am 2. Juli tanzt zudem Weltstar Diana Vishneva die „Tatjana“; allerdings ist Diana wegen ihrem krampfhaft auf jung getrimmten, nahezu mimiklos gewordenen Gesicht kaum noch als Künstlerin zu erkennen, sie gleicht eher einer schlechten Kopie von sich selbst. Auch ihre übertriebene „Altersmagerkeit“ machte sie in letzter Zeit bei manchen Fans nicht mehr ganz so beliebt wie früher. Leider gibt es dieses Phänomen bei verwöhnten Stars immer wieder, ob im Ballett, im Film oder einfach nur im wahren Leben: Wenn alles Streben nur noch dem jugendlichen Aussehen gilt, geht die Persönlichkeit darüber verloren. Manche Zuschauer merken das! Nur Annette Bopp von der Axel-Springer-Presse wird Diana ordentlich loben, wie sie das bei Bühnenstars mit Millioneneinkommen immer macht, scheinbar, ohne hinzusehen – dafür gab es schon genügend Beispiele in der Vergangenheit.
Gespannt darf man aber darauf sein, wie das zweitägige Gastspiel des Houston Ballet mit je drei Werken seines Ballettchefs Stanton Welch ankommen wird. Welch, der auch beim Staatsballett Berlin diese Saison ein Stück laufen hatte, pflegt einen grundsoliden, elegisch-meditativen, modern-geschmeidigen abstrakten Tanzstil, der sich mit den Größen der Branche durchaus messen kann.
Ein klassisch orientierter Publikumsrenner ist hingegen „Napoli“ in der Choreografie von Lloyd Riggins, beruhend auf dem Original von Auguste Bournonville, aber mit einem ganz neu kreierten, tänzerisch fabelhaften Mittelstück: Otto Bubeníček, Zwillingsbruder von Jiří Bubeníček, nimmt hiermit als eine Art Neptun mit Dreadlocks die Damen reihenweise in die Arme, während der großartige Lover-Tänzer Karen Azatyan in der männlichen Hauptrolle brilliert, sich aber auf eine Dame konzentriert. Ein lieblich-dramatischer Abend voll Witz und Esprit!
Höhepunkt der alljährlichen Ballett-Tage in Hamburg ist dann die abschließende Nijinsky-Gala: Dieses Jahr ist Svetlana Zakharova, die russische Jahrhundertballerina der Präzision, als Gaststar angesagt! Außerdem werden der energiegeladene dänisch-englische Star Johan Kobburg, das Chinesische Nationalballett, das Houston Ballet und natürlich das Hamburg Ballett und sein Nachwuchs vom Bundesjugendballett auftanzen. Versprochen sind: runde sechs Stunden Ballett-Marathon vom Feinsten!
Gisela Sonnenburg
Es gibt Berichte zu allen genannten Repertoire-Stücken hier im ballett-journal.de!