Pflasterschönheiten und Halbwelten arte zeigt mit "Let's dance!" eine ungewöhnliche dreiteilige Doku zur jüngeren Tanzgeschichte

Raimund Hoghe – ein Tanzperformer mit viel Erfahrung. Foto: arte

Raimund Hoghe – ein Tanzperformer mit viel Erfahrung. Foto: arte

Diese Doku ist schnell und heiß, hat aber mit RTL nix zu tun: „Let’s dance!“ heißt die dreiteilige Sonntagsserie auf arte, die seit dem 5. Oktober 2014 als Alternative zum Krimi die Entwicklung der Tanzkunst schildert. Aber wie! In harten Schnitten springt die Dramaturgie der beiden Filmautoren  Olivier Lemaire und Florence Platarets zwischen den Kulturen hin und her. Koryphäen aus dem Ballett wie aus der HipHop-Szene klären knifflige Fragen.

In der ersten Folge „Das ist Spitze!“ ging es um Füße. Da sind Ballerinen wie Marie-Agnès Gillot von der Pariser Oper. Sie wickelt Silikon und Pflaster um ihre Zehen, um dann auf selbigen anmutig dahinzutänzeln. Eine Inderin vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch bemalt sich lieber, wie vorm Tempeltanz, die Füße mit Henna. Ebenfalls im Ballettsaal! Der Choreograf Angelin Preljocaj weiß zudem, wieso die legendäre Isadora Duncan nur barfuß auftrat. Und HipHopper breaken um ihr Leben… als Straßenpflasterschönheiten, sozusagen. Eine private Ballettlehrerin darf allerdings ungestraft kindliche Anfängerinnen in Spitzenschuhen schief und falsch auf Spitze laufen lassen – man merkt, dass die Autoren nicht vom Fach sind und offenbar auch leider keine Hilfe hatten.

Der zweite Teil „Nackt!“ war dann vor allem der Halbwelt gewidmet, den nackerten Girls aus der Revue, wie sie im „Crazy Horse“ oder im „Moulin Rouge“ auftreten. Aber ob Ditta von Teese, die Burlesque-VIP, wirklich als „Choreographin“ vorgestellt werden sollte? High Heels wurden uns schon im ersten Teil als Sinnbild für den käuflichen Orgasmus angedient – ob Tanz und seine Verkäuflichkeit mittels Hüftschwung immer ein- und dasselbe sind, bleibt zu erörtern. So verschwammen hier die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, aber Raimund Hoghe, ehemaliger Pina-Bausch-Tänzer und seit langem als Behinderter ein Solo-Bühnenstar der freien Performance-Szene, durfte das Ganze retten. Und sehr seriös von sich und seiner Kunst, auch von seiner fundierten Meinung von Nacktheit auf der Bühne erzählen.

Der Starchoreograph Angelin Preljocaj war mit seinem textilfreien Opfersolo aus dem „Sacre du printemps“ auf einer wellenförmigen Kunstwiese wieder mit drin, wie schon im ersten Teil, auch er konnte gekonnt dsa Thema kommentieren. Aber dass John Neumeier als Erster das „Sacre“-Opfer nackig machte, und zwar 1972, wusste wohl niemand vom Filmteam. Auch, dass die Tanzlegende der Ballets Russes, Vaclav Nijinsky, kein Russe, sondern Pole war, entzog sich dem Wissen der Filmautoren. Schwamm drüber, dafür macht diese Doku mit ihrem fixen Tempo einfach Spaß!

Der dritte und abschließende Teil, am 19. Oktober zu sehen, hat dann wieder das Ganze im Blick: „Mein Körper gehört mir!“ spricht vor allem junge Leute an, die bisher noch nie über Tanz nachdachten. Die historische Diskriminierung der dunklen Hautfarben in den USA ist hier ein ungewöhnlicher, durchaus intellektueller Einstieg ins Thema. Auch wenn es rasch wieder in die Vergnügungstheater geht, zu fliegenden Baströckchen und steppenden Fred-Astaire-Verschnitten.

Ballett und andere Trainingstechniken, für die Formung des tanzenden Körpers unerlässlich und hoch wichtig, hätten da ruhig auch vorgestellt werden können, denn viele kennen die Wirkungen verschiedener Muskeltrainings nicht. Der mir gehörende Körper aus dem Titel will ja nicht nur ausgestellt, sondern vor allem mittels Training geformt werden!

Modische Transgender-Shows haben dagegen mit Tanz eher weniger zu tun als mit Kostümfetischismus. Dafür zeigen sie, wie stark die Auswirkungen des Werbeideals von „Schönheit“ in alle Bereiche hineingreifen.

Die Choreographin Doris Uhlich und der Choreograph Olivier Dubois, beide keine großen Stars, sondern eher dem Experiment verpflichtete Freiberufler, dürfen sich darin üben, auch „nicht-schöne“, etwa stark übergewichtige Menschen zu Tänzern zu machen. Why not? Uhlich gelingt damit sogar ein eigener, durchaus ästhetischer Stil auf diesem noch relativ neuen Weg, Tanz als Ausdrucksmittel zu betrachten.

AVANTGARDE AUF DEM STRASSENPFLASTER

In allen drei Teilen jeweils ein wandelndes Glanzlicht: ein jüdischer Homosexueller, der mit extravertierter Performance auf offener Straße auf sich aufmerksam macht. Vor allem behindert er sich vorsätzlich mit selbst gebastelten High-Heels-Ersatzschuhen. Aber auch seine oft viel Haut zeigenden Kostüme künden von artifizieller Marter und Selbstfetischisierung: Avantgarde auf dem Straßenpflaster.

Dagegen wirkt Marie-Agnès Gillot, Étoile an der Pariser Oper, nahezu redlich-sportiv orientiert. Wenn sie „Schwanensee“ tanzt, erschließt sich dem Ballettkenner eine moderne Interpretation der alten Choreographie. Denn Gillot verkörpert mit ihren breiten Schultern und ihren langen Mannequin-Beinen ein heutiges Schönheitsideal, keineswegs das des 19. Jahrhunderts.

Da kommt Butoh genau richtig: Ein alter Meister erklärt, wie ein Japaner sich vom Abendland abgrenzen und mit der japanischen Tanzmeditation seine eigenen Maßstäbe schaffen kann: „Durch den Kontakt mit den Europäern wurden wir uns unseres asiatischen Körperbaus bewusst, und das führte letztlich zur Erfindung des Butohs.“

Das auch in Europa in der Moderne veränderte Körpergefühl überzeugt dann vor allem beim Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch: Wie nebenbei führt „Let’s dance!“ den Beweis, dass Weltkunst mit Tiefgang auch in solchen Collage-Filmen hervorsticht und begeistert. Sich die ganze Serie auf arte+7 im Internet anzusehen, lohnt darum unbedingt: Die Infos sind extrem kompakt, und vor allem der erste und dritte Teil enthalten viel Wissenswertes.
Gisela Sonnenburg

„Let’s dance!“, arte, Sonntag, 19.10., 22.25 Uhr – und arte+7 (www.arte.tv)

 

 

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