Massenauflauf contra Individuum Mit „Wings and Feathers“ zeigt das Semperoper Ballett zwei Stücke voller Kampftanz zu Synthi-Musik

"Colossus" von Stephanie Lake im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Das Tanzensemble sitzt im Kreis – und wellenartige Bewegungen durchlaufen es. So zu sehen in „Colossus“ von Stephanie Lake beim Semperoper Ballett. Foto: Admill Kuyler

Der Wind pfeift aus den Boxen, Rauchschwaden wabern über die Bühne, grau in grau erscheint das Tanzfeld als edle Tristesse. Im Kreis sitzend, geben die Tänzer eine Bewegung weiter. Ein Einzelner erhebt sich, dirigiert mit Gesten die Bewegungen der anderen. Später bilden sich Gruppierungen. Mal drei, mal fünf sind zu sehen, als seien es verschiedene Interessensgruppen. Schließlich obsiegt die Gruppe über den Einzelnen, aber die Momente des Aufbegehrens bleiben irgendwie haften. Einige Dutzende Tanzende wirkt hier mit: 54 Tänzerinnen und Tänzer, davon ein guter Teil noch an der Palucca Hochschule für Tanz studierend, bilden eine Meute, die entweder blind gehorcht oder einen Einzelnen einzuschüchtern, zu manipulieren, mitzureißen und zum Außenseiter abzustempeln vermag. Das ist das Thema von „Colossus“ von Stephanie Lake, die es 2019 in Melbourne uraufführen ließ. Mit viel Akkuratesse und auch Fleiß bietet nun das Semperoper Ballett in Dresden damit eine Glanzleistung an Gruppentanz an. Das Stück erinnert übrigens an die Gruppenszenen – etwa des Anfangs – der „Carmina Burana“ von Edward Clug, welche etwa zeitgleich entstanden und im Jahr nach „Colossus“ in Kanada uraufgeführt wurde. In Dresden ergänzt nun ein frühes Stück des britischen  Starregisseur Akram Khan das Werk von Lake. Khans „Vertical Road“ („Vertikale Straße“, 2010 uraufgeführt, 2023 überarbeitet) wurde von einem Gedicht des altpersischen Dichters Rumi inspiriert und widmet sich ebenfalls der Auslotung des Kräfteverhältnisses von Einzelnen im Spannungsfeld zu anderen. Kampftanz mit ein wenig indischem Touch: Das ist stets der Stil von Khan, der zeitgenössischen Tanz studierte, seit 2000 eine eigene Company hat und seit seiner „Giselle“ – die beim Englisch National Ballet mit neuer Musik und walkürenhaften Wilis mit Stab-Kampftänzen herauskam – von London aus zum Superstar gepusht wird. Wildheit und Kontrolle, sexuelle Anziehung und der Wille zur Macht sind die Themen der „Vertical Road“.

"Colossus" von Stephanie Lake im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Gymnastik im Kreis oder tänzerische Einstimmung auf das Leben und Überleben in der Gruppe? „Colossus“ von Stephanie Lake zeigt beim Semperoper Ballett beides. Foto: Admill Kuyler

Doch zunächst drängt alles nach Nähe. Barfuß wie die Urmenschheit, aber in schicken schwarzen Unisex-Zweiteilern von heute (Kostüme: Harriet Oxley) tummeln sich die verlorenen Seelen. In Lakes „Colossus“ finden Gruppenbildung und Schreikrämpfe, Mechanisierung und ein Hauch von Menschlichkeit zusammen, bilden ein Konglomerat aus Vorgängen, die mit fast bevölkerungspolitischer Analytik seziert werden, obwohl sie ursprünglich aus dem Yogasaal stammen könnten.

Manchmal wird die Menschheit hier als Schattensilhouette interpretiert: gesichtslos, aber kraftvoll. Sind Menschen Kampfroboter? Und muss ein Mensch, der Mensch bleiben will, im HipHip-Stil einsam vor sich hin hoppeln, wie es hier am Schuss zu sehen ist?

Die Frage nach dem Kampfroboter stellt sich im zweiten Stück, dem von Akram Khan, erneut. Bei Lake aber wird zweifelsohne vor den Menschenrobotern gewarnt. Der Titel „Colossus“ bezieht sich zudem sowohl auf eine gleichnamige, im Zweiten Weltkrieg von den Briten verwendete Maschine zum Decodieren als auch auf einen ebenfalls gleichnamigen verfilmten Sci-Fi-Text. Colossus heißt darin ein monströses elektronisches Gehirn, das mit seiner Alleinherrschaft vorgeblich den Frieden sichern und die Menschheit künftig vor Krieg und allen Übeln bewahren will. Als Dank will es  geliebt werden – und erhält vom Menschen eine Abfuhr. Das ist keine wirklich gute Story, enthüllt aber die überzogenen Heilsversprechen der KI-Branche als durchsichtig und letztlich auch gefährlich.

"Colossus" von Stephanie Lake im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Mann und Frau im nicht wirklich zärtlichen Miteinander – zu sehen in „Colossos“ von Stephanie Lake. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Stephanie Lake, die Choreografin, stammt aus Kanada, wuchs in Tasmanien auf und ist in Australien schon ein  Star der Choreografie. Wer ihr Talent erkannte und ihr die ersten Jobs als Choreografin anbot, ist unklar. Bekannt ist nur, dass sie als Kind schon andere Kinder in Szene setzte, aber erst mit 19 Jahren Ballettunterricht nahm. Ein späteres Studium am Victorian College of the Arts in Melbourne hatte offenbar Folgen, ohne, dass man weiß, welche Fächer sie dort studierte.

Man muss also – wie bei vielen der neuen Choreografie-Stars, etwa auch bei Marcos Morau, der Fotografie und Bewegung studierte – annehmen, dass Stephanie Lake gute Verbindungen zu Geldgebern und anderen Entscheidungsträgern hat. Wobei Lake wohl auch mal als Tänzerin im Contemporary Dance unterwegs war, sogar mit  Gastspielen hierzulande – wo genau und womit, steht nicht in ihrer Vita.

2014 gründete sie jedenfalls ihr eigenes Ensemble in Australien. In Deutschland wurde sie dann durch deren  Gastspiel bei den Ruhrfestspielen bekannt. Für diese Spielzeit wurde sie prompt als „Artist in Residence“ beim Semperoper Ballett engagiert. Keine schlechte Wahl, wenn man die Radikalität bedenkt, mit der Stephanie Lake sich den Problemen des Miteinanders in einer hoffnungslos von der Menschheit überbevölkerten Welt widmet.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie! Unterstützen Sie so eine kompetente und kritische Berichterstattung, und sagen Sie nicht, sie ginge sie nichts an! Presse- und Meinungsvielfalt sind auch für Sie wichtiger, als Sie vielleicht glauben. 

Die Einengung, ja Abschaffung des Einzelnen in ihrem energiegeladenen Stück erinnert manche Zuschauer gar an den legendären Film „Metropolis“ von Fritz Lang. Damals, also 1927, als Lang seine Vision einer unterirdischen Arbeitermetropole drehte, ging es um eine Zweiklassengesellschaft. Doch von Arm und Reich ist im Stück von Stephanie Lake nichts zu sehen. Oder doch?

Vielleicht geht es hier um den Zufall, der regiert – und in jedem Fall um die Gefahr, in der sich die Menschheit befindet.

Bei Akram Khan sind alle Ängste eingeebnet. In „Vertical Road“ ist die Menschheit auf 13 Tanzende geschrumpft. Sie tragen am Oberkopf asiatische Knotenfrisuren und bodenlange, gefältelte Unisex-Gewänder an den Körpern. An den Füßen sind sie barfuß. Puder rieselt von ihnen herab, wenn sie sich bewegen. Ein Paar – Jón Vallejo und Sarika Emi – bildet das Zentrum. Ihnen gegenüber agiert die Gruppe als einheitlicher Chor, als habe Aristoteles höchstselbst das Tanzstück skizziert. Die Frau ist allerdings nicht besonders handlungsfähig, vielmehr ist sie für den Mann eine Projektionsfläche, als sei sie im Grunde leblos. Stocksteif und puppenhaft liegt sie in seinen Armen. Ob das ihre Frigidität darstellen soll?

"Vertical Road" von Akram Khan im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Toller Held, steife Frau: Das Frauenbild von Akram Khan ist etwas dürftig, das zeigt sich hier nicht zum ersten Mal. Szenenbild aus „Vertical Road“ von Akram Khan. Foto: Admill Kuyler / Semperoper Ballett

Der Held hier – der „Reisende“, wie es im Programmheft heißt –  ist hilflos, er sucht bei der Gruppe so etwas wie Orientierung, die er nicht bekommt. Und die Geliebte entgleitet ihm ganz.

Emotionale Synthi-Klänge sollen seinen Leidensdruck verstärkt darstellen. Trotzdem hätte ein Orchester in diesem Sinne mehr vermocht. Es ist ein Missverständnis zu glauben, nur weil E-Musik relativ neu ist, sei sie besser oder könne auch nur halb so viel leisten wie akustische Musik. Aber Politik und Wirtschaft drängen global nach manipulierenden, simplen Rhythmen statt nach vielschichtiger echter Musik – und langsam, aber sicher geht es der Klassik so an den Kragen. Insgesamt haben wir es ohnehin mit einer Militarisierung der Kultur, vor allem der Musikwelt zu tun, und Techno könnte man zum Beispiel als moderne Marschmusik interpretieren.

Irgendwann werden im modernen Ballett an den großen Bühnen keine Musiker, sondern nur noch Computersampler mit einem Hochschulabschluss in digitaler Musikherstellung benötigt. Die Opernhäuser schaffen sich dann wohl auch selbst ab – oder mutieren zu Allzweckhallen mit nostalgischer Note.

"Vertical Road" von Akram Khan im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Jón Vallejo tanzt ergreifend ein Solo gen Ende des Stücks „Vertical Road“ von Akram Khan, beim Semperoper Ballett. Foto: Admill Kuyler

Jemand wie Akram Khan wird sich darin immer pudelwohl fühlen. Hauptsache, es dröhnt (auch im Stück von Stephanie Lake war es so laut, dass es kein Fehler ist, die im Foyer verteilten Ohrstöpsel anzunehmen). Bei Khan verstärken nun  die Paukenschläge oftmals den Willen, Verzweiflung darzustellen.

Wie ein Pulsschlag zieht sich dieses Dröhnen durch das Stück.

Der liebende Mensch verliert darin seine Partnerin: Langsam verschwindet sie, löst sich auf wie ein Geist. Doch dann – und das ist der poetische Höhepunkt des Abends – taucht sie hinter einem von hinten durchleuchteten Bühnenvorhang wieder auf. Es ist allerdings ziemlich patriarchal, dass die Frau hier immer wieder nur das Objekt des Begehrens ist, und es auf der Bühne allein auf das subjektive Gefühl des Mannes ankommt.

Ansonsten spielt der Unterschied der Geschlechter hier keine große Rolle.

"Vertical Road" von Akram Khan im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Asiatische Knotenfrisuren zu antik gefältelten Gewändern: Mann und Frau als moderne Menschen bei Akram Khan in „Vertical Road“. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Traum und Realität, Wunsch und Welt verschwimmen. Arm und Reich aber sind für immer getrennt. Symbolisch berühren die Menschen den golden leuchtenden Vorhang, der auch für Reichtum oder Wohlstand stehen mag, von vorn und von hinten. Und so treffen sich ihre Hände, ohne dass sie direkt Kontakt miteinander hätten. Nähe als unerreichbares Ziel – wie schon in „Colossus“ befindet sich der moderne Mensch offenbar immer stärker in einer Isolation. Einsamkeit als drängendes Problem.

Schließlich endet der Abend in einer scheinbaren Traumwelt, in der Nähe und Distanz zugleich erfahrbar werden. Das Solo der männlichen Hauptfigur hier ist wie ein Rasen ins Reich des Vergessens – wutgeladen und dennoch vollkommen ohnmächtig. Wie traurig. Wie tragisch?

Der Jubel bei der gestrigen Premiere überstieg vermutlich noch die Erwartungen, und von den Tänzern wurde vor allem Jón Vallejo (als oben bezeichneter Held) frenetisch gefeiert.

Neu ist das Konzept von der Synthi-Musik zu einem depressiven Kampftanz allerdings nicht mehr. Und man muss sich fragen, ob man wirklich auf diese Weise die jahrhundertelange Tradition der Zusammenarbeit von Orchester und Ballett aufgeben will. Jede Tanzaufführung in einem Opernhaus, in der es keine Live-Musik gibt, trägt dazu bei.

Die starken Bilder des Dresdner Abends, dessen Titel „Wings and Feathers“ („Flügel und Federn“) sich auch auf die Teilnahme der so langsam flügge werdenden Tanzeleven beziehen soll, prägen den Nachgeschmack. Allerdings entstammen sie oft nicht den Choreografien, sondern dem bühnentechnischen Aufwand.

"Vertical Road" von Akram Khan im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Der Mensch – einsam und machtlos steht er dem Reichtum der Welt, der Wüste aus Einsamkeit (oder auch nur einem goldschimmernden Leuchtvorhang) gegenüber. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Von Rumi stammt der Aphorismus: „Binde zwei Vögel zusammen; sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.“ Das trifft für „Wings and Feathers“ allerdings nicht zu. Die beiden Stücke passen sehr gut zusammen – und hätten sie nicht das Manquo fehlender echter Musik, so wäre der Abend rundum empfehlenswert.
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.semperoper.de

"Vertical Road" von Akram Khan im Abend "Wings and Feathers" beim Semperoper Ballett

Blick zurück mit oder ohne Zorn? Finden Sie es heraus: In „Wings and Feathers“ beim Semperoper Ballett. Foto aus „Vertical Road“: Admill Kuyler

ballett journal