Es gab zwar keinen finalen Schlussapplaus dieses Mal beim Ballett Dortmund, aber sonst hatte der Samstagabend mit „Only Soloists! – Internationale Ballettgala XXXI“ alles, was das Gala-hungrige Herz begehrt: Klassik und Rasanz, Moderne und Experiment. Und: Innigkeit und Liebestanz, von internationalen Stars mit viel Lust und Laune dargeboten. Drei Highlight steigerten sich gen Ende, sogar bis zu einer Uraufführung: Chefchoreograf und Ballettdirektor Xin Peng Wang ließ einen Auszug aus „Die göttliche Komödie III: Paradiso“ voraufführen. Zwei Teile der „Göttlichen Komödie“ von Dante hat er bereits fulminant in Ballettabende umgesetzt, der dritte Teil wird voraussichtlich im Februar 21 komplett zu sehen sein. Fünf Ballettkünstler tanzten jetzt die ersten zu sehenden Schritte daraus, allen voran Stephanine Ricciardi. Eine hohe Ästhetik in schwarz-blauen Kostümen zeigte, wie befreit und sanft sich die menschliche Seele sich in Wangs Fantasie im Paradies vermutlich fühlen wird; der einzige Mann auf der Bühne (Matheus Vaz) reiht sich in die Damenwelt ein, ohne aggressiv vorzupreschen. Wenn es Nacht wird im Paradies, erklingen demnach moderne Sphärenklänge, die aus allem den Druck herauszunehmen scheinen. Gelöst und sympathisch, macht dieser Tanz unbedingt Appetit auf mehr – und Xin Peng Wang freute sich beim jubelnden Applaus für sein brandneues Stück Kunst zurecht.
Aber auch Lucia Lacarra und Matthew Golding wurden gefeiert, unmittelbar vor Wangs Uraufführung. Sie zeigten – wie schon im August 20 in Berlin – den anrührenden Pas de deux „Finding Light“ von Edwaard Liang. Auch Liang ist, wie Wang, gebürtiger Asiate, im Herzen aber vor allem, wie Xin Peng Wang, ein Weltkünstler.
Während Wang aus China stammt, in Peking und Essen studierte und die östliche und die westliche Kultur in seinen Werken eint, wurde Liang zwar in Taiwan geboren, aber bereits seit früher Jugend in New York City zum Ballerino ausgebildet. Derzeit leitet er das BalletMet in Columbus (Ohio, USA). Sein Gespür für Paare, die zusammen tanzen, ist phänomenal, was auch dieser Liebestanz voll Innigkeit beweist.
Hand in Hand – diese tänzerische Metapher spielt hier eine große Rolle. Vor allem aber bezaubern die Kraft und Anmut von Lucia Lacarra, dieser großartigen Primaballerina, die beim Ballett Dortmund als steter Gast eine künstlerische Heimat fand. Wie ein Kind, so zart und leichtfüßig, wirkt sie manchmal, und doch so feminin und selbstbestimmt, wie es nur eine Frau sein kann.
Mit Matthew Golding erwählte sie sich einen Partner, der sie wörtlich gern auf Händen trägt. Wie er sie führt, lenkt, hebt, dreht, auf sie wartet und sie absetzt, um sie erneut empor zu heben, ist ein Musterbeispiel für die Sinnlichkeit eines Mannes.
„Finding Light“ – das Licht zu finden – ist schließlich ein Hohelied der Liebe, einerseits hoch erotisch, andererseits fast spirituell zu nennen. Dass die barocke Musik von Antonio Vivaldi hier ganz erhaben wirkt, hat ihren Grund tatsächlich im Tanz – es ist nicht etwa umgekehrt.
Die Choreografie erlaubt sowohl Alltagsbewegungen als auch weithin stilisierte Details.
Licht und Nebel bilden hier die weiteren Zutaten, und die beiden Liebenden scheinen aus einer anderen Welt zu kommen.
Geht es ihnen hier ums Überleben oder um das Beieinanderbleiben bis zum Ende?
Die Choreo lässt beide Deutungen zu; entscheidend ist dieses überirdisch starke Gefühl der Zuneigung, das der Tanz der beiden übermittelt. Was für ein Körper gewordenes Gedicht!
Faszinierenden Paartanz boten aber auch Iana Salenko und Daniil Simkin vom Staatsballett Berlin mit einem unverwüstlichen Bestseller von Marius Petipa: Mit dem klassischen Gala-Evergreen aus „Le Corsaire“, der ursprünglich ein Pas de trois war (wobei der zweite Herr kaum etwas zu tanzen, sondern nur am Schluss eine Hebung zu vollführen hat).
Die Eroberung einer Frau, um sie zu beschützen, kommt eben niemals aus der Mode!
Voll Spielfreude und Wonne im Blick sprudelt Iana Salenko mit ihren flinken Beinen im knallblauen Tutu zur aufgedrehten Tanzmusik von Ludwig Minkus. Ihre Fouettés begeistern ebenso wie ihre Sprünge und ihre geschmeidigen Linien bei den Hebungen.
Daniil Simkin als ihr Partner trägt stilgerecht die Feder am Stirnband. Spritzig und rasant bewältigt er die hohen Sprünge, die er hier äußerst variantenreich zum Besten gibt, ebenso wie in dem witzig-absurden Solo „Les Bourgeois“ von Ben van Cauwenbergh, das er ebenfalls auf der Gala zeigte. Natürlich lagen die Fans ihrem Simkin nach beiden Stücken ebenso hingebungsvoll zu Füßen wie er selbst seiner Bühnenpartnerin am Ende des „Le Corsaire“-Pas de deux.
Ah, die Liebe zum Ballett ist doch eine feine Sache!
Ein weiterer Superstar musste aufgrund einer Verletzung leider fehlen: Friedemann Vogel vom Stuttgarter Ballett (gute Besserung von hier aus!) wollte eigentlich eine Kreation von sich und seinem Partner Thomas Lempertz zu Musik von Mozart uraufführen. Das wird nun wohl bei einer anderen Gelegenheit der Fall sein.
Für ihn sprang der Stuttgarter Newcomer Matteo Miccini ein, und zwar mit einem Solo aus „Ssss…“ von Edward Clug. Ruhig, gelenkig, mit unerwarteten Sprüngen gewürzt, aber im Ausdruck neutral, ist die Choreografie nicht wirklich berührend oder gar mitreißend. Aber Miccini gab zu Klängen von Frédéric Chopin sein Bestes, und sein Temperament, auch wenn es sich hier nicht frei entfesseln durfte, schimmerte doch begeisternd durch.
Ein emotional und tragisch stark besetztes Thema hat der Pas de deux „When I am laid in Earth“ („Wenn ich begraben werde“) aus der Barockoper „Dido und Aeneas“ von Henry Purcell. Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui hat so den Abschiedsschmerz von Dido in Tanz gefasst.
Es ist das Ende einer großen Leidenschaft. Der Liebende Aeneas wurde aber zuvor von Hexen darin getäuscht, dass Merkur ihn angeblich anwies, Dido in Karthago – die Liebe seines Lebens – zu verlassen, um in der Heimat seinen Pflichten nachzukommen.
Zwar ändert Aeneas angesichts des Schmerzes von Dido seine Absicht und bittet sie um Vergebung, aber sie schickt ihn dennoch weg. Denn schon allein, dass er gewillt war, sie zu verlassen, zeigt ihr, dass er sie nicht so stark lieben kann wie sie ihn.
Es ist zwar meistens in Beziehungen so, dass Einer stärker liebt als der Andere – aber für Dido ist das schmerzliche Vermissen des Geliebten ein Grund, den Tod zu wählen. Ihr Anspruch an die Liebe war zu groß, und sie kann ihr Leben darob nicht mehr retten. All dies kündigt sich in ihrem letzten Tanz mit dem Geliebten bereits an.
Der letzte Paartanz von Dido und Aeneas trieft also nur so vor gemischten Gefühlen: Die Situation ist getuned, als wären hier 60 und eine Soap-Folgen in eins auf den Punkt gebracht.
Das Tempo – Adagio – spiegelt denn auch die Empfindung des Abschieds, der nicht enden will.
Misako Kato und Hector Ferrer vom Royal Ballet of Flanders zelebrierten den schmerzhaften Liebesgenuss, der voll Wehmut und Entfremdung ist. Cherkaoui wiederum gelang es, mit Bewegungen am Boden, im Stehen, in der Luft die eigenartige Brisanz dieser Liebe zu spiegeln. Große Geste!
Davor becircte ein ganz anderer moderner Tanz, nämlich ein Stück aus den „5 Tangos“ zu Piazzolla-Musik von Hans van Manen. Artur Shesterikov von Het Nationale Ballet drehte hier auf, das Stück ist ganz kurz (nur zweieinhalb Minuten), recht hintersinnig und ziemlich brillant.
Wie ein Wirbelwind fegte Shesterikov über die Bühne, sich steigernd: von schnellen Schritten zu schnellen Drehsprüngen und zurück zu den eiligen Steps am Boden. Tja, rasch noch eine mehrfache Tour en l’air, eine vielfache Pirouette mit auf 45 Grad gestrecktem Spielbein – und zack, sitzt der Tänzer in feiner Pose auf den Knien, die Arme erhoben, den Blick gesenkt. Argentinisch oder auch spanisch wirkt das Ganze durch den zu Beginn verhaltenen Drive, der sich zu starker Temperamentsäußerung entwickelt. Olé!
Ein Liebestanz wie ein Zweikampf kann mit feuriger Leidenschaft aber auch entstehen. So mit Filipa de Castro und Carlos Pinillos vom National Ballet of Portugal. Das Land, in dem die Suade erfunden wurde, hat auch ein Faible für ganz moderne schwierige Beziehungen, so scheint’s.
Mauro Bigonzetti jedenfalls choreografierte zu Musik von Antongiulio Galeandro die fast vergeblichen Bemühungen eines Mannes, der seine Partnerin in fließende Bewegung bringen möchte. Sie aber hat wohl ihre Gründe, sich zu verweigern – puppenhaft bleibt sie so, wie sie es will und tanzt eben nicht nach seiner Pfeife. Auch mal sehr sehenswert!
„Les Bourgeois“ wurde oben schon als passioniertes Gala-Stück vorgestellt; mehr dazu bitte hier im Bericht über die Erstausgabe von „From Berlin with Love I“.
Das Eingangsstück zur internationalen Solisten-Gala in Dortmund gehörte allerdings ausnahmsweise nicht den Solokünstlern, sondern den begabten Nachwuchstänzerinnen und -tänzern vom NRW Junioballett.
Emma Garrison, Giulia Manfrotto, Rio Natori, Florencia Paez, Leonardo Cheng, Luigi Cifone, Márcio Barros Mota und Makysm Palamarchuck zeigten den Frühling aus Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in der gefühlt tausendsten Umsetzung in Tanz, dieses Mal in der musikalischen Bearbeitung von Max Richter und der Choreografie – nein, nicht von David Dawson, sondern von Raimondo Rebeck, dem Leiter und hauptsächlichen Choreografen der Minigruppe.
Vier Paare also streben hier nach voller Entfaltung, tänzerisch wie karrieretechnisch.
Es handelte sich um eine Uraufführung, und wäre ein wenig mehr Inhalt dabei, so könnte man vielleicht vollauf begeistert sein. Die kreativen Einfälle von Rebeck entbehren nicht des Reizes, aber insgesamt fehlt doch die Absicht, wozu hier überhaupt getanzt wird – außer, dass man halt so gerne tanzt.
Immerhin avancierten die acht JungtänzerInnen hier einmal zu Solisten, jede und jeder auf ihre und seine Art.
Alles in allem war die „Only Soloists! – Internationale Ballettgala XXXI“ die beglückende Einlösung eines heiß ersehnten Versprechens.
Covid-19 wird uns die Ballettlust jedenfalls nicht nehmen können, auch nicht beim Ballett Dortmund, wo es aus Schutzmaßnahmen heraus , wie eingangs erwähnt, zwar kein Applausfinale gab – aber schönes Jubeln nach den jeweiligen Einzelstücken („Nummern“ klingt im Gala-Kontext immer leicht despektierlich).
Kammersänger Hannes Brock moderierte – wie auch in den letzten Jahren – mit flotter, aber respektvoller Haltung. Auch und gerade, weil er die Mund-Nasen-Bedeckung nie ganz ablegte, sondern sie ihm während des Sprechens am Arm baumelte, gab er ein Vorbild ab.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg