Bye-bye, Kresnik! Der Choreograf Johann Kresnik ist gestern verstorben – mit ihm endet die Ära der Provokationskultur

Johann Kresnik, hier 2012 im Trailer zur „Sammlung Prinzhorn“ am Theater Heidelberg zu sehen, führte gnadenlos die Gnadenlosigkeit dieser Gesellschaft vor. Er wird fehlen! Videostill: Gisela Sonnenburg

In Österreich sagt man zum Abschied nicht leise „Servus“, sondern „Ba-ba“, mit Betonung auf der zweiten Silbe, was für „Bye-bye“ steht. Bye-bye, Kresnik! Weil der österreichische Choreograf Johann Kresnik gestern im Alter von 79 Jahren in Klagenfurt an Herzversagen verstarb, prasseln jetzt die Nachrufe der Medien in unterschiedlicher Qualität auf das Werk Kresniks nieder. Auch wenn es in den letzten zwei Jahrzehnten nicht mehr ganz so turbulent um ihn zuging: Keiner im deutschsprachigen Kulturzirkus war so auffallend wie er, niemand sonst vereinte derart viele Alleinstellungsmerkmale in sich und seinem Schaffen. Er war der wandelnde Inbegriff der künstlerischen Provokation, selbst Christoph Schlingensief, der in seinen Spuren ging, wirkte naiv gegen Kresnik. Politisch total links, ästhetisch total er selbst: Dass dieser polternde Außenseiter es mit seiner berserkernden Kunst in den Olymp des Establishments geschafft hatte, wirkt heute fast wie ein Wunder, kann aber als Beleg für seine Stärke gelten. Vor wenigen Wochen noch eröffnete sein wieder aufgenommenes Stück „Macbeth“ im Bühnenbild von Gottfried Helnwein– das 1988 uraufgeführt worden war – das Tanzfestival „ImPuls Tanz“ in Wien, und Kresnik erhielt zu diesem Anlass das „Goldene Verdienstzeichen der Stadt Wien“. (Anmerkung: „ImPuls Tanz“ – was ist das doch für ein bescheuerter, zudem inhaltlich irreführender Titel für einen Kunstevent!) Die Kraft der blutrünstigen Bilder, die Kresnik darin ersann, wirkte einmal mehr: „Macbeth“ zeigt in drastisch-kreativen Szenen die Mechanismen von Macht und Machtgier, von Machtmissbrauch und auch von Machtverlust.

Solche die Gesellschaft verderbenden Strukturen beschäftigten den großen Künstler lebenslang. Seine Bekenntnisse zum Kommunismus und zur Provokationskultur waren keine rein verbalen Behauptungen – er lebte sie und schmiedete aus ihnen sein künstlerisches Gefüge.

Blutrünstig, aber stets sinnvoll durchdacht kamen seine Metaphern einher.

Das Leben in der Hölle auf Erden als Frau – Johann Kresnik inszenierte das so drastisch wie sonst keiner. Hier ein Auszug aus der „Sammlung Prinzhorn“ am Theater Heidelberg. Videostill vom Trailer: Gisela Sonnenburg

Insbesondere politisch prägnante Frauenfiguren, die er ohne Umschweife als wandelnde Kunstwerke mit zeitgeistiger Aussagekraft sah, hatten darin viel Raum. „Ulrike Meinhof“ und „Hannelore Kohl“, „Frida Kahlo“ und „Rosa Luxemburg – Rote Rosen für dich“, „Gudrun Ensslin“, aber auch Leni Riefenstahl“ und, schon 1985 am Theater Heidelberg, „Sylvia Plath“, die amerikanische Lyrikerin, die durch Suizid starb, beeindruckten Johann Kresnik so sehr, dass er Werke zu ihnen schuf. Und trotz aller Rundumschläge, zu denen der Gesellschaftskritiker neigte, wurde er seinen Sujets stets gerecht.

Mit einer provokanten Sicht auf die Opfer der Gesellschaft beginnt denn auch sein choreografisches Werk: „O Sela Pei“ reflektierte 1967 das Leiden psychiatrischer Patienten. Auch Kresniks „Spiegelgrund“ von 2005 und die „Sammlung Prinzhorn“ von 2012 beschäftigten sich eindringlich mit diesem Thema, wobei der „Spiegelgrund“ – benannt nach einer Versuchsanstalt der Nazis, in der als nervenkrank eingestufte Kinder vernichtet wurden –  auch mit einem wesentlichen Aspekt der Verbrechen im Dritten Reich abrechnete.

Inhalte, wichtige Inhalte, wie Antifaschismus und Konsumkritik, waren für diesen Tanzmacherder Antrieb des Schaffens!

Und: Er wusste, dass nur Tanzen und nur Bühnenaktionismus nicht viel bringen.

Darum arbeitete Kresnik mit gewieften Dramaturgen und Autoren wie Christoph Klimke zusammen, mit dem 2010 auch am Staatstheater Cottbus eine bemerkenswerte Produktion entstand: „Fürst Pückles Utopia“.

Das ist nicht der Tannhäuser-Clown aus der aktuellen Tobias-Kratzer-Inszenierung in Bayreuth, sondern das ist ein Teil der Choreografie der „Sammlung Prinzhorn“ von Johann Kresnik, die bereits 2012 am Theater Heidelberg uraufgeführt wurde. Kresnik war seiner Zeit ganz offensichtlich voraus! Videostill vom Trailer: Gisela Sonnenburg

Natürlich entstammte Kresnik nicht einem blutleeren Kreis von Kunstinterpreten, die sich überwiegend mit Stilfragen beschäftigen, sondern einer Familie von Bergbauern, die, zumal im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit, die Härte und Brutalität des Lebens aus eigener Anschauung kannte.

Seine Mutter brachte ihn zum Kommunismus – womit Kresniks positives Verhältnis sowohl zu Frauenfiguren als auch zu linkem Gedankengut eine familiäre Basis hatte.

Neben seiner Lehrausbildung zum Werkzeugmacher arbeitete er in Graz als Statist am Theater und „schmuggelte“ sich dort in eine Tanzausbildung. Sehr erfolgreich! 1959 erhielt er in Graz sein erstes Engagement als Tänzer (er profitierte vom damals chronischen Männermangel in den Tänzerensembles), flüchtete aber vor der Einberufung ins Militär nach Deutschland.

In Bremen und Köln tanzte er weiter, bis er 1968 in Bremen Ballettmeister und Ballettchef wurde. Es folgten die Stationen Heidelberg und Bonn, dann leitete er das „Choreografische Theater“ an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter Intendant Frank Castorf. Bis sein Tanz dort, 2002, aus vorgeblich finanziellen Gründen wegamputiert wurde. Kresnik konnte aber nach Bremen zurückkehren, um dort wieder Tanzchef zu werden.

Viele stark beeindruckende Stücke waren auch zuvor schon in Bremen uraufgeführt worden, so die „Wendewut“, die 1994 beim Berliner Theatertreffen reüssierte. Dessen Theaterpreis hatte Kresnik schon 1990 erhalten. Als wütender Chronist der Schäden der Deutschen Einheit hat der Tanzmeister bis heute Bestand.

Das Schicksal von psychiatrischen Patienten beschäftigte Johann Kresnik und Christoph Klimke, seinen Dramaturgen, in der szenischen Umsetzung der „Sammlung Prinzhorn“, einem Konvolut aus Patiententexten. Videostill vom Trailer des Theater Heidelberg: Gisela Sonnenburg

Er nutzte die Chancen, die das in der Kunst tolerante Klima politisch interessierten Künstlern zu seiner Zeit bot: Orientiert am „Regie-Theater“ der Sprechtheaterbühnen, sagte Kresnik früh dem Ballett ade, erfand das Tanztheater einfach neu, spickte es mit immer neuen einprägsamen, auch deftigen Bildern – und er machte seine ureigene Wut über gesellschaftlich-politische Missstände zum vorherrschenden Gefühl in seinen spartenübergreifenden Inszenierungen.

Immer wieder widmete er sich den Frauen und ihrer vehementen Unterdrückung.

Im „Garten der Lüste. BSE“ ließ er eine Tänzerin – um spezifisch weibliche Qualen zu zeigen – in einem vermeintlichen Scherbenhaufen bibbernd und zitternd, flatternd und wie schwebend auftanzen. Ein Bild zum Weinen und Schauern, aber auch zum Bewundern und Aktivwerden.

Kresnik wollte keine lähmende Betroffenheit, sondern er wollte aufrufen, am besten zur Weltrevolution.

Einmal ließ er darum stundenlang Tierfleisch auf der Bühne brennen und verkokeln – der bestialische Gestank war für olfaktorisch Begabte allerdings kaum auszuhalten.

Die Entmenschlichung auf allen Ebenen war das große Thema von Johann Kresnik. Hier in den „120 Tagen von Sodom“ an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, seiner letzten Berliner Arbeit 2015. Foto: Thomas Aurich

Einen „Eulenspiegel von dionysischen Qualitäten“ habe ich Kresnik mal genannt. Und tatsächlich wirkten alle auf seinen Bühnen wie im Rausch, wenn ermal wieder die Übersteigerung der Gesellschaft ins Sichtbare inszeniert hatte: Die Raserei, der Furor, der Ausnahmezustand als Normalakt dekuvriert – das ist das Tempo, das ist der Nachdruck, mit dem Kresniks Arbeiten agieren.

Nacktheit mit und ohne Scham. Grausamkeit mit und ohne Verhüllung. Kunstblut ohne Ende. Gebrüll und Geflüster aus tiefstem Beweggrund heraus: Schonung kann man woanders suchen, nicht bei Kresnik.

Mit seiner letzten Berliner Arbeit, „120 Tage von Sodom“, die in seiner früheren ständigen Wirkungsstätte, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, entstehen konnte, zeigte Kresnik seinen Trampelpfad der drastischen Wahrheitssuche noch einmal besonders aussagestark: angeregt vom Marquis de Sade und von Pier Paolo Pasolini.

Zusammen mit dem Bühneneintänzer Ismael Ivo und seinem bevorzugten Bühnenbildner, dem Maler Gottfried Helnwein, erschuf Kresnik hier eine Landschaft des schier unendlichen Konsumgrauens, und der BND (Bundesnachrichtendienst) wurde darin genauso angeprangert wie die SS (die Waffen-SS der Nazis).

Faschismus als logische Schlussfolgerung des Konsumterrors, Sadismus als zweite Seite des Konsummasochismus.

Trauer mit doppeltem Boden: In der „Sammlung Prinzhorn“ von Johann Kresnik, uraufgeführt 2012 am Theater Heidelberg. Videostill vom Trailer: Gisela Sonnenburg

Für Zartbesaitete sind die Inszenierungen von Johann Kresnik, der sich zeitweise mit nur einem „n“ im Vornamen schreiben ließ und manchmal auch „Hans“ nennen ließ, allerdings oftmals schwer auszuhalten: Nicht nur laut, sondern auch derb kommen sie einher, und Harmonie findet man darin allenfalls als Negativschablone, gegen die sich der Allzeitwütende mit den ihm verfügbaren Händen und Füßen, Körpern und Kehlen seiner Tanzschauspieler wehrt.

Sei es wegen dieser Sperrigkeit, sei es wegen seiner inneren Haltung: Nachfolger hat Kresnik keine, würdige schon gar nicht. Christoph Schlingensief war der Letzte, der versucht hat, es ihm gleich zu tun, wenn auch nicht im Bereich Tanz, und der rund zwanzig Jahre jüngere Regisseur starb schon vor Jahren, 2010.

So geht mit Kresnik nun eine Ära zu Ende: die der Provokationskultur auf hohem Niveau, deren Macher noch daran glaubten, mit Kunst die Welt zu ändern.

Dass Kresnik die Wiederaufnahme des „Macbeth“ in Wien noch erlebt hat, ist eine Gnade des Schicksals, aber dass er keine weiteren Werke mehr erschaffen darf, ist eine grobe Ungerechtigkeit. Auch aus der Sicht der Nachwelt!

Zum Geleit einige poetische Worte von Sylvia Plath, die ein so anderes Schicksal als Kresnik hatte, aber manchmal so ähnliche Gefühle. Die Übersetzung des zitierten Gedichts stammt von Ute und Werner Knoedgen:

Spiegel

Ich bin silbern und genau. Ich habe keine Vorurteile.

Was ich auch sehe, verschlinge ich sofort,

 so wie es ist, nicht durch den Dunst von Liebe oder Abneigung.

 Ich bin nicht grausam, nur wahrhaftig.
Gisela Sonnenburg

 

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