Mit all seiner Lust und all seinem Schmerz 175 Jahre „Giselle“: Christopher Evans liefert beim Hamburg Ballett als wohl jüngster Hauptdarsteller dieses Stücks in der weltweiten Top-Liga eine absolute Neuinterpretation

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Ein Traumpaar: Carolina Agüero als „Giselle“ mit Christoher Evans als Albert beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Was wäre „Giselle“ ohne den Mann, den sie so liebt? Beim Hamburg Ballett triumphiert der erst 21-jährige Christopher Evans in der männlichen Hauptrolle dieses mysteriösen Liebesballetts, das 1841 in Paris uraufgeführt wurde und das John Neumeier 2000 fürs Hamburg Ballett modernisierte und teilweise ganz neu choreografierte. Evans, hoch und schlank gewachsen, ist Amerikaner, wurde aber im kanadischen Toronto ausgebildet und erhielt, nachdem er 2010 den Prix de Lausanne gewann, in Hamburg bei dem Neumeier-Pädagogen Kevin Haigen seine Prägung zum Profi. Seit 2012 tanzt Evans in der Compagnie – und ist schon Solist. Ein Frühstarter also, der zum Einen mit frisch-fröhlicher Sprungkraft und optimal gestreckten Füßen auffällt, der zum Anderen aber auch über eine starke Bühnenpräsenz und ein breites darstellerisches Spektrum verfügt. Doch kann man mit noch nicht einmal 22 Jahren den Albrecht bzw. den Albert, wie dieser Herzog bei Neumeier heißt, vollständig austanzen und zudem mit den formalen Stilmitteln des Balletts glaubhaft machen? Das ist schon eine Herausforderung. Es handelt sich nämlich weder um eine eher simpel gestrickte Romeo-Rolle noch um einen der typischen naiven Märchenprinzen. Sondern um einen skrupellosen Frauenverführer, der ein doppeltes Spiel spielt – und der selbst fast dabei drauf geht.

Da wird eine gewisse Reife oft voraus gesetzt, und normalerweise tanzen Ballerini den Albrecht oder Albert, wenn sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere wähnen. Das ist in Moskau so, in Sankt Petersburg, in Berlin, in Paris, in London, in Dresden, in New York. In Hamburg aber hat Alexandr Trusch, der damals 25 war, bereits 2014 eine phänomenale Steilvorlage dafür hingelegt, wie der Albert als ganz junger Mann vorzustellen und zu charakterisieren sei. Auch Trusch ist übrigens von Neumeiers Talenteschmied Kevin Haigen geformt, der wiederum selbst seinen ersten Welterfolg als Tänzer im Alter von 22 Jahren hatte – allerdings nicht in einer abendfüllenden klassisch-romantischen Rolle, sondern in der für ihn von Neumeier maßgeschneiderten „Josephs Legende“. Christopher Evans aber, der als Albert in „Giselle“ während eines Gastspiels in Baden-Baden debütierte, ist ein ganz anderer Typ als Trusch oder Haigen und hat, mit seiner betont jungmännlichen Art, auch ein ganz anderes Temperament. Er erinnert mal an Roberto Bolle, mal an den jungen Laurent Hilaire, hat aber soviel eigenes Flair, dass man nicht zuviele Vergleiche bemühen sollte.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Ganz in der Rolle, ganz psychologisch plausibel: Christopher Evans als Albert in „Giselle“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West (Ausschnitt des unten stehenden Bildes)

Nur der Rollenvergleich zu Alexandr Trusch sei noch gestattet. Weniger lyrisch, dafür verspielter; weniger inbrünstig, dafür seriöser; weniger sinnlich, dafür draufgängerischer legt Evans den Albert an. Und siehe da: Evans’ neuartige Interpretation dieser klassischen Romantikpartie besorgt wie nebenbei eine viel stärkere Verklammerung der beiden Teile des Balletts. Eine Neuinterpretation kann halt manchmal mehr als nur eine Figurenzeichnung ändern – hier macht sie das ganze Stück umso interessanter.

Gleich zu Beginn fällt Christopher Evans schon mal auf: durch seine Ausstrahlung. Die ist da, und die hat er schon sehr professionell im Griff. Man muss sie fein dosiert rauslassen; es darf nicht nach Rampensau aussehen. Manche Jungtalente vertun sich da, was verzeihlich ist, aber stört. Christopher muss hier nix mehr erzählt werden: Es ist ein Kennzeichen großer angehender Stars, dass sie ihre Wirkung wie mit einem Dimmer regulieren können. Um dann sowohl als von innen leuchtende Gestalt erscheinen zu können als auch als langsam aufgedrehte oder auch erlöschende Leuchtquelle.

Im Fall von Jungstar Christopher Evans muss man sich keine Sorgen machen: Er ist erfrischend uneitel und nicht zu selbstbezogen im Spiel, vielmehr sucht er den Blick- und Körperkontakt mit seinen MitstreiterInnen. Seine Aura ist auch nicht erschlagend, sondern anheimelnd – und er vermittelt zudem eine große Offenheit für jedweden Austausch.

In der Regie von Lloyd Riggins, dem designierten Neumeier-Nachfolger als Intendant vom Hamburg Ballett, der Christopher Evans in dieser Rolle überwiegend coachte, entwickelt der Solist eine deutliche, fast realistische Spielweise, die für meine Beobachtung einzigartig ist. Seine Pantomimen sind klar erkennbar, ohne überzogen zu sein, und die Gestik und Mimik wirken zeitweise fast so naturalistisch wie aus einem zeitgenössischen Kinofilm importiert.

So trauert er fassungslos an Giselles Leichnam, bevor er sich mit der weißen Blume, die das Symbol ihrer Liebe und seiner Unreife ist, in den Raum stellt, um die Zeit zu verlieren. Er erinnert sich… und lässt die Blume fallen…

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Christopher Evans, 21, liefert nicht nur aufgrund seiner Jugend eine Neuinterpretation des Albert in John Neumeiers „Giselle“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Sein Kumpel Wilfried, von Graeme Fuhrman mit der nötigen Kühnheit gespielt, überrumpelt ihn, die beiden tollen herum, messen ihre Kräfte. Sie sind etwa im selben Alter – hier zahlt es sich bereits aus, dass Albert kein verlebter Dandy ist. Als sich dann eine Gelegenheit bietet, klopft der vom Prahlen aufgeputschte Jungspund Albert an Giselles Haustür – und versteckt sich, ihr gewissermaßen spielerisch auflauernd. Wir befinden uns ab jetzt für eine Weile im überlieferten Choreografie-Text der „Giselle“ von Jean Coralli und Jules Perrot aus Paris.

Carolina Agüero als Giselle hat somit ihren zauberhaften, fast surreal-fröhlichen Auftritt, als sie verliebt und lebenslustig in die Sonne tritt und ihre berühmte Balloné-Runde absolviert. Sie ist eine Giselle zum Anbeißen, so leichtfüßig, so erotisch, so graziös. Und sie wirkt mit Christopher Evans so elastisch wie eine 20-Jährige, dabei aber auch so selbstbestimmt, wie es ein gut erzogenes Mädchen auch in diesem Alter sein sollte.

In den Pas de deux erweisen sich beide als Glücksfall füreinander: der schlaksig-ranke Christopher Evans mit seinem galant-charmanten Gesichtsausdruck und seiner direkten Art, und die feminine, nicht zu zierliche, aber sehr anmutige Carolina Agüero, die ursprünglich aus Argentinien kommt und vor ihrer 2006 beginnenden Karriere beim Hamburg Ballet schon beim Finnischen Nationalballett große Rollen wie die Odette / Odile im „Schwanensee“ und Aurora in „Dornröschen“ getanzt hat.

Giselle ist allerdings, neben der Titelrolle in Neumeiers „Sylvia“ und auch neben der Emilia in seinem „Othello“, ein typisch Hamburgerisches Meisterstück der Agüero: die klar-geradlinige, dennoch fließende Linienführung von John Neumeiers Stil durchdringt auch hier, im traditionellen Teil, ihre Darbietung. Wunderbar frisch wirkt das!

Evans wiederum partnert seine Giselle behutsam genug, um sie gleichsam zu charmieren, aber auch resolut genug, um sie männlich emporzuheben, durch die Luft zu wirbeln oder, wenn sie auf einem Spitzenschuh steht, behende zu drehen. Ob Arm in Arm oder Hand in Hand: Die zwei sind ein Pärchen der Lebenslust, wie es im imaginären Drehbuch steht.

Ein weiteres Highlight bietet aber auch stets der so genannte Bauern-Pas-de-deux, und hier gab es in der Vorstellung am 19. Februar 2016 eine besondere Überraschung: Für den angekündigten Karen Azatyan war Aleix Martínez eingesprungen, der so endlich mal mit Leslie Heylmann ein Aufsehen erregendes Bühnenpaar abgab. Ha, und was für eins!

Beide Partner sind ein Stück weit burschikos, Aleix im Zuge seines stets adretten Tanzes, Leslie im Verein mit ihrer kecken Weiblichkeit. Da passt was, da ergänzt sich was: Zusammen ergeben die zwei ein Superpaar mit eigenem Gusto, das zudem unisono sauber auswärts tanzt – und mit entzückenden, stets parallel und synchron gesetzten Linien berückt. Aleix, der sonst oft noch etwas kindlich-androgyn wirkt, entfaltet hier endlich mal ein Stück weit machohaftes Flair, das aber durchaus angebracht ist. Und Leslie, die Perfektionsbombe, lässt sich von dem immerzu nach Expressivität drängenden Aleix mitreißen, sie hat ihren Meister gefunden: Man möchte gern mehr von dieser energiegeladenen Paarkombination sehen. Auf ballettisch: Heylmann and Martínez for couple on stage, please!

Auch beim ländlichen Festtanz mit dem hochkarätig harmonisch tanzenden Ensemble bestehen diese Paarkombinationen: Agüero-Evans und Heylmann-Martínez, fast wünscht man sich ein Quartett mit Ensemble, nur für sie choreografiert.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Miljana Vracaric als Mutter und Carolina Agüero als „Giselle“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Zuvor muss aber auch Miljana Vracaric genannt werden. Sie tanzt in Neumeiers Inszenierung die blinde und hellseherisch begabte Mutter Giselles. Miljana zeigt sich mit dramatischen Tanzpantomimen, die sie aber so zart und künstlerisch vorführt, dass sie nachgerade natürlich wirken. Da sie noch so jung ist, wirkt sie für mich stets wie die jüngere Schwester von Giselle – und nicht wie deren Mutter – was aber der intimen Besorgtheit und der familiären Fürsorge, in die diese Figur verwickelt ist, keinen Abbruch tut. Sie warnt Giselle mehrfach vor dem Verführer Albert, sie ahnt, dass die zarte Giselle mit ihm draufgehen und als verzauberte Wili im Wald enden könnte.

So kommt es denn auch, nachdem Emilie Mazon als köstlich überkandidelte, aber auch neckisch-liebliche Bathilde erst versucht, mit Giselle Freundschaft zu schließen, um ihr dann Albert als ihren Verlobten vorzustellen.

Die Luft brennt – und zwischen den drei Personen auf der Bühne scheinen sich plötzlich Abgründe aufzutun! Mazon füllt ihre gewiss nicht einfache Rolle mit komischer Infantilität einerseits und rührender Naivität andererseits. Wenn sie lacht, weil sie glaubt, ihr Verlobter mache Witze, lacht die ganze adlige Jagdgesellschaft, die sich auf der Bühne eingefunden hat, gleich mit. Aber mit einer flotten Bewegung streckt sie ihre Hand zum Kuss für Albert aus, herrisch fast, passend zur Rolle der verwöhnten Reichen, und der Herzog muss Farbe bekennen, zu wem er gehört. Er küsst die Hand seiner Verlobten, er ist ergebenst, er ist immer der Ihrige, gnädiges Fräulein: Selbstverständlich regiert die soziale Hackordnung und kein revolutionäres Liebesgefühl.

Für Giselle ist es dadurch mit allem vorbei, mit allem, was sie erhofft hatte, mit allem, was sie gefühlt hatte. Sie tanzt einen irren, wirren Zickzacktanz; hier gibt es nicht die klassisch-traditionelle Wahnsinnsszene aus „Giselle“, sondern einen modernen Ausdruckstanz fürs Irrewerden.

Christopher Evans als Albert kann da nur reagieren, und dass er so jung ist, passt zu diesem Immerdrauflos-Liebhaber, der erst baggert und dann nachdenkt, statt umgekehrt. Jetzt ist es zu spät, den Schaden zu begrenzen – als Giselle stirbt, nach einem letzten Pas de trois mit Albert und seinem Rivalen Hilarion (mutig-toll wie immer von Carsten Jung getanzt), fällt auch Albert in sich zusammen. Dieser aus Liebessucht betrügerische junge Herzog, der sich als einfacher Dörfler ausgegeben hatte, um Giselle, das Mädel vom Land, zu verführen, er ist entlarvt und gestraft – und er begreift, dass er nicht nur Giselles Leben, sondern auch seinem eigenen den Boden entzog.

Im nächtlichen Wald, wo Giselle begraben liegt – was im Urtext von 1841 einen Hinweis auf ihre mindere Ehrbarkeit bedeutete – finden sich die Mutter und Hilarion ein. Sie trauern, jede(r) für sich. Als die ersten Nebel aufziehen – und in ihnen tanzende Geistfrauen, die Wilis – geleitet Hilarion seine einstige Wunschschwiegermutter in die Kulissen.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Wovon träumt der Mann? Richtig. Von einer geheimnisvoll verschleierten weiblichen Gestalt… hier Leslie Heylmann als Myrtha in John Neumeiers „Giselle“. Foto: Kiran West

Das Corps der Damen, mit duftigen Vollschleiern an Bräute erinnernd, hat nun alle Hände, alle Füße voll zu tun und begeistert: mit einem Reigen aus anmutiger romantischer Spitzentänzelei. Myrtha, von Anna Laudere mit erhabener Striktheit getanzt, und ihre Novizinnen Zulma (zart: Mayo Arii) und Moyna (sinnlich: Futaba Ishizaki) bilden die glänzende Trias der Führungsspitze. Dass im Corps Ballettschülerinnen dabei sind, bemerkt man übrigens kaum – schwierige Balancen und vor allem die Synchronizität bei komplizierten Schrittkombinationen gelingen sehr gut.

Die Paartänze zwischen Albert und Giselles Geist sind dennoch das Wesentliche.

Und da kommen wir zum springenden Punkt dieser speziellen Besetzung: Christopher Evans tanzt zwar melancholisch-schwermütig, auch inspiriert-leidenschaftlich in diesem zweiten Akt, aber er verzichtet auf das völlige Durchgeistigtsein, dass dieser Rolle sonst abverlangt wird. Normalerweise kippt Albert oder Albrecht vom Herzensbrecherstatus im ersten Akt in den des vor Kummer Entrückten im zweiten Akt. Aber ist das immer nötig? Evans zeigt: Nee, es geht auch anders.

Na, in seiner Jungmannversion klappt das vorzüglich! Und es macht auch in der Rückschau Sinn: Dieser Albert ist kein hinterfotziger Betrüger gewesen, sondern einer, der schlicht seinen Gefühlen folgte. Er war ein impulsiver Betrüger, aus Lust heraus, und nicht aus Lust am Betrug, sondern aus Lust an der Liebe.

Da war nichts kalkulierte Lüge oder Heuchelei, wie bei anderen Alberts oder Albrechts.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Albert alias Christopher Evans nimmt den Realismus mit in den zweiten Akt von „Giselle“: Hier zu Füßen der Wilis schmachtend, beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Da war noch nicht mal die vorgetäuschte Absage der Verlobung, nicht für eine Sekunde. Der Albert von Christopher Evans streitet nichts ab, und er kann oder will auch nur halbherzig kaschieren, was Sache ist. Er hat darüber sowieso noch nie nachgedacht! Und es auch noch nie tun müssen. Er ist kein gewohnheitsmäßiger Schürzenjäger, wie so viele andere Alberts und Albrechts. Dieser hier ist da so reingerutscht in die Sache, er wollte eigentlich nur lieben, und das, ohne an die Konsequenzen zu denken…

In Neumeiers Inszenierung funktioniert das hervorragend. Das ist im Urtext der „Giselle“ aber anders, darum warne ich vor Nachahmern in einer eher traditionellen Version.

Beim Hamburg Ballett aber ist Albert im zweiten Akt nicht mehr zwangsläufig wie ausgewechselt. Mit Christopher Evans ist der Bruch zwischen dem Dorfakt und dem Waldakt nicht mehr so groß; Albert geht in den Wald, wie er zuvor an Giselles Leichnam saß. Gebrochen und geschockt, aber keineswegs poetisiert bis zum ätherischen Höchstmaß. Er nimmt vielmehr ein Stück Naturalismus oder wenigstens Realismus mit in den Wald – und verbindet somit beide Welten durch die eigene Person.

Seine Psychologie ist allerdings stark verändert. Aus dem lustig-munteren Burschen aus dem ersten Teil wird ein nachdenklich-bereuender Mann. Albert reift durch seinen Kummer, er wird erwachsen – und begreift, was er an Verantwortung hätte übernehmen müssen.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Emotionaler Schmerz – und nicht nur Liebe – liegt in den Gesten der Tanzenden… Carolina Agüero als „Giselle“ und Christopher Evans als Albert beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Jetzt muss er schmerzlich all das vermissen, was ihm zuvor das Leben so lebenswert gemacht hatte. Auch das ist neu an diesem Albert: Er verlor nicht nur Giselle, sondern auch seinen Maßstab des guten Lebens.

Evans vermag es, diese psychologische statt poetisierte Sorge mit seinem Tanz auszudrücken. Es ist echter emotionaler Schmerz, nicht ein lyrisches Substitut.

Technisch hat Evans sowieso null Probleme, diese Partie zu meistern, seine Sprünge sind delikat und feinfühlig, hoch und sanft federnd. Er ist ein Traumtänzer, ganz ohne Frage!

In den hohen Sprüngen und den berüchtigten 32 Entrechats six der traditionellen „Giselle“-Choreografie, die Neumeier übernahm, zeigt sich hier auch der Charakter seines Alberts. Was von den Wilis als Probetanz und auch als Versuch, ihn sich tottanzen zu lassen, gemeint ist, wird zum Charakterbild Alberts: Er ist ein gerne Kämpfender, ein Durchhaltender, ein Tapferer. Einer, der nicht nur am Leben hängt, sondern auch einer, der auch mit seiner verlorenen Liebe noch ins Reine kommen will.

Albert ist hier nicht nur Gefühl oder Gefühligkeit und sonst gar nichts… er ist vielmehr jemand, der lernt, durch die Konfrontation mit den Wilis und mit dem Geist Giselles Konflikte auszuhalten und zu lösen.

Die große weiße Blume, die er mit sich führt, symbolisierte ja seine Unreife, seine dadurch verdorbene Liebe.

Am Ende, nach vielen wunderschönen Hebungen und Umarmungen, nach knienden und umwickelnden Posen mit Carolina Agüero als Giselle, gibt der Geist seiner Geliebten Albert darum eine rote Blume in die Hand, als Abschiedsgabe – sie scheint direkt aus John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ entlehnt, es ist dort eine Wunderblume, deren Saft Liebestollheit bewirkt, die im Wald der Wilis aber das Leben pur versinnbildlicht.

Giselle wünscht ihrem Albert, dem sie mit ihrem Geistertanz das Leben rettete mit all ihrem Herzblut wieder Lust am Leben, und sie verwünscht seine Depression und seine Zweifel, sie will ihm Kraft geben, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und es neu zu gestalten, und zwar ohne sozial arrivierte, aber oberflächliche Damen wie Bathilde.

Die Zeichen der Liebe sind in diesem Stück vielfältig und vielschichtig, zumeist sind sie durch die Choreografie festgeschrieben. Christopher Evans und Carolina Agüero aber machen etwas Eigenes, etwas Neues daraus, indem sie eine Liebesgeschichte tanzen, die sie so gerade erst erfunden haben. Das ist wunderbar modern – und darum dieser Neumeier’schen „Giselle“ sehr angemessen.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Ein Blick auf die Homepage von Nathan Brock zeigt, wie sich der neue Ballett-Dirigent vom Hamburg Ballett selbst im Internet präsentiert. Mal reinhören! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Dass zudem mit dem Kanadier Nathan Brock ein neuer Dirigent in Hamburg an Land gezogen wurde, erfreut das Gehör: Brock dirigiert melodisch-romantisch, nicht zu träge, und er stimmt das Orchester auf die Tanzenden ab. Dabei ist er als internationaler Ballett-Dirigent noch relativ neu; er arbeitete zuvor in Zürich an der Oper und als Dozent an der Hochschule – und er erarbeitet sich erst seit 2008 zunehmend Meriten als Dirigent. Auch hier war also ein Talent zu entdecken.

„Giselle“, sie wird in diesem Jahr 175 Jahre alt – in Hamburg hat sie aber gut lachen. Es wird übrigens eines dieser freundlichen Gekicher in Sopranhöhe sein, das die Ballerinen in so manchen Neumeier-Stücken von sich geben dürfen, zum Beispiel in „Die kleine Meerjungfrau“, aber das ist schon wieder ein anderes Thema… Ebenfalls ein anderes Thema ist, dass die Vorstellungen der „Jungen Choreographen“, also die taufrischen Tänzerchoreografien vom Hamburg Ballett, schon kurz nach Beginn des Vorverkaufs ausverkauft waren, weil die kleine Opera stabile, der Veranstaltungsort, schlicht und ergreifend zu klein ist für den Publikumsandrang.

Eine Neuinterpretation in "Giselle" ist nicht falsch.

Kiran West, der neue Fotograf vom Hamburg Ballett, der bis vor kurzem dort Tänzer war, der aber schon 2010 gute Fotos ablieferte, übt sich auch schon in der Schlussapplaus-Fotografie. So zu sehen auf seinem Facebook-Account. Hier erhält „Giselle“ Carolina Agüero die wohl verdienten Blumen. Ein Geschenk an die ewige Giselle und an die ganze Compagnie wäre aber sicher auch ein neuer, größerer Ort für das alljährliche Programm der „Jungen Choreographen“, deren Publikum definitiv nicht in die Opera stabile passt. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und das ist in Hamburg kein neues Problem – vielleicht könnte man sich für 2017 mal eine größere Bühne für den Choreografennachwuchs suchen… ich bin mir sicher, dass auch das ganz im Sinne von Giselle ist, und es wäre nicht das schlechteste Geburtstagsgeschenk, das man einer so begehrten Tanzikone symbolisch machen kann. 
Gisela Sonnenburg

P.S. Eine Anmerkung: 2013 gab es beim Mikhailovsky Theater in Sankt Petersburg mit dem 1991 geborenen Petersburger Victor Lebedev auch einen so jungen Albrecht in „Giselle“, der Ballettchef damals dort: Nacho Duato, heute in Berlin Ballettintendant. 

Weitere Texte zur Hamburger Inszenierung:

www.ballett-journal.de/neumeier-giselle/

Und von da aus geht es weiter zu anderen Texten zur Inszenierung…

Für „Giselle“-Fans auch wichtig: Wenn die „Giselle“ in Hamburg pausiert, gibt es Anfang März beim Staatsballett Berlin ein kleines „Giselle“-Festival, mit vier aufeinander folgenden Abenden von „Giselle“ in der Version von Patrice Bart: in verschiedenen Besetzungen, darunter auch Gäste vom Zürcher Ballett in den Hauptrollen!

www.hamburgballett.de

www.staatsballett-berlin.de

ballett journal