Weiße Furien und schwarze Magie: Wahrheiten über Romantizismen John Neumeiers 206. "Ballett-Werkstatt" widmete sich der klassisch-romantischen und der modernisierten "Giselle". Ein Essay.

Vorsicht, dieser Aufsatz enthält ein Stück Ballettdramaturgie!

Zunächst wird die 206. „Ballett-Werkstatt“ in Hamburg reflektiert, die dem Ballett „Giselle“ gewidmet war. Dann wird der spirituell interessante zweite Akt dieses Balletts ins Visier genommen. Dabei werden verschiedene moderne Interpretationen mit der traditionellen Version des „Wili“-Phänomens abgeglichen sowie die soziokulturellen Hintergründe dieser Figuren beleuchtet.

John Neumeier grüßt sein Publikum

Weltberühmt und heiß begehrt: John Neumeier bei einer seiner legendären Ballett-Werkstätten. Foto: Holger Badekow

Hamburg, Sonntagvormittag, 19.10.14, 11 Uhr. Wie immer bei einer „Ballett-Werkstatt“ des Hamburger Doyens John Neumeier herrschte eine aufgekratzte, fröhliche Stimmung in der Staatsoper. Schließlich freuten sich die meisten im Publikum lange auf diesen Matinee-Event: Es ist nicht einfach, eine Karte zu bekommen, und es empfiehlt sich, sofort, wenn der Vorverkauf beginnt, mit dem Einkauf tätig zu werden. Man kann aber natürlich auch auf das segnende  Glück des Zufalls hoffen und unmittelbar vor Beginn noch eine Karte von einem Besucher erstehen, der – aus was für Gründen auch immer – eine abzugeben hat. Eine Bekannte von mir kam sogar schon zwei Mal ganz spontan aus Stuttgart an die Elbe hochgefahren – und erhielt prompt jeweils eine Eintrittskarte. Dabei war sie jeweils noch nachts ins Auto gehüpft und auf gut Glück angereist.

Das Thema der 206. „Ballett-Werkstatt“ am 9. September war unbedingt geeignet, solche abenteuerhaften Spontansehnsüchte auszulösen: „Giselle“, eines der bekanntesten klassisch-romantischen Ballette, stand auf dem Speisezettel. Eine Delikatesse, die John  Neumeier mit dezidierter Fachkenntnis und passionierter Rhetorik zu kredenzen wusste. In hellgrauem Shirt und dunkelblauem Trainigsanzug erklärte er – weil die Romantik ja ein Schwerpunkt seiner aktuellen Spielzeitkonzeption ist – zunächst das Selbstverständnis seiner Hamburgischen Balletttruppe: „Wir sind eine kreative klassische Compagnie!“ Für ihn als deren Chefchoreograph sei die „lebendige Action“ besonders wichtig: bewegte Dramatik als Urgrund von Theater, im Gegensatz zu musealen, nur ausstellenden Künsten. Darum kreiert Neumeier lieber neue Versionen von alten Ballettthemen, als die tradierten Versionen aufzuführen.

VERFÜHRT UND SITZEN GELASSEN

„Giselle“ erzählt die Geschichte eines in Liebesdingen betrogenen Dorfmädchens, das nach seinem tragischen frühen Tod zu einer „weißen Frau“ – also zu einem Geist – wird. 1841 wurde das Ballett in Paris uraufgeführt und löste bald auf der europäischen Beliebtheitsskala den seit 1832 gefeierten romantischen Abend  „La Sylphide“ ab. Auch darin gibt es weiße, geisterhafte Frauen, die allerdings sterblich sind, hingegen die weißen Furien in „Giselle“ bereits Untote sind.

John Neumeier interpretierte im Erzählfluss den tänzerischen wie den sozialpolitischen als auch den rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund von „Giselle“. Und er plauderte aus seiner Sammlung, die wohl mal in ein Museum gewandelt werden wird: Dort bewahrt er ein altes Paar Spitzenschuhe aus dem 19. Jahrhundert – und weiß zu berichten, dass diese Tanzschühchen damals ganz leicht, weil ohne harte Sohlen und Zehenstützen waren. Die Tänzerinnen mussten ohne Plafond an der Spitze auf selbiger stehen. Weshalb sie auch noch nicht so lange „oben“ bleiben konnten wie spätere Ballerinen.

Die erste Version in der Choreographie von Jean Coralli und Jules Perrot wurde 1850 in Sankt Petersburg überarbeitet und erfuhr durch einen Assistenten wesentliche Neuerungen: Marius Petipa, der später Ballette wie „Schwanensee“, „Nussknacker“ und „Dornröschen“ erschuf, wirkte hier als der aufgeweckte Assi. Petipa, ballettöses Genie des 19. Jahrhunderts, setzte denn auch die präzisen Linien und Figuren aus Tänzerinnen in „Giselle“ ein, die man so vorher noch gar nicht kannte. Er war auch als Anfänger im Choreographieren bereits ein Meister, ganz wie Neumeier. Und er reichte mit der Überarbeitung von „Giselle“ sozusagen bereits seine Visitenkarte in der Ballettgeschichte ein.

Eine grundlegende und bemerkenswerte Neuerung erfuhr „Giselle“ dann erst wieder 1934 in der Sowjetunion, vermutlich durch Agrippina Waganowa. Die Pädagogin, die auch choreographisch wirkte, komplettierte und ergänzte die überlieferte Choreographie – und erhöhte die Schwierigkeitsgrade. Mit moderneren Spitzenschuhen und verbesserter Technik konnten die Ballerinen viel schneller und virtuoser tanzen.

PRAKTISCHE BEISPIELE

Praktische Beispiele belegten das: Solisten des Hamburg Balletts tanzten die verschiedenen Versionen der Einlage „Bauern-Pas-de-deux“. Da ging es mal langsam-anmutig, mal rasant-schnell voran, je nach Variante. Besonders bravourös: Aleix Martínez, der ein „Bauern“-Solo mit musterhaft leicht gesprungenen doppelten Cabrioles hinlegte. In den verschiedenen Posen wirkte sein Körper wie nach den Originalzeichnungen der Waganowa-Fibel „Die Grundlagen des klassischen Tanzes“ gebildet. Im Ausdruck zügelte sich Martínez, was seiner darstellerischen Kraft stets zugute kommt, da er sonst dazu neigt, sich allzu heftig in einen Tanz „reinzuschmeißen“. Es ist ja nicht immer alles Folklore zum Abhotten – und mit mehr Dezenz gewinnt der auch schon auf der Ballettschule von Neumeier mit Brillanz aufgefallene Martínez jenen Schmelz, den nur Weltklassetänzer haben.

Aber auch, als Anna Laudere ihr Debüt als Giselle in einer traditionellen Variation der „Wahnsinnsszene“ vom Ende des ersten Aktes gab, war man hingerissen und glaubte, in einer hochkarätigen Vorstellung und nicht in einer „Werkstatt“ zu sein. Es ist die Szene, in der Giselle wider Willen erkennen muss, dass ihr Geliebter kein Winzer ist, der ehrliche Absichten hat, sondern ein Adliger, der bereits standesgemäß verlobt ist. Fantastisch, wie Laudere ihren Körper scheinbar stückweise erzittern ließ, um sich dann vor seelischer Pein kunstvoll zu verbiegen.  Das war mehr als großes Kino!

Und obwohl bei den Werkstätten meist in Trainings- und Probenkleidung getanzt wird, gelingt der Zauber einer Performance, allein durch die Energie der Tänzer! In den Ensembleszenen wird akkurat und synchron gewalzert und gefedert, defiliert und in der Arabeske posiert. Dennoch wirkt jede Tänzerin als was Besonderes, kann in der Choreo ihr eigenes Flair verströmen.

Silvia Azzoni, Leslie Heylmann, Alexandr Trusch und Karen Azatyan begeisterten, indem sie verschiedene historische und neue Fassungen der Choreographie zeigten. Neumeier wusste dazu stets Hintergründe zu den einzelnen Szenen zu erzählen – und legte auch schlüssig dar, wieso die Verlobte des Herzensbrecher bei ihm keine leicht zickige, aber durchaus freundlich gestimmte, vordergründig sogar generöse Braut ist. Sondern eine total alberne, überdrehte, nervige Jugendliche, die von Emilie Mazon vorzüglich und ganz uneitel als solche getanzt wird. Diese Karikatur eines kindischen Mädchens soll abschrecken – und den entscheidenden Grund für die Untreue ihres Verlobten darstellen.

Im Verlauf der weiteren Werkstatt wurden die verschiedenen alten Fassungen von „Giselle“ sowie die aktuelle Version von John Neumeier, die 2000 premierte, in ihren Eigenarten deutlich. Neumeier entstaubte und modernisierte, flocht eine zuckende, hypermoderne Bewegungsgestik ein und kombinierte sie mit einigen alten Elementen. „Lebendige Action“ in der Anschauung: Die Eifersucht des verschmähten Hilarion (Carsten Jung) kommt mit seiner Pantomime deutlich rüber, ebenso die Attacken und Aggressionen zwischen den Rivalen um die hübsche Giselle. Auch die Stärken der klassischen „Giselle“-Choreographie zeigten sich hier: Stummfilm-artig ausgestellte Emotionen, die melodramatisch zum Wahnsinn und dann Tod der Hauptperson führen.

In der Ballettgeschichte spielt der dann folgende zweite Akt eine besondere Rolle, es ist ein „ballet blanc“, ein weißes Ballett, das sich in wirkungsvollen Formationen aufblättert und die Dimensionen eines gut trainierten Ensembles auslotet. Für Neumeier besonders wichtig: Er glaubt, dass man in der Zeit der Uraufführung auch Wert auf die Individualität der Ensembletänzerinnen legte, während die Manie, alle Mädels am liebsten so identisch wie Klone sehen zu wollen, eine später aufgetretene Erscheinung sei. Zum Glück geht der Trend im Weltballett derzeit eindeutig weg von den scheinbaren Klonen – die überlässt man den Revuen und ihren Girls‘ Lines, in denen mit Gardemaßen und Unisono-Perücken agiert wird.

Neumeiers "Giselle" ist etwas anders.

Tanz, Tod und Liebe: Alexandr Trusch als Albert und Alina Cojocaru als Titelheldin in John Neumeiers „Giselle“. Foto: Holger Badekow

DER WEISSE AKT – UND SEINE GEHEIMNISSE

Ich erlaube mir einen Exkurs, um die Geheimnisse der „Wilis“ im zweiten Akt zu enträtseln:

Ganz und gar aufregend ist der zweite, der „weiße“ Akt von „Giselle“. In den traditionellen Fassungen spielt er im Wald, wo Giselle, die an gebrochenem Herzen (oder einer biologischen Herzschwäche) starb, begraben wurde. Jeder Bildungsbürger weiß somit Bescheid: Giselle wurde unehrenhaft, weil nicht auf einem christlichen Friedhof bestattet, und dieses Schicksal betraf in Europa jahrhundertelang Selbstmörder, Gehenkte und Prostituierte. Man kann und muss darum davon ausgehen, dass Giselle beziehungsweise ihr Leichnam, nachdem der Vorhang nach dem ersten Akt fiel, von der Kirche als unehrenhaft klassifiziert wurde.

Da Giselle vor Augenzeugen einen Herztod starb, ohne an sich Hand angelegt zu habem, ist die Entdeckung einer Schwangerschaft nach ihrem Tod und die somit posthum erfolgende Abstempelung als Prostituierte (die typischerweise mit einem Vertreter des Adels eine Liebschaft unterhielt) der wahrscheinlichste Grund für ihre Bestattung außerhalb des Friedhofs. Ich erinnere an das Drama der drohenden Entehrungen von Jungfrauen in „Emilia Galotti“ und „Kabale und Liebe“: Der adlige – reiche – Verführer steht jeweils als Schänder seiner Geliebten da, der sie in den Augen der Familien und der Gesellschaft zur Hure macht, sogar dann, wenn er sie aufrichtig liebt. Die feudale Ständeordnung wollte es nicht anders.

Eine Gravidität würde jedenfalls auch erklären, warum Giselle sich wörtlich zu Tode darüber erschreckt, dass ihr Geliebter nicht sie, sondern eine andere heiraten wird. Weil diese Dinge im 19. Jahrhundert natürlich nicht als  bühnentauglich galten, zumal im Ballett nicht, wird die Entdeckung der Schwangerschaft aber nicht gezeigt und ist auch nicht Teil des offiziellen Librettos.

Der zeitgenössische Betrachter wusste dennoch Bescheid, sowie er das Grab im Wald sah – damit  beginnt der zweite Akt. Und auch die anderen weißen Geisterfrauen, die den zweiten Akt als große Gruppe bevölkern, sind vermutlich unehelich verführt, vielleicht sogar  geschwängert wurden.

Solche Schicksale waren häufig und ein weit verbreitetes soziales Problem. Suizide der Mädchen oder auch verdeckte Morde waren zumeist die Folgen, denn eine soziale Prognose hatten sie nur, wenn sie sich noch rasch verheiraten oder ihre Schwangerschaft ganz verheimlichen konnten. Manche Frauen gebaren heimlich und brachten das Neugeborene sogleich um – sie wurden, wenn sie dabei erwischt wurden, als Kindsmörderinnen hingerichtet. Goethes Frauenfigur Gretchen im „Faust“ beruht auf solch einem realen Schicksal (dem der in Frankfurt am Main 1772 hingerichteten Susanna Margaretha Brandt). Goethe hat zur Zeit der Hinrichtung in Frankfurt gelebt und unter ihrem Eindruck seinen „Urfaust“ verfasst.

EMANZIPATION DURCH POETISIERUNG

Die traditionelle Choreographie von „Giselle“ kennt diese Problematik. Im Tanz der Wilis gibt es eine dafür ganz typische Armgestik: Die jungen Frauen wiegen im Tanz unsichtbare Babys. Das wird häufig als Kinderwunsch der untoten Mädchen gedeutet. Aber verweist diese imaginäre Kinderbetreuung nicht viel stärker auch auf die persönlichen Geschichten der Wilis? Von der Gesellschaft ausgestoßene junge Frauen, die an den Folgen einer Abtreibung starben oder als Kindsmörderinnen hingerichtet wurden, waren allgegenwärtig im 19. Jahrhundert. Im Ballett, in ihrem Wili-Zustand, sind sie  unsterbliche, sogar mit Macht ausgestattete Zauberwesen, die wunderschöne, schwerelos-erotische und endlich bewundernswerte Heldinnen abgeben.

Die weißen, geisterhaften Frauen, die "Wilis" in "Giselle", sind in Hamburg eher Hexen.

Im zweiten Akt der modernisierten „Giselle“, die John Neumeier 2000 schuf, sind die Wilis keine niedlichen Elfen, sondern übellaunige, rachsüchtige Furien mit schwarzen Armbinden. Foto: Holger Badekow

Unter der Oberfläche der Zuckrigkeit verbirgt sich im herkömmlichen „Giselle“-Libretto ein durchaus feministisches Ballett. Die Ikonen der „Wilis“ bebildern nicht nur die Ängste der Männer vor der (berechtigten) Rache der Frauen, sondern auch ein Idealbild von Frauen, die nicht alle gesellschaftlichen Missstände klaglos hinnehmen wollen.

Die Rache am männlichen Geschlecht – die die Wilis dadurch ausüben, dass sie die Männer, die ihr Wili-Revier betreten, tanzenderweise in den Tod treiben – erscheint darum im Originallibretto für den wissenden Zuschauer durchaus begründet und psychologisch motiviert. Da zur Entstehungszeit ebenfalls noch Hinrichtungen zu den ordentlichen Rechtssystemen gehörten, erscheint auch die Bestrafung mit dem Tod für Männer, die sich verantwortungslos verhielten und die Versorgung von Frau und Kind verweigerten, in gewisser Weise angemessen.

Da ist es kein Wunder, dass das Libretto der ursprünglichen „Giselle“ – und zwar der weiße Akt (also der zweite Akt) – von Heinrich Heine inspiriert war. Der scharfsinnige, spitzzüngige Dichter – der sich bekannte, der letzte Romantiker und zugleich ihr Überwinder zu sein – lebte unter dem Namen Henri Heiné in Paris, unter ärmlichen, aber intellektuellen Verhältnissen. Im Ausland, so in den USA, hatte seine Dichtung – in Übersetzungen – großen Erfolg. In vielen deutschen Fürstentümern aber wurde er geächtet oder sogar steckbrieflich verfolgt. Paris war kein freiwilliges Exil für Heine, ebenso wenig wie die Wilis sich ihre naturhafte Wirkungsstätte aussuchten.

Heine korrespondierte mit dem Librettisten von „Giselle“, der sich auch explizit auf Heine als Anregung für das Ballett berief. Heines Aufsatz „Elementargeister“ von 1837 beschreiben das Wili-Phänomen so: „Der Tanz ist charakteristisch bei den Luftgeistern; sie sind zu ätherischer Natur, als dass sie prosaisch gewöhnlichen Ganges, wie wir, über diese Erde wandeln sollten. Indessen, so zart sie auch sind, so lassen doch ihre Füßchen einige Spuren zurück auf den Rasenplätzen, wo sie ihre nächtlichen Reigen gehalten.“

Laut Heine stammt der Mythos der Wilis, der vampirartigen schönen, aber auch unbarmherzig-rachsüchtigen Geister, aus Österreich und ist slawischen Ursprungs. Tatsächlich gibt es in der slawischen Mythologie nicht nur Dutzende von Gottheiten – wie die Göttin der Harmonie und Schönheit, nach der eine Automarke im Sozialismus hieß, nämlich Lada. Sondern auch die Wilis (auch Samovilas genannt), die als meist böse weibliche Vampire auftauchen.

Als „gespenstische Tänzerinnen“, die „nicht im Grabe ruhig liegen“, da in ihren Herzen und Füßen „noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten“, beschreibt Heine die Wilis in seinem Aufsatz. Um Mitternacht würden sie sich „truppweise an den Heerstraßen“ aufstellen, um junge Männer dazu zu verführen, sich mit ihnen zu Tode zu tanzen. In dieser Urschilderung der Wilis (die Heine noch „Willis“ schrieb) sind ihre Opfer offenbar noch Soldaten, keine Dörfler.

Die Lust am Tanzen, aus der hier ein Tötungsinstrument wird, hat natürlich metaphorisch mit der sexuellen Lust zu tun, an der die Wilis starben.

Aber:

Hier spielt auch die kunstmärchenhafte Erfindung der Sylphiden mit hinein, die sich aus den Nonnengeistern der Oper für das Ballett bereits entwickelt hatten. Die Sylphiden oder Sylphen zählen in verschiedenen Mythologien zu den Elementargeistern, auch Goethes Faust beschwört sie wie die anderen.

Allerdings sind die Wilis Geister, wie herumspukende Schlossgespenster und wie die tanzenden Nonnen in der Oper „Robert le Diable“. In letzterer hatte man das Prinzip des scheinbaren geisterhaften Schwebens ausprobiert, bevor Marie Taglioni 1832 damit als Sylphide auftrat und das Ballett somit neu erfand.

Die Sylphiden hingegen sind, im Gegensatz zu den Wilis, Elfen. Also keine verstorbenen Menschen, sondern grundlegend anders geschaffene Kreaturen. Heine verschmolz die Mythen und Märchenfiguren miteinander…

Außerdem schreibt Heine zu den aus den Nebeln auferstehenden jungen Frauen: „Geschmückt mit ihren Hochzeitskleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Wilis im Mondglanz, ebenso wie die Elfen.“ Und: „Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnisvoll lüstern, so verheißend; diese toten Bacchantinnen sind unwiderstehlich.“

Das geht über die Mythen von herumspukenden Schlossdamen weit hinaus.

Nach Heines Darstellung erfand zwar „das Volk“ die Geistergeschichte der Wilis: um sich über das grausige Ableben junger, unverheirateter Frauen hinwegzutrösten. Heine nennt die „schwarze Vernichtung“, also die Pest, als Ursache für die historisch im 14. Jahrhundert verbürgten massenweisen Tode von Menschen, also auch von diesen jungen Damen und ihren männlichen Opfern.

Aber keine Quelle belegt diese Herkunft des Wili-Mythos. Nichts weist darauf hin – außer Heines eigener Fabel. Der Dichter hat also vermutlich – schlau, wie er war – selbst eine Legende zu seiner Erfindung angefügt.

Für das Frauenbild im 19. Jahrhundert sind die Wilis einigermaßen revolutionär. Dass Frauen überhaupt – und dann auch noch als anonyme Schar – soviel Macht über Männer haben können, war ein Novum in der patriarchalen Geschichte der Neuzeit. Heine nennt ja selbst die Bacchantinnen der Antike als Inspiration. Für die christliche Kultur aber sind solche wilden Damen neu.

Die zweite Wurzel des Heine’schen Wili-Mythos stammt aus den Adelsmythen.

Der Mythos von herumgeisternden „weißen Frauen“ ist nicht zuletzt durch die englische Literatur überliefert, die sie in alten Schlössern und Burgen ansiedelt. Aber auch in Österreich und der Slowakei (hier tauchen diese beiden Länder tatsächlich als Herkunftsort von konkreten Legenden auf) gab es seit dem 18. Jahrhundert angeblich umher spukende Schlossherrinnen.

Die Wilis aus „Giselle“ jedoch geistern durch die freie Natur. Was in die romantische Epoche passt, denn die Natur spielt in der Kultur der Romantik eine große, auch sinnbildliche Rolle.

Es passt zudem zum romantischen Prinzip der Verkehrung, dass Frauen, denen ihre eigene Biologie zum Verhängnis geworden war, posthum als ewige Rachegeister über die äußere Natur, also den undomestizierten Wald, herrschen sollten. Die Librettisten von „Giselle“, Théophile Gautier und Jules Henri Vernoy de Saint-Goerges, hatten dank Heines Anregung  den Spieß sozusagen umgedreht, so wie sie auch den Täter- und Opferstatus vertauscht hatten: Waren normalerweise, also in der damaligen Realität,  nur die Frauen die Opfer, konnten sie als Wilis in „Giselle“ auch zu Täterinnen und die Männer zu ihren Opfern werden.

RADIKALISIERTE RÄCHERINNEN BEI NEUMEIER

Dieser Aspekt spielt bei Neumeier allerdings keine große Rolle. Für ihn „schweben“ die Wilis, diese weißen Geisterfrauen, auch nicht puppenhaft-erotisch durch den Wald, wie in den meisten „Gisellen“. Sondern sie marschieren, wenn auch graziös, in einem abstrakten Raum auf, der an einen Beton-Bau, an ein Krematorium oder eine Trauerhalle unsere Tage erinnert. Das ohnehin abstrakte Wald-Dekor in Schwarz-weiß von Bühnen- und Kostümbildner Yannis Kokkos verschwindet mit ihnen!

Die „Wilis“, in den Urfassungen oft efeugeschmückt und mit Niedlichkeit, ja Feenhaftigkeit begabt, sind bei Neumeier keine bewundernswerten, ätherischen Elfen mehr. Sondern übellaunige, bösartige, hartherzige Rachegeister;  sie sind mehr herzlose Hexen als feministische Zauberinnen, und sie üben ganz gewiss die schwarze und nicht gelegentlich auch die weiße Magie aus.

Charakterlich werden die Wilis damit eindimensionaler, aber diese Veränderung hat durchaus ihre Logik und passt zur Schreckensvision der hassenden kinderlosen Frau, die nicht wenige Männer haben. In der Antike glaubte man an Furien (Erinnyen), die in der Mythologie keineswegs als liebenswert oder irgendwie süß oder sympathisch gezeichnet waren. Sondern die mit ungezügelter Rachsucht Menschen verfolgten und vernichteten. Hier sind die Wilis weiße Furien, die sich schwarzer Magie bedienen – voll Spott und Hohn jagen sie Männer und treiben sie in den Tanztod.

Einen solchen unbedingten Vernichtungswillen hat in John Neumeiers „2000er-Giselle“ vor allem die Wili-Chefin Myrtha. (Eine Anmerkung an unpassender Stelle: Es gibt von John Neumeier auch noch eine weniger radikale, mit Natalia Makarova erstellte Fassung von 1983, die ihn aber auf lange Sicht dramaturgisch nicht befriedigen konnte.) Myrtha ist in Neumeiers modernisierter „Giselle“ eine Art weiblicher Teufel: herzlos, kalt, sogar weitgehend unerotisch, weil so hart in ihrem Ausdruck und Charakter. Sie ist nicht deshalb die Königin der Wilis, weil sie besonders schön oder führungsstark wäre. Sondern deshalb, weil sie am deutlichsten das Antibild der den Hass verkörpernden Frau darstellt.

Ihr zur Seite tanzen die Novizinnen Moyna und Zulma: Sie sind noch etwas weicher, haben noch eine Spur von Herzlichkeit im Tanzen und werden darum von der Chefin des Bösen höchstselbst, also von Myrtha, beaufsichtigt und sozusagen zu Todesnymphen ausgebildet.

SOLLEN FRAUEN ALLES VERZEIHEN?

Man muss davon ausgehen, dass Myrthas Gefolgsdamen, also alle Wilis (die hier wahre Vampire, keine Vamps sind) ein ähnliches Schicksal wie Myrtha und Giselle hinter sich und somit guten Grund haben, Gerechtigkeit und Genugtuung einzufordern. Die christliche Ideologie jedoch verlangt von den weiblichen Opfern, den männlichen Tätern zu verzeihen. Leisten sie das nicht, werden sie nochmals stigmatisiert. Insofern wäre es feministisch sicher korrekter, die Wilis als psychologisch nachvollziehbare Rächerinnen zu zeigen. Neumeier aber folgt der christlichen Moral und lässt sie als erschreckend gefühlskalte, in sich erstarrte Rachegeister auftreten: als faschistoide Mörderinnen.

Besonders deutlich wird das, wenn sie ein gespenstisches Gelächter von sich geben, als sich Hilarion, ein dörflicher Verehrer der toten Giselle, vor ihren Augen zu Tode tanzt. Auch Myrtha darf hier keine Spur von Weichheit und Verletzbarkeit zeigen. Ginge es nach ihr, müsste auch der untreue Albert sterben. Und nur weil Giselles Liebe stärker ist und auch ihren Geliebten ermutigt, aus dem Schutz ihres Grabes hervorzutreten, bricht der Blumenstab, mit dem Myrtha seinen Todestanz beschleunigen will.

Giselles Verführer heißt bei Neumeier übrigens wie während der ersten Entstehungszeit des Librettos „Albert“ statt, wie seit der Uraufführung 1841, „Albrecht“. Damit verwischt allerdings der politische Hintergrund, der ein besetztes Land bezeichnet: „Giselle“ spielt in einem Winzerdorf im deutsch-französischen Grenzgebiet, und auffälligerweise sind in der traditionellen Version die moralisch guten Dörfler mit französischen Namen gesegnet, während die adligen Bösewichte deutsche Namen tragen.

Dieser Hinweis wird in der heutigen Ballettliteratur allerdings ohnehin komplett vernachlässigt, wie sich auch die meisten Ballettdramaturgen sträuben, über den Kitsch der Kostümgeschichte hinaus die Figur der „Giselle“ als Entehrte und als Opfer der Moral ihrer Zeit zu deuten. Da sind die internationalen Germanisten mit ihrer Aufarbeitung der Gretchen-Figuren und auch bei der Interpretation von dramatischen Lokalisierungen doch schon deutlich weiter.

Eine wichtige modernisierte „Giselle“ legte übrigens der schwedische Choreograph Mats Ek, Sohn der Choreographin Birgit Cullberg, 1982 vor: Die seither international viel gespielte Version konzentriert sich auf die demolierte Psyche von Giselle, denunziert sie als verrückt gewordenes Opfer und verbannt sie im zweiten Akt in eine Irrenanstalt. Das ist interessant, aber nicht eben feministisch – vielmehr sagt diese Version etwas über Eks eigene Ängste vor starken und sensiblen Frauen wie Giselle aus.

Dass Giselle besonders sensibel ist, notierte Neumeier schon 2000, während er sich auf die Proben vorbereitete. Auch der britische Choreograph David Dawson, der 2008 nach 7 Jahren Vorbereitung an der Semperoper in Dresden eine modernisierte „Giselle“ schuf, zeichnet Giselle als besonders zartes Mädchen: Ihr wird im ersten Akt ihre adlige Rivalin als dekadente Chefin eines Swingerclans gegenüber gestellt. Der zweite Akt dann verlegt die „Wilis“ in die abstrakte Gedankenwelt, zu der jeder Zutritt hat, der sich auf die Fantasie von weißen, unsterblich schönen, tatsächlich schon toten Frauen einlassen will. Dramaturgisch ist der Nekrophilie evozierende Schwarm der weiß verschleierten Frauen eine Vision von Albrecht, den sein schlechtes Gewissen und seine erotischen Gelüste gleichermaßen plagen. Um dieser emotionalen Zwickmühle zu entgehen, bekennt er sich zur Liebe zu Giselle – und sühnt, indem er bereut.

WILIS WIE DIE SS

Zurück zu Neumeier. Seine bösartig durchtriebenen, seelenlosen Wilis tragen sichtbare Zeichen ihrer Mutation von der dubiosen Waldfee im 19. Jahrhundert zur handfesten Mörderin der Jahrtausendwende: Schwarze Binden an ihren Oberarmen erinnern an militärische Embleme, etwa an die Armbinden der SS-Nazis. Zum Kostüm der fliegenden mehrlagigen Gazeröcke und dem knapp sitzenden weißen Mieder bilden diese Armbinden der Wilis einen starken Kontrast: Sie ironisieren die Kostüme gewissermaßen, verleihen ihnen aber auch tödlichen Ernst.

Eine bis ins Dekadente gesteigerte Vorstellung von „weißen Frauen“ findet man heutzutage in Kiosken in Mexiko: Dort verkaufen sich makabre Figuren der Kunstheiligen „Santa Muerte“ wie religiöser Nippes. Sie stellen eine morbide Antiversion der Madonnenfigur dar: Ganz in Weiß gekleidete Brautpuppen haben kein Gesicht, sondern einen Totenschädel. Spitznamen dieses nihilistischen Maskottchens sind „Der heilige Tod“ und „Das weiße Mädchen“, gemeint ist damit  die Droge Crystal Meth. Es soll sich sogar schon eine pseudoreligiöse Bewegung um diese Droge und ihre Schutzheilige gebildet haben: Hoffnungslosigkeit wird propagiert, um der düsteren Gegenwart aus Armut, Mafiakriegen und grausamen Drogenverbrechen zu entsprechen.

Fast könnte man meinen, die „Santa Muerte“ sei von Myrtha inspiriert. Sogar lautmalerisch gibt es eine Ähnlichkeit der Namen, die über den Anfangsbuchstaben hinaus geht. Inhaltlich wird durch beide Gestalten der Tod bildlich mit Heirat vereint. So heißt  „Muerte“ wörtlich „Tod“, faktisch aber stellt die „Santa Muerte“ eine (tote) Braut dar. Auch der Geist der toten „Myrtha“ aus „Giselle“ trägt eine Art Brautkleid – und ihr Name leitet sich von der Pflanze Myrthe ab, die schon in der Antike als Brautschmuck verwendet wurde. Myrthe, streng und schön, stellt einen Sonderfall in der Ballettliteratur dar: Es gibt sonst kaum derartig und prinzipiell bösartige Figuren im traditionellen Ballett, zumal, wenn sie von Frauen und nicht von Männern (auch en travestie) getanzt werden.

Die Verschmelzung der Gegensätze von Tod (Geistsein) und Leben (Heirat) scheint die Potenzierung beider Faktoren zur Folge zu haben: Myrthe ist tödlich (für die Männer, die in ihr Revier eindringen) und unsterblich (weil bereits untot). Übrigens: Auch in der Souvenir-Industrie, in der die „Santa Muerte“in Mexiko reüssiert, herrschen, wie im Ballett, sonst die sanftmütigen oder komischen Frauenbilder vor. Eine Ausnahmen stellen allein die volkstümlichen Hexen dar, die allerdings verharmlost und auch für Kinder geeignet sind (wie die Harzer „Brocken-Hexe“) – und die keineswegs eine so tödliche Macht wie die „Santa Muerta“ oder eben Myrtha verkörpern.

WENN DIE GEISTERSTUNDE ENDET

Der „weiße Akt“ von „Giselle“ spielt zur Geisterstunde, also ab Mitternacht. Das ist auch musikalisch eingebunden. In der Tradition und in Neumeiers Version schaffen Giselle und der endlich bereuende Verführer nur durch gemeinsames und abwechselndes Tanzen eine Herauszögerung der Treibjagd durch die Wilis – bis zum rettenden Glockenschlag um ein Uhr nachts, der die Geisterstunde beendet. Ab dann ist der Mann wieder frei und darf unbehelligt davon kommen – er hat allerdings, so darf man vermuten, an seinem eigenen schlechten Gewissen noch lebenslang zu leiden.

Ob er wohl ein zweites Mal in dieses Reich seiner schlimmsten Träume kommen wird, um mit Giselle unter Lebensgefahr zu tanzen? Das bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Eindeutig ist hingegen die Entwicklung  vom traditionellen  „Giselle“-Ballett zu dem der Jahrtausendwende.

DIE KESSE GISELLE

Der Unterschied zwischen der klassisch-romantischen „Giselle“ und der modernisierten Neumeier-„Giselle“ von 2000 zeigt sich deutlich auch in der Zeichnung der Titelfigur. Auch sie wurde von Neumeier radikalisiert, allerdings in die andere moralische Richtung: Giselle mutiert zu einer madonnengleichen Liebenden, bereits im ersten Akt, während sie in den alten Versionen dort noch etwas Schlüpfriges, Kesses, sogar Frivoles an sich hat. Die italienische Starballerina Alessandra Ferri trug in ihrer legendären Mailänder „Giselle“ vor einigen Jahren – in der Inszenierung von Patrice Bart – sogar eine fast obszön durchsichtige Bluse unter ihrem Dirndl.

Erst im zweiten Akt wird traditionellerweise aus dem verliebten Flittchen Giselle eine reife Persönlichkeit, die eine eigene Entscheidung fällt: Sie schützt ihren Geliebten vor den Regeln der Rache, tanzt mit ihm, anstatt ihn in den Tod zu treiben. Sie verzeiht ihm, erhofft sich davon aber auch eigenen Frieden – oder zumindest ein anhaltendes Vergnügen in der Solidarisierung mit ihrem reuigen Sünder.

So weit geht die Verwandlung Giselles bei Neumeier nicht. Hier ist sie zu Beginn vor allem eine liebende Naive, die verführt wurde und die auch später zur Bosheit einer Rache nicht wirklich fähig ist. Ihre Liebe wird zwar durch die Untreue Alberts erschüttert. Aber nach ihrer „Auferstehung“ als Wili wird rasch klar: Sie ist bereit, ihm zu verzeihen, weil sie sich gar kein anderes Weltbild vorstellen kann als eines, in dem der Geliebte den wichtigsten Platz einnimmt.

Mit dieser übersteigert starken Liebe, die folgerichtig zur Selbstauflösung und zum Tod führte, ist Giselle eine Märtyrerin für ihren Albert. Er muss wirklich ein fantastischer Liebhaber für sie gewesen sein! Ihre starke und unbedingte Liebe zu ihm trägt sogar religiös gefärbte Züge – was auf ihn wiederum ebenfalls eine läuternde Wirkung hat.

Damit korrepondiert und kontrastiert nun die Überzeichnung der anderen Wilis bei Neumeier: Diese haben eine wirklich schockierende Wirkung, sind bitterböse Geisterfrauen in einer erschreckend modernen Wahnwelt aus Rachsucht, während die Wilis im 19. Jahrhundert als durchaus liebliche Heldinnen auftraten und gleichermaßen höflich  um Emanzipation und Genugtuung barmten.

Allerdings könnte ich mir noch eine weitere, eine ganz neue Neumeier’sche „Giselle“ vorstellen, vielleicht mit krass moderner Musik und einem exzessiv feministischen Impetus. Neumeier ist ja ein Meister auch im Choreographieren des Geschlechterkampfs, und vielleicht reizt es ihn noch mal, diesen auch mit den „Wilis“ vorzuführen. Nun, das Wünschen ist ja erlaubt – versprechen kann ich natürlich nicht, dass ich damit erhört werde.
Gisela Sonnenburg 

Weitere Texte zur Inszenierung: 

http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-trusch-aguero-2017/

www.ballett-journal.de/neumeier-giselle/

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-christopher-evans/

www.hamburgballett.de

UND BITTE SEHEN SIE HIERHINwww.ballett-journal.de/impresssum/ 

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