Das bunte Paradies: die Farben der Tänzer „Chopin Dances“: In neuer Besetzung mit Nachwuchsstars zeigt das Hamburg Ballett „Dances at a Gathering“ und „The Concert“ von Jerome Robbins

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Alexandre Riabko bei einem seiner tollkühnen Grand jetés als „Mann in Braun“ in den „Dances at a Gathering“. Zu sehen im Abend „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Man sagt von Tänzern, dass sie jeweils eine eigene „Farbe“ haben. Man meint damit nicht die Haut- oder Haarfarbe und normalerweise auch nicht die Textilfarbe vom Kostüm. Schon gar nicht das Make-up! Sondern das individuelle Temperament, die Ausstrahlung, das „Licht“, welche von einem Tanzkünstler auf der Bühne ausgehen. In „Dances at a Gathering“ („Tänze bei einem Treffen“), dem gut einstündigen Stück nach Klaviermusik von Frédéric Chopin, gibt die Choreografie von Jerome Robbins fünf Ballerinen und fünf Ballerinos die Gelegenheit, die eigene „Farbe“ – also die eigene tänzerische Duftmarke – in die Charaktere der Rollen, die sie tanzen, einzubringen. Der Clou: In diesem Stück sind die Rollen nach den Farben der jeweiligen Kostüme benannt, jede Tänzerin und jeder Tänzer verkörpert so die Stimmung und die Emotion einer Farbnuance. Das Hamburg Ballett nutzt diese Gelegenheit, um im Jerome-Robbins-Abend „Chopin Dances“ (mehr dazu bitte auch hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-chopin-dances-jerome-robbins/) bewährte Stars zusammen mit aufstrebenden Nachwuchsstars zu präsentieren.

Vorab ist zu sagen, dass dieser Abend in hohem Maße erquickt und labt und dennoch – obwohl im ersten Teil elegische Erhabenheit und im zweiten lachsalvende Fröhlichkeit überwiegen – einen starken Geschmack von Tiefgang hinterlässt. Der Clou dabei: Der komödiantische zweite Teil karikiert die Hoffnungsströme, die vom ersten ausgehen.

Die paradiesischen Farben, die präsentiert werden, sind übrigens keineswegs typisch und schon gar nicht grell. So schwebt „Dances at a Gathering“ in gebrochen-pastellenen Farbtönen: Pink ist hier ein zartes Rosé, ein Apricot light ersetzt knalliges Gelb, und das Grün ist so milde und hell, dass man eher an Pistazieneis denn an Naturtöne denkt.

Vor allem aber bezaubern die Frische und die Begabtheit der Tänzerinnen und Tänzer, die sich hier in technischen Finessen ebenso ergehen dürfen und sogar müssen wie in eleganter Stilistik.

Den Anfang macht Alexandre Riabko, der kein ganz junger Ballerino mehr ist, aber einer der besten und temperamentvollsten, die derzeit die Bühnen der Ballettwelt besiedeln. In den „Dances at a Gathering“ (zu übersetzen mit „Tänze einer Begegnung“ oder „Tänze bei einem Treffen“) tanzt er die Hauptperson, den „Mann in Braun“. Die erste Pièce der achtzehn Einzelstücke, zur schwelgerischen Musik der Mazurka Nr. 63 von Chopin, ist sein Solo: Er entert die Bühne, schaut sich um, wandelt ein wenig und verfällt, von den folkloristisch inspirierten Rhythmen der Musik mitgerissen, in einen lyrisch-tänzerischen, bald fast ekstatischen Bewegungsfluss.

Die Erinnerungen an die Kindheit, an ländliche Festivitäten und Tanzstunden, die mit den polnisch inspirierten Melodien der Klaviermusik verknüpft sind, scheinen hierbei wesentlich.

Sehnsuchtsvoll hebt Riabko den Arm; er läuft, als könne er damit seine eigene Vergangenheit und Zukunft beschwören; und er springt tadellose, mächtig schöne Grand jetés, bis er abbricht, wie in Gedanken verloren, plötzlich stehen bleibt – und abgeht.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Das dritte Stück in „Dances at a Gathering“ beschwört die freie große Liebe: mit Carolina Agüero und Karen Azatyan unvergesslich! Zu sehen in „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das ist ein furioses, gefühliges Entrée für ein Stück, das die Temperamente und Gefühlslagen von zehn Menschen zusammen fasst – und nachgerade lustvoll verschiedene Kombinationen und Kontraste dieser verkörperten „Farben“ durchexerziert.

Der „Mann in Braun“ stellt das Gemütvolle, Dunkel-Melancholische, aber auch das Erdige, Tatenstarke, aus sich heraus Virtuose dar. Und man hat keinen Zweifel: Alexandre Riabko ist eine Idealbesetzung. Er ergänzt das Timbre der Choreografie mit urigem Temperament und starker Hingabe an die Details. Das Flair einer naturhaft-sinnlichen Erdigkeit entsteht, passend zur Farbe Braun. Toll.

Da spielte ja schon die Musik, als er in einer träumerischen Haltung auf die Bühne kam und sich plötzlich, wie ganz spontan, den mitreißenden, folkloristisch inspirierten Klängen ergab – und tanzte!

Die Hand in die Hüfte gestützt, das Bein elegant mit einem Hüpfer vorgestreckt – so beginnt Riabko unvergesslich den Abend, führt solchermaßen ein in die Reihung von achtzehn melancholisch-freundlichen Tanzstücken.

Es ist der Binnendramaturgie des Stücks nach sogar möglich, dass alle folgenden Tänzchen der verträumten Fantasie des „Mannes in Braun“ entspringen.

Denn die weichen Walzer, die dynamischen Mazurken und die elegischen Nocturne-Melodien spiegeln eine Sehnsucht, die diese Hauptperson gleich zu Beginn beim Hören der Musik sichtlich empfindet.

Da ist die Nostalgie, die dieses Ballett emotional überlagert wie eine hehre Patina, auch wenn sein Inhalt den utopischen Frieden eines bunten Paradieses ausmalt.

Die Buntheit, die indes fein abgestimmten Farben der Tänzer und die Farben der Kostüme: Sie stehen hier für bestimmte Charakteristika, die sich erst im Laufe des Stücks durch die Choreografie entschlüsseln. Im Miteinander oder im Solo zeigen sich jeweils Schattierungen der Farben – und wie im richtigen Leben kommen manche Aspekte einer Persönlichkeit oder auch einer „Farbwirkung“ erst im Kontrast zu anderen so richtig zur Geltung.

Außergewöhnlich an „Dances at a Gathering“ ist zudem, dass es aus achtzehn Einzelteilen besteht, die sich wie die Perlen einer Kette nahtlos aneinander reihen und nur von kurzen Pausen für den Applaus unterbrochen sind (zur Verbeugung kommt es allerdings erst ganz am Ende des Stücks). Es gibt zwar viele Ballette, die wie Collagen oder Montagen wirken. Aber achtzehn Kurztänze – also deutlich mehr als vier oder fünf – ohne konkreten Handlungsfaden aneinanderzureihen, ist schon ein Wagnis und kann als Kennzeichen der Moderne gelten.

Welches mir von diesen achtzehn Stücken am stärksten im Gedächtnis haftet?

Da ist diese fantastische „Frau in Pink“, sie ist eine der prägnantesten Pas-de-deux-Tänzerinnen überhaupt. Sie ist die Primaballerina per se, eine Femme fatale, die Grandezza mit Charme zu vereinen weiß. Und sie verströmt so viel Geradlinigkeit und dennoch Verspieltheit, dass ich mich dieser Mischung nicht zu entziehen vermag.

Und weil Carolina Agüero diese Rolle tanzt, weiß man genau, warum man auf das dritte Teilstück in „Dances at a Gathering“ besonders gespannt sein sollte. Denn damit hat die beliebte Erste Solistin vom Hamburg Ballett als „Frau in Pink“ einen wunderschönen Auftritt – und sie flirtet und pirouettiert mit vorbildhafter Präzision, aber auch inniglicher Hingabe, mit großer körperlicher Geste und mimischer Überzeugungskraft.

Es ist ja gerade diese Mischung aus Selbstkontrolle und Sich-gehen-Lassen, die die Ballettkunst so faszinierend macht!

Und Carolina Agüero hat diesen Geschmack von Wildheit und Gezähmtsein in einem so schönen Gleichgewicht, dass man davon wirklich nur schwärmen kann.

Dieses Temperament passt denn auch vorzüglich zur Farbe Pink. Es ist ja kein poppiges Pink, kein punkiges Pink, das hier gemeint ist, sondern ein zartes, pastelliges, feines. Etwa das Rosa einer Wildrose. Oder auch einer Orchidee.

Oh ja, und den „Duft“ dieser Partie kann man bei Carolina Agüeros Tanz nachgerade atmen!

Karen Azatyan als „Mann in Violett“ ist ihr Partner hier. Er ist ein versierter Springer und Heber, ein Mann, wie er im Katalog für Balletttänzer aufgeführt wird. Und wenn der Tanz der beiden immer wieder durchsetzt ist von stilisierten kleinen Folklorestampfern, dann empfindet man seine Männlichkeit als optimale Ergänzung zu ihrem immerzu weiblichen Fluidum.

Worum es inhaltlich bei diesem Pas de deux eigentlich geht?

Es geht um eine gereifte Liebe, und die scheinbare Zufälligkeit, mit der hier aus einem Flirt mal wieder mehr wird, spielt sich zwischen diesen beiden Liebhabern wahrscheinlich regelmäßig ab.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Madoka Sugai tanzt die „Frau in Apricot“ – ein Balanchineskes Wesen, mädchenhaft, spritzig, keck – und ohne Argwohn. Foto: Kiran West

Es ist ja so fantastisch und so typisch für Jerome Robbins, Paare ohne konventionelle gesellschaftliche Verklammerung zu zeigen! Die Pärchen hier finden sich, weil sie sich zu riechen scheinen, und ohne Hemmungen gehen sie miteinander frohsinnig die Spiele der Liebe ein.

Der Partner im dritten Stück, musikalisch ist es übrigens die Mazurka op. 33, macht ihr darin denn auch immer wieder die Aufwartung mit einer Referenz.

Er bildet mit Carolina Agüero zweifelsohne ein harmonisches Duo, das dennoch von den Gegensätzen weiblich – männlich, elegant – kraftvoll geprägt ist.

Ja, die beiden sind das majestätische Paar hier, und ihre Souveränität ist in der Choreo so angelegt, wie sie bei dieser Besetzung zum Ausdruck kommt. Sie entspricht auch den Farben, die sich hier im Kontext wie folgt deuten lassen: Pink für das ewig Weibliche, Violett für das sie perfekt ergänzende männliche Prinzip.

Beim Abgehen trägt er sie denn auch senkrecht, kopfüber, von der Bühne…

Aber all das entspringt vermutlich einem Traum, nämlich dem Traum des Mannes vom Anfang des Stücks. Es ist sozusagen das Alter ego von Jerome Robbins.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Er springt auch auf dem aktuellen Programmheft für „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett: Alexandre Riabko. Foto: Kiran West – Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ein Mann kommt nach Polen, in seine Heimat, hört dort die vertrauten Melodien – und erinnert sich gleichsam an den uralten Menschheitstraum von Verbrüderung, Verschwisterung, Liebesgeschehen, in dem alle Konflikte auf sanfte Art gelöst und in ein Konglomerat aus Glücksgefühlen überführt werden.

Dieser Wunsch nach einer Menschheit, die nicht aufgibt und nicht gewalttätig wird, die sich einigt und mit ihrer Umwelt in Harmonie lebt, findet seinen vielgestaltigen Ausdruck in all den Einzeltänzen von „Dancing at a Gathering“.

Dass gerade Polen und seine Folkloremotive hier den großen Traum anregen, liegt erstens an der Musik (Chopin kam ja aus Polen) und zweitens an der Biografie von Jerome Robbins, für den Polen ein Ort der Abstammung in jedweder Hinsicht war.

Man sagt den polnischen Männern viel Geschick bei der Diplomatie nach – so sieht man es auch in diesem Stück.

Und man lobt die polnischen Frauen oft dafür, dass sie eine besondere Freude an der Weiblichkeit und ihrer Pflege haben. Warschau galt denn auch im 19. Jahrhundert als Paris des Nordens, weil es dort stets so metropolenhaft modisch zuging.

Die „Frau in Apricot“ entspricht diesem Bild genau – von Madoka Sugai, der jungen aufstrebenden Solistin getanzt, erst recht.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Ein Paar von beschwingter Leichtigkeit: Madoka Sugai und Christopher Evans in den „Dances“ / „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Der Walzer op. 69, zu dem sie mit dem ebenfalls jungen Christopher Evans („Mann in Grün“) ein lieblich-verliebtes Stück tanzt, gibt beiden den Spielraum, die eigene „Farbe“ sowohl in den Synchrontanz mit dem Partner als auch in typische Pas-de-deux-Posen einfließen zu lassen.

Dynamisch-verspielt tanzen sie hier, und Madokas Standfestigkeit ergänzt Christophers Leichtfüßigkeit. Wenn er Pirouettes en attitude dreht, so meint man, alle Poesie der Welt in einem männlichen Körper kulminieren zu sehen. Und wenn sie kleine Pas de chats mit anderen Sprüngen nonchalant verbindet, so hat sie damit das Katzenhafte ihrer Partie wunderschön ausgereizt.

Mit aufgestellten Händen schreiten die beiden in eine neue Welt, so scheint es… und wenn er sie am Ende auf seinen Armen hinausträgt, wünscht man ihnen Glück und nochmals Glück für die Zukunft.

Das dritte von achtzehn Stücken steht schon eingangs beschrieben, es ist die große Kür für die große Primaballerina und ihren Partner, ein Pärchen, das man im Ballett niemals missen möchte, und mit exzellenten Hebungen profilieren sie sich.

Es gibt aber auch moderne Einsprengsel hier, wie die weich wedelnden Arme der Dame beim rückwärts Tänzeln oder das überraschend kecke Ende, bei dem der Kavalier die Dame kopfüber (ganz senkrecht gehalten) von dannen trägt. So ein Filou! Es ist köstlich, welche Einfälle und Pointen Robbins den Paaren hier gönnt.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Auch sie tanzen wunderschön die Spiele der Liebe: Christopher Evans als „Mann in Grün“ und Mayo Arii als „Frau in Mauve“. Man beachte die Pastellfarben der Liebe! Foto: Kiran West

Im vierten Stück springt die „Frau in Apricot“ ein knackiges Solo, hüpfend und vor Lebensfreude sprühend, bis erst ein, dann zwei Männer sich davon angelockt fühlen. Madoka Sugai kann hier beweisen, was für ein rasantes und auch selbständiges Mädchen sie ist – und dass man ihr die Kitri aus „Don Quixote“ ansieht, die sie zeitgleich mit dem aus Wien angereisten Manuel Legris als Gastcoach probt, ist hier gewiss kein Makel.

Schließlich kommen die beiden Nachwuchsballerinen Mayo Arii als „Frau in Mauve“ und – ganz wunderbar! – Giorgia Giani als „Frau in Blau“ dazu auf die Bühne.

Arm in Arm schlendern sie heran, und Robbins setzte seine Fantasie von Jungmädchenfreundschaft solchermaßen filmreif in Szene.

Giani beweist zudem, dass sie trotz ihrer Jugend – sie kam erst letzte Saison aus dem Bundesjugendballett ins Hamburg Ballett – schon zu Einigem fähig ist. Und schon der Anblick dieser niedlich-grazilen, dennoch sehr femininen Ballerina, die hier ganz viel Frische mit „Blau“ zu verbinden weiß, macht ebenso sekundenglücklich wie nachhaltig selig.

Mayo Arii tanzt dazu – wie immer – zuverlässig und sauber, und Arm in Arm mit Giorgia geben die beiden ein sonniges, aber keineswegs oberflächlich tanzendes Mädchenteam ab.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Ebenfalls in Starbesetzung premierte 2010 der Abend „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Hier ein Blick ins Programmheft von damals, mit Hélène Bouchet und Edvin Revazov. Fotos: Holger Badekow – Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die Frauenfreundschaft, die hier beschworen wird, ist schließlich wichtig in einer Gesellschaft, die den Frauen Freiheit und Würde lässt und sie nicht durch patriarchale Besitzansprüche einengt und zerstört.

Die Männer geben sich hier denn auch betont freundlich, und ihre Kämpfe fechten sie spielerisch tanzenderweise aus, etwa im achten Stück, zur Mazurka Nr. 6. Wie zwei Trabanten auf der Kreisbahn fixieren sich da die Kontrahenten, um sich dann sogar gegenseitig durch die Luft zu wirbeln.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Hier tanzen sie alle in „Dances at a Gathering“: Giorgia Giani, Karen Azatyan, Christopher Evans, Madoka Sugai, Mayo Arii und Jacopo Bellussi, wunderbar synchron und dennoch voll Temperament! Foto: Kiran West

Analysiert man die Choreografie, fällt auf, dass immer wieder Anleihen bei der Folklore gemacht werden. Da sie oft taktgenau auf die Musik gelegt sind, ergibt sich: Die Choreografie ist hier eine Analyse der Musik! Robbins legt mit seinen enttarnenden Schritten die folkloristischen Wurzeln der lieblichen Melodien Chopins frei.

Mit Tänzern wie Aleix Martínez als „Mann in Terracotta“ und Jacopo Bellussi als „Mann in Blau“ wird dem dann auch tänzerisch voll Rechnung getragen.

Hui! Während der eine akkurat bis zum Anschlag springt – Martínez ist in den letzten beiden Saisonen zu einem wahren Tanzwunder erblüht – zeigt der andere, Bellussi, präzise Lyrik pur. Begeistert der Eine mit Dynamik und Schnelligkeit, fasziniert der Zweite mit Geschmeidigkeit und Gefühl. Ah, und diese Tänze in diesen simplen Kostümen geben ihnen so herrlich Gelegenheit, sich so zu zeigen, wie sie „farblich“ sind!

Und dann gibt es aber noch eine Überraschung von Damenseite: die blutjunge Yaiza Coll tanzt die anmutigste Partie hier: die federleicht über die Bühne hüpfende „Frau in Grün“. Sinnlich ist sie, die kleine Coll, und das ist ein Pfund, mit dem sie stets wuchern kann. Natürlich durfte sie hier, in diesem überhöhten Folklore-Reigen, nicht fehlen!

Der „Mann in Braun“ alias Alexandre Riabko hat dann mit der dreizehnten Tanznummer ein weiteres furioses Solo, ganz so, als zöge er ein Resümee und reflektiere dann seinen Traum weiter – und entscheide sich, ihn hellwach weiterzuträumen.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Auch 2010 gab es ein interessantes Cover vom Programmheft für „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett: lesenswert sind die Programmhefte allemal! Probenfoto: Holger Badekow – Faksimile: Gisela Sonnenburg

Also kommen immer neue Paare und Grüppchen herein und ergötzen sich am festlich-folkloristischen Wirken Terpsichores.

Zu Beginn des achtzehnten Stücks dann sitzt unser „Mann in Braun“ inmitten der anderen – und streichelt kurz über die Erde. Eine berührende, versonnene Geste mit der Symbolik eines Rituals.

Wenn daraufhin alle erst staunend vereinzelt herumstehen, als seien sie eben aus einer Hypnose erwacht, um dann zügig zusammen zu finden, ahnt man, dass Robbins sein Stück zu Ehren der größten Kraft der Welt choreografierte: für die Liebe.

Und tatsächlich finden sich nach dem Reigen Paare – Farbe und Farbe suchen einander, um brav und freudig erregt Arm in Arm über die Bühne zu schlendern. Was für ein versöhnliches Schlussbild! Es gibt wohl kein Publikum, das sich hier nicht mitfreut.

Übrigens wählt sich unsere exzellente Primaballerina (Carolina Agüero) keineswegs den aufregenden „Mann in Violett“ für diese scheinbare Eheanbahnung, sondern den galanten „Mann in Blau“, also Jacopo Bellussi, der mit seinem Schmelz vermutlich sowieso jede Frau betören könnte.

Der Rundumblick der Gruppe gen Himmel am Ende des Stücks sorgt indes mitunter für Irritationen, und Jerome Robbins musste denn auch mal in einem Brief einem Kritiker, mit dem er freundschaftlich-offen korrespondierte, erklären, dass er keineswegs an negative Ereignisse gedacht hätte, sondern lediglich an alltäglich-natürliche Vorkommnisse wie „Wolken und Vogelflug… Sonnenuntergänge und Blätterfall“.

So sehen wir Zuschauer den Akteuren, den Tänzern, beim Sehen zu – und sind berührt. Es scheint sich eine Idee von Zukunft zu manifestieren in diesem Stück, und wenn am Ende irgendein Zeichen der Natur am Horizont leuchtet, dann gibt dieses für einen Aufbruch in eine neue Zeit die Sicht frei.

Nicht umsonst tanzt die Gruppe nicht nur synchron, sondern lässt auch die erhobenen rechten Arme miteinander kreisen, als gelte es, solchermaßen die Weltenergie zu beschwören.

Die Vision des „Mannes in Braun“ hat sich solchermaßen am Schluss erfüllt.

Allerdings muss man auch würdigen, dass dieses Ballett für sein Entstehungsjahr 1969 außerordentlich modern ist, inhaltlich wie stilistisch. Wer mag, kann außerdem vorausdeutende Anklänge an „In the Night“ von Robbins erkennen, in dem es ebenfalls – wenn auch schwermütiger und weniger „luftig“– um walzernde Paare geht (erneut zur Musik von Chopin).

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Trägt er nicht umsonst die Initialen „JR“? – Jerome Robbins wurde in einer Biografie in den USA als skrupelloser Menschenschinder dargestellt – aber andere Weggefährten berichten nur Gutes von ihm. Hier ein Portrait, zu sehen beim Blick ins aktuelle Programmheft zu „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Man kann aber eben auch die Formensprache von John Neumeier, Hausherr vom Hamburg Ballett, im Hinblick auf die Einflüsse von Jerome Robbins abklopfen, gerade anhand der Fülle tänzelnder Posen und Hebungen.

Da gibt es einige Schrittkombinationen vor allem im Paartanz-Bereich, die sich bei Neumeier modifiziert und weiter entwickelt finden.

Etwa die Überkopfsenkrecht-Hebung der Ballerina aus dem dritten Stück. Verlängert, bildet sie einen Höhepunkt in Neumeiers Ballett „Die Möwe“. Oder man erinnert sich an diese Passage, in der die „Frau in Pink“ am Boden sitzt, ein Bein vorgestreckt, um sich dann vom „Mann in Violett“ an einer Hand empor ziehen zu lassen. So etwas findet sich in „Dances at a Gathering“, aber auch in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier, als Helena im Zauberwald versucht, Demetrius von sich zu überzeugen.

Neumeiers Umgang mit Musik ist allerdings ein ganz anderer als der von Robbins, er hat eine viel eigenständigere Gangart als Jerome Robbins, der zudem eher melodiös als rhythmisch agiert.

Der Hauptunterschied aber liegt im Frauenbild der beiden Choreografen: Während die tanzenden Damen in Neumeiers Werk den Männern gleichgestellt sind und trotz eindeutiger geschlechtlicher Zuordnung vor allem bei den Hebefiguren typisch weiblich agieren, stellen sie dennoch selbständige Individuen dar. Und: Sie können durchaus richtungsweisend für das große Ganze, für die gesamte Choreografie, im Kleinen wie im Großen, sein.

Diesen Stellenwert haben die Frauen bei Jerome Robbins leider nicht. Robbins ist – unbewusst – dem traditionellen Frauenbild verhaftet. Die Damen dürfen den Herren in seinen Stücken zwar Anregungen geben, aber sie agieren nie dominant, und wenn sie mal vorübergehend aktiv oder sogar negierend erscheinen, so sind sie am Ende doch immer die willigen, braven, gehorsamen Mädchen. Sie dürfen den Männern zuarbeiten und deren Gentleman-Gestiken annehmen und bewundern – aber sie müssen letztlich vor ihnen knien, sogar wörtlich.

Und während die Herren im spielerisch-tänzerischen Zweikampf ihre Kräfte messen und einander beherrschen wollen, zeigt Robbins die Damenwelt ausschließlich neckisch miteinander tändelnd und Arm in Arm schwesterliche Freundschaft pflegend.

Solche Klischees wirken nun auf die Dauer nicht mehr modern, sondern wie Eins zu Eins aus der Welt der Werbung, zumal jener der 60er Jahre, auf die Bühne übertragen.

Man findet solche gesellschaftlich hoch problematischen Schieflagen im Verhältnis der Geschlechter zueinander niemals in Balletten von John Neumeier.

Aber ein anderer Vorläufer von Neumeier und Robbins sollte hier genannt werden: Um die Trias der amerikanischen und neoklassischen Ballettchoreografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vervollständigen, sei hier auch noch ein Wort zu George Balanchine gesagt. Balanchine war ein Macho per se und propagierte eine Fetischisierung der Frau zum Objekt des Sexus schlechthin. „Ballet is woman“ – mit seinem berühmten Ausspruch meinte er die erotische Attraktivität der Tanzkunst und keinesfalls die typisch weiblichen Eigenschaften und Befähigungen. Die weiblichen Gehirnhälften sind ja bekanntlich viel stärker vernetzt als die männlichen. Daher denken Frauen viel stärker ans große Ganze und sind weniger im zielgerichteten Tunnelblick gefangen. Das wirkt sich aus, wann immer man Frauen die Freiheit gibt, ihre Natur des Denkens auszuleben. Also auch im Tanz!

Für Balanchine allerdings waren Frauen eher tanzende Sexobjekte. Er würdigte und verehrte sie, aber er degradierte und demütigte sie auch. Seiner choreografischen Kunst kam Balanchines Weiberwahn – den er als passionierter Schürzenjäger auch privat auslebte – allerdings auch zu Gute. Frauen haben in seinen Tänzen einen hohen Stellenwert, oft auch einen vorherrschenden.

Nicht umsonst erinnert das Solo der „Frau in Apricot“ im vierten Stück der „Dances“ stark an Balanchines Stil. Vorwitzig und gestochen scharf, trotzig aufbegehrend und dennoch souverän – so brillant formuliert sich Mädchenhaftigkeit sogar in der ganzen ballettösen Kunst, die so viele tolle Mädels kennt, nur selten.

Allerdings klingt auch hier das Robbin’sche Diktat an, demnach die Frau dem Mann untertan ist. Robbins war halt stark geprägt von seinem sozialen Umfeld, auch im negativen Sinn. In einer umstrittenen Biografie, die in den USA vor einigen Jahren herauskam und bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde, erscheint er als frauenverachtender Menschenschinder, der für seinen eigenen Erfolg skrupellos jede andere Menschenwürde zu opfern bereit war.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Kein Kitsch: die utopische Armbewegung, ausgeführt von Aleix Martínez, Christopher Evans, Karen Azatyan, Carolina Agüero, Alexandre Riabko, Madoka Sugai, Mayo Arii, Yaiza Coll, Giorgia Giani und Jacopo Bellussi in „Chopin Dances“. Aber müssen es am Ende wieder nur Pärchen sein? Eine wichtige Frage… Foto: Kiran West

Die große Humanität, die man in John Neumeiers Balletten findet, sucht man bei Robbins denn auch umsonst. Und wenn man sehr streng hinschaut, kann man nicht umhin, das Ende von „Dances at a Gathering“ kitschig zu finden. Denn man wusste auch 1969 schon, dass nicht alle Menschen in traditionellen Zweierbeziehungen glücklich werden. Und gerade Robbins, der sich diesem Dilemma durchaus stellen musste – in seiner schöpferischen Arbeit wie auch privat – ist es doch ein wenig übel zu nehmen, hier so simpel wie zwanghaft ein ungetrübtes Happy End zu zweit für alle herbei zu führen.

Da sind die plötzlichen Auflösungen der Paare während des Stücks „Dances at a Gathering“ doch weitaus authentischer und glaubwürdiger, in jeder Hinsicht.

Man hat so den Verdacht, dass Robbins stark auf den oberflächlichen Erfolg bei Mäzenen wie bei Politikern schielte. Denen gefällt natürlich die Wiederholung der plumpen heilsgeschichtlichen Versprechungen der Konsumindustrie, Motto: Alles wird gut.

Und auch politisch muss man das Werk von Robbins hier und da hinterfragen.

So lehnte er es stets rigoros ab, seine Werke inhaltlich eindeutig zu kommentieren und dem Publikum Muster für die Deutung an die Hand zu geben. Er bestritt sogar, dass die „Dances at a Gathering“ eine Art Handlungsfaden beinhalten, was sie indes durch die exponierte Stellung der Hauptperson, des „Mannes in Braun“, in drei wichtigen Szenen tun.

John Cranko wird 90

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Allerdings muss man die Szenenreihe gut beobachten, um überhaupt herauszufinden, dass es immer derselbe „Mann in Braun“ ist, der die Kernszenen tanzt bzw. die Kerngestik ausübt. Und zwar im ersten, dreizehnten und achtzehnten Stück.

Der unübersehbare utopische Charakter von Robbins’ Friedensfantasie in „Dances at a Gathering“ hat nun aber einen dem entgegen gerichteten Impetus.

Das bunte Paradies auf Erden für alle – das ist keineswegs eine kapitalistische Heilsversprechung, sondern eindeutig eine kommunistische.

Nun würde Robbins sich niemals offen zu derlei Gedanken bekannt haben. Dafür fehlten ihm sozusagen die Eier – denn im Amerika seiner Zeit war es der Karriere hinderlich wenn nicht sogar brandgefährlich, als Künstler überhaupt eine Meinung zu haben.

Der ganz anders agierende Dramatiker Arthur Miller, der zweite Ehemann von Marilyn Monroe, ebenfalls ein großer Künstler im Nachkriegsamerika, hat darüber ein Stück geschrieben. Seine „Hexenjagd“ wirkt, auch um die Zensur zu umgehen, auf den ersten Blick wie ein rein historisierendes Drama, aber gemeint sind die Bezüge zum inquisitorischen Vernichtungswillen des US-Kapitalismus.

Dass traurige Phänomene wie der Klu-Klux-Clan typisch amerikanische Erscheinungen sind (und eben keine Ausnahmen), zeigt die Gegenwart ja allzu deutlich.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Erfrischend und anmutig: Yaiza Coll als „Frau in Grün“. Foto aus „Chopin Dances“ („Dances at a Gathering“): Kiran West

Von der Ära McCarthy, in der gerade Intellektuelle und Künstler wie Arthur Miller und Bertolt Brecht gnadenlos denunziert und staatlich verfolgt wurden, bis zum Wahlsieg eines Donald Trump ist es nämlich kein weiter Weg.

Man muss nur aufhören, die dunklen Wolken am Himmel zu tabuisieren und solchermaßen zu vergessen.

Insofern gibt auch das Bühnenbild von „Dances at a Gathering“ mit seinem nachgerade surreal ungetrübten Himmelsblau einerseits und seinen beiden großen prägnanten Wolken darauf andererseits gewisse Hinweise. Und es ist kein Zufall, dass diese Wolken im Verlauf des Stücks – im Verlauf des großen Menschheitstraums, wenn man so will – immer weiter verblassen und schließlich aufgelöst haben.

Aber das ist nur die erste Hälfte der „Chopin Dances“. Und der zweite Teil ist fast ein Stilbruch im Vergleich zum ersten!

Nach der Pause kommt nämlich das scharf satirisch getaktete „The Concert“ („Das Konzert“), das zwar ebenfalls von Jerome Robbins und ebenfalls zu Klängen von Frédéric Chopin kreiert wurde, das aber – als Werk von 1956 quasi ein Nachzügler der Stummfilmzeit – den wortlosen Slapstick und die Parodie in den Vordergrund stellt.

Während die „Dances at a Gathering“ lyrisch und elegant daher kommen, ist in „The Concert“ viel Spielraum für deftige Pantomime.

Alle Figuren hier sind Karikaturen: Sie spießen auf, was unsere heimlichen Gedanken sind, wenn wir im klassischen Konzert sitzen und den edlen musikalischen Klangfiguren lauschen.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Köstlich witzig: Konstantin Tselikov, Dario Franconi und Carolina Agüero in „The Concert“ von Jerome Robbins in „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber auch dieses Stück ist für seine Entstehungszeit – das war schon 1956 – außerordentlich modern!

Und auch hier trägt die großartige Körperkunst von Carolina Agüero! Es ist wirklich allerhand, was sie aus Jerome Robbins‚ Frauenfantasien zu machen weiß.

Die argentinische Künstlerin, die sich seit 2006 beim Hamburg Ballett erst langsam, dann exzessiv entwickelt hat, ist aus dem Reigen großer Primaballerinen nicht mehr wegzudenken. Charme und Schönheit ergänzen ihre technischen Befähigungen – und welche Rolle sie auch auf sich nimmt, sie meistert sie mit dramatisch-nobler Kraft.

In „The Concert“ ist sie die „Ballerina“, die mit Strohhut und Seidenschärpe (übrigens wieder in Pink) vom Erfolg, von der Liebe, von großen Gefühlen träumt. Der Pianist hat hier ja seinen Auftritt, endlich einmal!

Michael Bialk spielte schon die „Dances at a Gathering“ mit Esprit und Hingabe – und mit viel Talent für die hier wegen der genau aufgelegten, oft schwungvollen Choreografie nicht eben einfache Tänzerbegleitung!

Jetzt darf er auf die Bühne kommen, sich wie eine lustwandelnde Tänzerparodie spreizend, und sich betont langsam an seinen schwarzglänzenden Flügel setzen. Nathan Brock im Orchestergraben dirigiert derweil das Philharmonische Staatsorchester Hamburg – die hier orchestrierten Chopin-Stücke rauschen und berauschen das Ohr.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Eine seltsame Truppe: Graeme Fuhrman, Jacopo Bellussi, die göttliche Carolina Agüero und Nachwuchsballerina Greta Jörgens in „The Concert“ von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Und dann kommt La Agüero hinzu, stellt einen Klappstuhl auf und lauscht und lauscht und lauscht der Klaviermusik. So intensiv saugt sie die Musik in sich auf, dass sie – das passiert etwas später – nicht mal merkt, wie ihr Emilie Mazon als zünftige, als „eine energische Frau“ den Stuhl unterm Hintern wegzieht. Carolina klebt bereits versonnen am Piano und sitzt auf Luft, die Begeisterung für die Musik hält sie.

Man merkt schon: Der Umgang des Personals ist hier derb miteinander und erinnert an beste Stummfilmzeiten.

Nach und nach kommt das Publikum für ein Konzert auf die Bühne, allesamt liebenswert lächerlich aufgemacht.

Es scheint aber ein geträumtes Konzert zu sein, denn es findet weder in einem Theater noch als sommerliche Outdoor-Location statt, zu der die Klappstühle gut passen würden. Es gibt hier nur das Klavier, das Orchester im Off des Orchestergrabens sowie einen Kartenkontrolleur, der ab und an für Verwirrung sorgt.

Die männliche Hauptperson ist aber nicht der Pianist, sondern „der Ehemann“, der auf die Ballerina scharf ist und sich seiner hässlich gewordenen Ehefrau am liebsten entledigen möchte.

Ivan Urban tanzt mit Grandezza diesen grotesken Part eines Mannes in rotgestreifter Weste, der bis zum Schluss den Zigarillo nicht aus dem Mund nimmt.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Ivan Urban träumt als „der Ehemann“ in „The Concert“ davon, seine schabrackige Gattin (köstlich pseudovornehm in der Rolle: Patricia Friza) zu ermorden. Na sowas! Foto: Kiran West

Eigentlich war hier Lloyd Riggins eingeplant, aber eine Verletzung setzte ihm zu sehr zu. Gute Besserung von hier aus!  Ivan Urban hat somit (nach der Uraufführung von „Anna Karenina“) zum zweiten Mal in Folge beim Hamburg Ballett das Vergnügen, für einen erkrankten Kollegen einzuspringen und seine Sache so gut zu machen, dass man gar nicht auf den Gedanken käme, er wäre nicht die Erstbesetzung, wenn man es nicht wissen würde.

Es ist wirklich knallig, komisch, kunterbunt clownesk, was Urban in dieser perfiden Rolle leistet! Zu den hinreißend plätschernden Chopin-Klängen fantasiert er vom Mord an der nervigen Ehefrau, die er nur allzu gern durch die Ballerina ersetzen würde. In seinen Träumen macht er das einfach…

Aber die zickige Gattin erweist sich als zäh. Patricia Friza kommt hier – wie schon in John Neumeiers „Anna Karenina“, wo sie die Dolly tanzt – das Verdienst zu, aus der Rolle der frustrierten und ungeliebten Hausfrau eine interessant-makabre Figur zu machen. Wirkt sie in „Anna Karenina“ gebührend abgehärmt, darf sie als „die Ehefrau“ in „The Concert“ eitel und abgestumpft wirken. Köstlich, wie sie ungerührt versucht, elegant und gebildet auszusehen, während der sie schmähende Ehemann hinterrücks mit dem Messer auf sie einstechen will.

Aber er schafft es nicht, und er zweifelt dann schon an der Stichtüchtigkeit des Messers! (Was für eine Symbolik für seine wohl kaum noch penetrierende Männlichkeit!)

Also probiert er das Messer an sich aus und zuckt vor Schmerz zusammen. Aber so sind Menschen eben: nicht immer nur superschlau.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Auch er betet umsonst an: Der witzige Konstantin Tselikov als „ein schüchterner Jüngling“ und die herrliche Carolina Agüero als „Ballerina“ in „The Concert“. Foto: Kiran West

Das Publikum kugelt sich hier übrigens sozusagen vor Lachen, zumal auch weitere KonzertbesucherInnen eher ans Cabaret denn ans klassische Ballett erinnern.

Eine Horde ungestalter Möchtegernballerinen tanzt auf, als seien Stilbrüche kein Thema. Zwei junge Mädchen agieren so zwillingsähnlich, dass man ihnen das Bonmot „Gruppenzwang für zwei“ auf die Stirn schreiben möchte. Dann ist da der Platzanweiser, der für Aufwallungen beim Platzwechsel sorgt. Und ein schüchterner Jüngling mit zuviel Gel im Haar – von Konstantin Tselikov prima getanzt – staunt die holde Weiblichkeit um ihn herum an, bis es ihm vermutlich fast kommt.

In dieser kruden Allerweltsgesellschaft bildet der triebgeplagte „Ehemann“ das Zentrum. Er sieht sich als Anführer einer munter springenden Zirkus-Compagnie, militärisch-folkloristisch hüpfen da seine Gefährten unter seinem Kommando. Ha! Hu! Auch Laute geben die feschen Kerle von sich, wobei der Zigarillo natürlich stets im Großmaul bleibt.

Und wen soll das Imponiergehabe beeindrucken? Natürlich: die schöne Ballerina, die dank Carolina Agüero jeden Scherz einfach nur supertoll mitmachen kann.

In gewisser Weise ist Agüero ja das Rückgrat dieser „Chopin Dances“: erst berückt sie in „Dances at a Gathering“ als „Frau in Pink“, dann hält sie als „Ballerina“ den Laden in „The Concert“ zusammen. Wie bewunderungswürdig!

Und auch Lucia Ríos, Dario Franconi, Graeme Fuhrman, Greta Jörgens, Marià Huguet, Hayley Page, Yun-Su Park, Kristina Borbélyová, Giorgia Giani, Priscilla Tselikova, Jacopo Bellussi, Leeroy Boone, Matias Oberlin, David Rodriguez, Pascal Schmidt, Lizhong Wang und Eliot Worrell machen aus ihren Partien in „The Concert“, das übrigens im Alternativtitel ironisch „The Perils of Everybody“ („Die Gefahren für jedermann“) heißt, nur das Allerbeste, Allerwitzigste, Allerskurrilste. Hand aufs Herz: Mehr Jerome Robbins geht nicht!

Slapstick hoch zehn, strapaziert das Stück natürlich viele gängige Klischees. Zum „Regentropfen-Prélude“ wird denn auch glatt mit Regenschirmen aufmarschiert, und außer der lästigen Gattin verkörpern auch papierraschelnde junge Damen allerweltsgeschädigte Freilandfantasien.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Heißa, was für ein verhinderter Meuchelmörder: Ivan Urban als „der Ehemann“ in Aktion in „The Concert“ in den „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Höchst originell hingegen das Finale: Hier erträumt sich unser unbefriedigter „Ehemann“, ein Schmetterling zu werden – und nach und nach werden auch alle anderen zu putzmunteren Faltern. Ausstaffiert sind sie allerdings wie für einen Kinderkarneval, mit Fühlern auf dem Kopf und wabernden Umhängen als Flügelersatz. Und endlich erfüllt sich sein Traum – und die Gattin liegt tot und zum Begrabenwerden bereit am Boden. Zum Piepen!

Die Kostüme, vom Royal Ballet aus London entliehen, sind aber auch mit einer textilen Sorgfalt und einem subtilen Farbsinn gestaltet – na, da könnte man als deutscher Theaterbesucher fast neidisch werden.

Auch wenn der Witz in „The Concert“ manchmal fast unter die Gürtellinie geht – gerade im Duo mit den „Dances“ ergibt sich eine ungeheuer ernste Weltsicht. Denn gegeneinander gehalten, ergeben sich Negativfolien erster Güte:

Wo die Hauptperson in „Dances“ einen Menschheitstraum der Liebe herbeisehnt, träumt der Hauptakteur im „Concert“ vom Tod der Gattin. Die Liebe als Lebensziel hat so gesehen nicht geklappt – sie verkehrt sich in ihr Gegenteil, wird zur Unfreiheit, zur Last, zum Hass.

Die hehre Illusion aus dem ersten Stück wird darum im zweiten ad absurdum geführt – und komplett dekonstruiert. Inhaltlich, aber auch formal, denn die humoristische Ebene, auf der das „Concert“ spielt, erhebt sich höchst übermütig über die seriös gemeinten „Dances“. Aber, und das ist die Stärke wie auch die Schwäche des „Concerts“, es ist ja alles nicht so ganz ernst gemeint…

Für mich sind die „Dances at a Gathering“ denn auch das bedeutendere Stück, gerade weil sie ernst gemeint sind – aber darüber darf jeder Zuschauer selbst entscheiden, welche Facette von Jerome Robbins ihm mehr liegt: die erhabene oder die komische Seite. Mit den „Chopin Dances“ hat er beides!

Manche können nicht rechnen… 

Manche auch sonst nicht eben durch intellektuelle Leistungen glänzenden Medien – wie tanznetz oder das Hamburger Abendblatt können indes nicht mal rechnen. Sie behaupten, das Hamburg Ballett habe „Chopin Dances“ anlässlich des 100. Geburtstags von Jerome Robbins wieder aufgenommen. Robbins würde aber diese Spielzeit erst 99 Jahre alt werden, und sein 100. Geburtstag fällt in den Oktober 2018.

"Chopin Dances" von Jerome Robbins beim Hamburg Ballett

Dubiose Ballerinchens à la Jerome Robbins in „The Concert“: Lucia Ríos, Priscilla Tselikova, Yun-Su Park, Patricia Friza, Greta Jörgens und Emilie Mazon. Und dann hat man ja doch wieder Sehnsucht nach richtig schönem John-Neumeier-Ballett… das es beim Hamburg Ballett ja nun zum Glück auch zu sehen gibt! Foto: Kiran West

Am 11. Oktober 1918 geboren, starb Robbins am 29. Juli 1998 – ohne die jüngeren Entwicklungen in Polen oder auch im Rest der Welt absehen zu können. Seine Stücke bergen in ihrer Verdichtung von menschlichen Beziehungen hingegen einen Sprengstoff, der stets aktuell ist – und aus Seele gemacht.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

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