
Nächtlicher Flugbahnen: Bernhard Schurian zeigt in der Galerie Gesellschaft in Berlin-Mitte exotische Nachtfalter. Foto: ©schurian.com
Überraschung! Das Tier ist hier Trumpf. Mit den „Nachtschwärmern“ von Bernhard Schurian ist nämlich kein menschliches Partyvolk gemeint. Obwohl es an den Wochenenden in Scharen vor der Galerie Gesellschaft in Berlin-Mitte hin- und herflaniert. Aber die Stars in der liebevoll-gediegenen Galerie sind überraschenderweise: nachtaktive Motten aus dem Regenwald.
Auf schwarzem Grund flattern sie zart und bildschön: Schurian stellte sich mit dem Stativ nächtelang in Vietnam auf die Lauer, um solche Bilder einzufangen. Man sieht scheinbar viele Tiere, doch es ist oft nur eine Motte pro Flugbahn. Schnurgerade oder auch in harmonischen Bögen flog das Getier durch den finsteren Wald. Lebende Ketten scheinen sich da zu bilden, ätherisch und ästhetisch. Motten sind Tänzerinnen der Lüfte, bereichern die Dunkelheit mit ihrem Fluidum. Gelb, Lila, Silberbraun – geheimnisvoll leuchten die Flügel der feingliedrigen Tierchen. Sie gleichen vor der Kamera prächtigen Schmetterlingen oder auch exotischen Flugobjekten, vielleicht sollte man sie am besten „Flugsubjekte“ nennen.

Wild und doch geordnet: Motten fliegen ergonomisch. So zu sehen in der Galerie Gesellschaft in Berlin. Foto: ©schurian.com
Denn jedes Tier hat eine Seele. Die zeigt sich, wenn es sich bewegt. Und für naturkundliche Sammlungen werden Insekten mit ausgebreiteten Flügeln aufgenadelt. In der Natur aber legen sie ihre Fluggeräte eng an den Körper an, wenn sie Kraft schöpfen oder sich zur letzten Ruhe betten. Um ein Exemplar der Spezies „Eumorpha achemon“ („Sphinx-Motte“) von nahem zu betrachten, nahm sich der Fotograf ein totes Tier vor. Der Kopf, wie Leib und Flügel von rosabraunem Haar wie von einem Fell überzogen, wirkt gedrungen. Der Rüssel ragt keck aus dem scheidenförmigen Maul. Goldgrün glänzen recht und links die Facettenaugen, die zu Lebzeiten so ganz anders sahen, als Menschenaugen es tun. Motten sehen nämlich vor allem bei kurzwelligem Blaulicht gut.
Und keine Reflexe verraten nachts ihre Existenz, wenn Motten durch den Dschungel schweben. Denn Mottenaugen sind ein Musterbeispiel für Mikroarchitektur. Unterm Elektronenmikroskop erkennt man, dass sie winzige säulenartige Ausstülpungen auf den einzelnen Facetten tragen. So werden Spiegelreflexe verhindert. Es gibt eine Doktorarbeit darüber. Denn die Wirtschaft will den Mechanismus mit Nanotechnik nutzen, um reflexloses Glas herzustellen.

Diese Stabschrecke fliegt durch den asiatischen Regenwald. Wenn sie lebt. Akkurat fotografiert, erwartet sie ihre Gäste jetzt in der Galerie Gesellschaft in Berlin. Foto: ©schurian.com
Dabei dienen die Insekten uns sowieso viel. Sie sind, wenn sie bestäuben, die Grundlage unserer Nahrungskette. Sie sind Futter für all die Vögel, die unser Herz erfreuen. Sie fliegen seit 400 Millionen Jahren. Ob der Mensch das mit Flugzeugen wohl auch schaffen wird? Windräder hingegen vernichten Insekten milliardenfach, auch Pestizide sowie die Versiegelung der Böden nehmen ihnen die Chancen zum Überleben. Ein Viertel aller Insektenarten wird in 27 Jahren ausgestorben sein, besagt eine Studie.
Solche News verleihen Schurians Motten einen Status: Sie sind Kunst gewordene Biodiversität. Das Thema der Insekten ist ohnehin Kult und weist Schurian wie auch die Galerie als Trendsetter aus. Wie werden wir mit immer weniger Insekten leben können? Wir werden sie zunehmend respektieren und immer seltener als vermeintliches Ungeziefer missachten.
Wie ein Mahnmal wird denn auch unter einer Glashaube eine „Sphinx-Motte“ – eine Leihgabe des Naturkundemuseums Berlin – ausgestellt. Sie ist die Säulenheilige dieser Ausstellung, passt auf, dass der so oft übersehenen oder wegen Klamottenfraß verunglimpften Motte Respekt gezollt wird.

Zarte Motten tanzen im Mondschein: Bernhard Schurian fing sie mit der Kamera ein. ©schurian.com
Andreas Wessel, der Kurator, erklärt dann im Katalog, dass die Versuche, tierische Bewegungen bildnerisch einzufangen, bis ins Jahr 1878 zurückgehen. Schurian arbeitete zudem nicht allein mit den Flugsubjekten, sondern folgte Insektenforschern auf eine Expedition. Seine Ergebnisse sowie diese Ausstellung verschmelzen Kunst und Wissenschaft vorbildlich.
Gisela Sonnenburg
Bis 10. Oktober 25 in der Galerie Gesellschaft, Auguststr. 83, 10117 Berlin. Do–Sa 14–18 Uhr (https://galerie-gesellschaft.de)