Leben mit Freundschaft Mit den „Bernstein Dances“ von John Neumeier eröffnete das Hamburg Ballett seine neue Saison – und feiert damit einen fulminanten Erfolg

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

So sieht die erste Szene der „Bernstein Dances“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett aus: Christopher Evans (li.) tanzt die Titelfigur, den Komponisten der „West Side Story“. Am Piano schläft er ein, bevor die Traumfiguren seines Lebens Revue passieren. Rechts zeigen drei Fotografien den realen Komponisten bei der Arbeit als Dirigent. Foto: Kiran West

Freundschaft kann so viel wert sein! Freunde können durch so tiefe und zudem zuverlässige Gefühle verbunden sein, dass jede Liebesbeziehung mit ihrer wechselhaften Passion dagegen blass und vergänglich anmutet. Manchmal aber verquicken sich die Verhältnisse, und man kann kaum unterscheiden, ob jemand als Geliebte(r) oder als Freund(in) vorrangig zu schätzen ist. Und wie vereint man dann noch eine bisexuell-promiskuitive Veranlagung mit einer monogam zu führenden ehelichen Beziehung? Leonard Bernstein, der US-amerikanisch-jüdische Komponist, der für den Broadway ebenso Meisterwerke schuf wie für Sinfonieorchester und der am 25. August 1918, also vor hundert Jahren, geboren wurde, war das wandelnde Musterbeispiel für so ein kompliziertes Liebesleben. Glück und Unglück lagen da nah beieinander. Seine beschwingende Musik aber nimmt der freien Liebe ihren Schrecken – und lässt die Trias Glaube, Liebe, Hoffnung oft genug reüssieren. Euphorie und Rhythmus, Freude und Güte finden sich in Musik umgesetzt. Der deutsch-amerikanische, katholische und homosexuelle Choreograf John Neumeier suchte aus diesen künstlerischen Gründen schon früh den Kontakt zu Bernstein. Und als 1998 sein Ballett „Bernstein Dances“ beim Hamburg Ballett entstand, hatte Neumeier bereits mit der „West Side Story“ (1978) und der Double Bill „Songfest / The Age of Anxiety“ (1979) zwei grandiose, inhaltssatte Abende zu Musiken des Komponisten erstellt.

Aber auch eine enge Freundschaft von Künstler zu Künstler hatte sich entwickelt: Bernstein, der Neumeiers Vater hätte sein können, wurde eine nicht mehr wegzudenkende Muse im Schaffen des weltbedeutenden Ballettmachers.

Mit Stücken wie den „Birthday Dances“ zum 50. Geburtstag von Margarethe II. von Dänemark (1990) hat Neumeier denn auch kürzere Werke zu Bernstein-Klängen erschaffen. Den ersten Kontakt hatten die beiden Männer übrigens über den Komponisten Gustav Mahler, dessen Kontrapunkte in Bernsteins Musik gelegentlich hörbar sind. Bernstein war zu Lebzeiten ja vor allem auch als Dirigent erfolgreich. Und als Neumeier plante, „Die dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ als Ballett tanzbar zu machen, bat er, vermittelt vom damaligen Hamburger Opernintendanten August Everding, den Komponisten Bernstein am Telefon, die Uraufführung zu dirigieren. Aus zeitlichen Gründen – Neumeier fragte nur etwa ein Jahr vor dem Termin 1975 an – konnte Leonard Bernstein nicht zusagen. Aber der gute Draht zwischen den beiden Männern war hergestellt, und mit dem Musical „West Side Story“, das Neumeier 1978 zu einem Zeitpunkt inszenierte, als es in Deutschland sonst kaum hochkarätiges Musical gab, war der Grundstock für eine auch nach außen sichtbare Kooperation gelegt. Sie hielt bis zu Bernsteins Tod im Oktober 1990.

Ende der 90er Jahre sollte dann ein sensibler Rundumschlag durch Bernsteins Leben auch die persönliche Sicht des Tanzkünstlers auf den Komponisten beleuchten – und eine Reflexion von Bernsteins Wirken und Erfahrungswelten darstellen. Die „Bernstein Dances“ entstanden.

Süße Erinnerungen, heiße Wünsche, unterschwellige Ängste, hochfliegende Hoffnungen, einsame Kämpfe spiegeln sich darin.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Liebe bahnt sich an in den „Bernstein Dances“ von John Neumeier.  Christopher Evans und Emilie Mazon zeigen hier: Der Komponist Bernstein war sehr empfänglich für die sinnlichen Reize einer schönen Frau. Foto: Kiran West

Das Ballett „Bernstein Dances“ ist eine das Leben feiernde Collage, zugleich aber auch eine feurige Hommage des Künstlers Neumeier an den Künstler Bernstein – und es triumphiert darin die Kunst der Liebe, die Kunst aus Liebe, jener Moment also, in dem Liebe und Kunst verschmelzen. Gerade richtig, um den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein zu zelebrieren.

Gerade richtig aber auch, um in Zeiten, in denen viele Werte und Sicherheiten in der Gesellschaft ins Wanken geraten und nicht wenige Menschen dringend Halt und neue Freiheiten zugleich suchen.

Für Neumeier-Fans ist es außerdem interessant, dass es mit dem dieses Jahr, also 2018 entstandenen „Beethoven-Projekt“ und mit „Purgatorio“ von 2011 – welches um Gustav Mahler kreist – insgesamt drei Ballette sind, in denen das choreografische Genie Musiker portraitiert.

Wer nun glaubt, so eine Referenz an einen verstorbenen Komponisten sei kaum der Rede wert, der irrt sich gewaltig. Die „Bernstein Dances“ verströmen eine solche Power, eine solche Zuversicht und solche Ehrlichkeit, dass man zugleich zu Tränen gerührt und zum Schmunzeln gereizt wird. Selbst für ein Neumeier-Ballett – und da liegt die Messlatte bekanntlich hoch – handelt es sich hier um eine nochmalige Ausnahme unter den Ausnahmen: Das Stimmungsbarometer im ausverkauften Zuschauerraum schnellt rasant in die Höhe, und bis zum Schluss steigert es sich schier ohne Endlichkeit.

Die Kraft und der Mut, die man aus diesem Ballett beziehen kann, kennzeichnen eine Kunst, die über den bloßen Anschein, den man sieht, weit hinausgeht.

Dass Ballett eine spirituelle Kunst ist – und nicht nur eine „sportlich angehauchte“ – beweisen die „Bernstein Dances“ par excellance.

Der Abend zeigt aber auch, zu welcher Virtuosität und zu welchen Bestleistungen das aktuelle Hamburg Ballett fähig ist.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Das Hamburg Ballett in Aktion bei den „Bernstein Dances“: Oedo Kuipers, Dorothea Baumann, Karen Azatyan, Christopher Evans und das Ensemble. Foto: Kiran West

Die „Bernstein Dances“ sind ein Volltreffer!

Die Wiederaufnahme zu Beginn der Spielzeit führte denn auch in der Neubesetzung mit der jetzigen jungen Tänzergeneration zu einer knappen Viertelstunde Schlussapplaus mit stehenden Ovationen vor den Tänzern und vor allem für John Neumeier, der dafür auch auf die Bühne kam. Und das, obwohl das musikalische Finale hier bereits die Zuschauer und ihren Applaus mit einband. Was für ein Jubel! Ein Beifallssturm wie sonst nur bei einer Gala oder einer Uraufführung. Und so verdient!

Zwei Stunden zuvor ist alles noch ganz ruhig.

Es beginnt mit dem zauberhaft-malerischen Vorspiel, der Ouvertüre zu „Candide“. Der Samtvorhang dazu ist blau, tiefblau ist auch das Licht, das von John Neumeier für den Anfang kreiert wurde. „Choreografie und Bühne“ habe er gestaltet, verrät der Programmzettel, darunter fällt in diesem Fall auch das Licht – und die wie in allen Neumeier-Stücken spielt die meisterhaft geregelte Lichtregie hier auch eine große Rolle.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Jacopo Bellussi und Christopher Evans in einer ergreifenden Szene: Freundschaft, Liebe, Verehrung, Trost. So zu sehen in den „Bernstein Dances“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Garrett Keast dirigiert dazu das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, dessen Bläser dieses Mal besonders positiv auffallen: mit Schwung, aber auch Sanftheit, mit Leistungsbereitschaft und homogen mit den Tänzern, mit Emotion, aber auch mit Stil – und das Sängerduo, das mit den Tänzern zusammen auf der Bühne agiert, ist so souverän und mit so viel Spielfreude dabei, dass man fast vergisst, auf ihre exzellenten, nicht übertreibenden, aber stets gefühlvollen Stimmen zu achten.

Die hübsche Dorothea Baumann (Sopran) und der nicht minder attraktive Bariton Oedo Kuipers fügen sich in die Szenerie, als gehörten sie schon immer zum Hamburg Ballett.

Auch der Pianist Sebastian Knauer und die Violinistin Liza Ferschtman lassen nichts zu wünschen übrig.

Vor allem aber becirct das Hamburg Ballett – mit Schönheit, Swing und Sexiness. Solisten und Ensemble sind in bester Verfassung, und das Ballettmeisterteam hat allerhand mit ihnen gearbeitet, um die vielen Einzelszenen, die den Werdegang von Bernstein nachzeichnen, in perfekte Formen zu gießen.

Allen voran brilliert als Hauptfigur – backstage „Mann I“ genannt – der ranke, elegant-dynamische Christopher Evans, der soeben zum Ersten Solisten befördert wurde. Bei der Uraufführung 1998 tanzte übrigens Lloyd Riggins diese Partie.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Christopher Evans und Hélène Bouchet in den „Bernstein Dances“ – sie sind hier als Komponist und Gattin ein Paar, aber nicht das einzige… Foto: Kiran West

Spätestens, seit Evans den Albert in Neumeiers Version von „Giselle“ tanzte, weiß man, dass er das Zeug zum Primoballerino hat. Und jetzt zeigt er seine Befähigung, auch ein abstrakteres Libretto temperamentvoll zu bespielen und schauspielerische Situationen mit Bravour zu absolvieren.

Er betritt die Szene und ist Bernstein. Einfach, weil ihn die Musik, das Klavier so magisch anziehen. Er setzt sich an den Flügel, der links auf der Bühne positioniert ist. Er spielt ein paar Takte. Und der Pianist kommt dazu, wie eine Verstärkung seines künstlerischen Egos. Sie spielen zu zweit. Musik, die große Illusion, die alles am Leben erhält, entsteht.

Weiter rechts rücken zwei Flügeltüren ins Licht. Zuvor strahlten die Scheinwerfer drei grobporig vergrößerte Fotos von Bernstein an.

Das Klavierspiel verströmt eine inspirierende Atmosphäre. John Neumeier verbrachte mal einen Abend bei Freunden am Klavier mit Bernstein. Jetzt erscheint zu den sanften Klängen ein weiterer Tänzer: Alexandr Trusch als „Love“, als personifizierte Liebe.

Es ist nicht schwer, sich diesen bildschönen jungen Mann als Abbild eines Eros vorzustellen. Bernstein selbst war gebildet, kannte die griechischen Mythen und die antiken Philosophen. Seine Komposition „Serenade after Plato’s Symposium“ rekuriert auf die überlieferte Legende, die Menschen seien einst kugelrunde, vollkommene Wesen gewesen, und erst die Eifersucht von Zeus auf ihr Glück habe sie – mittels Blitz – in zwei Hälften geteilt. Seither suche jeder Mensch seine zweite passende Hälfte.

Doch diese Musik erschallt erst gen Ende des Balletts, als auf einer ominösen Party allerlei Liebesdinge aus den Fugen geraten.

Jetzt geht es erst einmal um die Zweifel, die ein junger Künstler hat, wenn er nach oben strebt. Wird er gut genug sein, um den harten Wettbewerb zu bestehen? Wird er genügend Glück haben, um Anerkennung zu finden? Wird er gefördert werden?

Bernstein – das erfährt man auch aus dem unbedingt lesenswerten und zudem optisch schön gestalteten Programmheft des Hamburg Balletts zu „Bernstein Dances“ – musste sich zunächst mit Jobs über Wasser halten. Obwohl arrivierte Komponisten wie Aaron Copland ihm Empfehlungen schrieben, ließ der Erfolg als Nachwuchsmusiker auf sich warten.

Eine besondere Rolle bei diesem Kampf ums Überleben spielt dabei New York als weltstädtische Metropole und als Herz der amerikanischen Musikwelt.

Mehrfach nahm Bernstein – aus Massachusetts stammend – Anläufe, um im unbarmherzigen Big Apple zu überleben. Mehrfach musste er vor dem Moloch, den die Großstadt auch bedeuten kann, fliehen.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Christopher Evans und Alexandr Trusch in den „Bernstein Dances“: ein Künstler und die Liebe im sinnlichen Gespräch. Foto: Kiran West

Da ist Inspiration umso wichtiger, um durchzuhalten, um den Glauben an sich und das eigene Talent nicht zu verlieren. Und um das zu tun, was man für richtig hält. Aber wer ist man eigentlich?

Who am I?“ singt, ganz lyrisch, der Sopran. „Wer bin ich?“, fragt die Stimme sich, und der Song stammt aus Bernsteins Kindermusical „Peter Pan“. Kein Wunder, dass ein quirliger Mann wie Bernstein sich dem kindlichen Irrwisch Peter Pan, aber auch der von einem anderen Leben träumenden, dennoch braven Wendy so nahe fühlen konnte.

Die bezaubernde Hélène Bouchet und die niedliche Emilie Mazon, die absolut tolle Madoka Sugai, der temperamentvolle Karen Azatyan und der burschenhafte Jacopo Bellussi illustrieren mit ihren edlen Körpern feine Figuren des Miteinanders. Sie verkörpern Gedanken und Gefühle, sind aber auch zugleich Menschen aus Fleisch und Blut. Für Bernstein tanzen sie – und mit Bernstein tanzen sie.

Aber was wäre so ein freundschaftliches gemeinsames Handeln ohne die Liebe! Sie beseelt, sie hält intakt, sie inspiriert, sie gewährt Vorsicht, sie ist der Schutz und der Ansporn, ohne sie wäre die Menschheit eine rohe, verwilderte Meute.

Hier öffnet die Liebe auch die Türen, die hellen durchscheinenden Flügeltüren auf der Bühne, hinter denen sie zunächst als Schattenriss auftauchte. Was für eine Poesie.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Alexandr Trusch springt, auf einer ominösen Party im zweiten Teil der „Bernstein Dances“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Alexandr Trusch als „Love“ erweist sich hierin einmal mehr als Held der Ausdruckskunst Ballett, er ist ein Ballerino, dem wohl keine noch so schwierige oder komplexe Bewegung nur Technik bedeuten könnte. Gerade die Befähigung, mit dem Körper auf höchstem technischen Niveau auch zu schauspielern, macht aus Trusch einen so begnadeten Interpreten. Dass er auf die anderen einwirkt, ist gar nicht zu übersehen! Und für Christopher Evans als Bernstein ist Love so etwas wie das Ich als Gegenüber. Das Innerste im Außenbild. Das Spiegelbild der Seele.

Entsprechend haben ihre Pas de deux das Flair von Freundschaft und Zusammenhalt, von Zuneigung und Hilfe, von gemeinsamem Streben und trostreicher Haltung. Wunderschön. Als seien Evans und Trusch Brüder im Geiste.

Auch „Anfang und Aufbruch“, das zweite tänzerische Kapitel hier, lässt die verschiedenen Aspekte – die Neumeier in seinem Ballett „Peer Gynt“ auch wörtlich so nennt – auftanzen und miteinander wirken. Sie alle gehören zum Dasein des Komponisten Bernstein.

Die Hebefiguren der Paare, die hier noch nicht fest definiert sind, läuten das Glück herbei, sozusagen.

Dass ein Sternenhimmel aus lauter kleinen Lichtern die nächtliche Stimmung beschwört, auch die einer Liebesnacht mit einer Frau, bringt eine weitere Facette hinzu.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Jacopo Bellussi und Emilie Mazon – auch diese beiden sind ein Paar mit tiefem Hintersinn im Tanz. So zu sehen in den „Bernstein Dances“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Doch die Realität ist knallhart, und mit „What a Waste“ („Was für eine Vergeudung“) schmettern die Ballerinen und Ballerinos im Refrain den Ärger heraus, den man hat, wenn ein glückloser Talentbolzen in einer Großstadt zu existieren versucht.

Bei Bernstein und Neumeier entbehrt aber auch diese Szene nicht der Vitalität. So mitreißend ist die Sisyphos-Arbeit des ewigen Beginners hier, dass man sich zwischen Revue- und Musicalstimmung hin- und hergerissen fühlt.

Im Bühnenhintergrund stehen aufgemalte riesenhafte Wolkenkratzer, die John Neumeier unter Verwendung der puristischen Stadtportraits von Reinhart Wolf designte. Der Fotograf betonte die klaren Linien der Architekturen, die er von Menschen entvölkert und also als alles dominierend zeigte.

„What a waste to come here“, jammert im Swington dazu der Song – „was für eine Verschwendung, überhaupt hierher gekommen zu sein!“ Jeder, der mal einen Neuanfang versuchte, kennt dieses Gefühl. Aber man darf nicht aufgeben, auch dann nicht, wenn der Schlusschor brüllt: „Go home!“ – „Hau ab, geh heim, geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist!“

Sara Coffield, Yaiza Coll, Georgina Hills, Hayley Page und Yun-Su Park bei den Girls und Leeroy Boone, Graeme Fuhrman, Florian Pohl, Mathieu Rouaux und Eliot Worrell bei den Jungs parodieren hier tänzerisch und stimmlich mit Bravour das Auf und Ab im Chancenspiel der Jugend.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Alexandr Trusch, Madoka Sugai, Christopher Evans und Hélène Bouchet in den „Bernstein Dances“. Vielschichtig und symbolisch ist das Stück von John Neumeier. Foto: Kiran West

Wenn Madoka Sugai aber zuerst mit Christopher Evans, dann mit dem sie übernehmenden Karen Azatyan die hohe Kunst des Paartanzes zelebriert, ist das allerdings wie aus einer anderen Welt. So schwebend und doch so gefühlvoll gehen die drei miteinander um: „A little bit in Love“, „ein wenig verliebt“ muss man eben nur sein – und schon sieht alles ganz anders aus. Was für ein Schmelz geht von dieser Szene aus!

Der „Wrong Note Rag“, der „Ragtime der falschen Note“, illustriert dann den Trotz und den Elan eines Individuums, das den Kopf hochhält, auch wenn die Zeiten hart sind. Karen Azatyan, der heißblütige Armenier vom Hamburg Ballett, schleudert die Bewegungen hier nur so vor Trotz und immer wieder aufquellender Lebensfreude von sich.

Dagegen ist die „Lonely Town“, die „einsame Stadt“, ganz sanftmütig und in sich gekehrt. Die Primaballerina Hélène Bouchet, deren Füße ganz sicher die schönsten der ganzen Ballettwelt sind, und die mit femininen Formen bei glanzvoller Grazie erfreut, scheint hier mit jeder einzelnen Bewegung zu beschreiben, wie schön und doch melancholisch es ist, sich nach Liebe zu sehnen.

Ihre Cambrés sind dann die Erfüllung aller Wonnen in Gedanken – und als Jacopo Bellussi auftaucht, war all die Sehnsucht nicht umsonst.

Oh, was für ein schönes und sinnliches Paar!

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Bouchet, Evans, Trusch: drei Spitzensolisten vom Hamburg Ballett in „Bernstein Dances“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Bouchet mit ihren fraulichen Linien und Bellussi mit seiner jugendlichen Kraft – man möchte sie sofort für „Romeo und Julia“ engagieren.

Hier aber tanzen sie in einem symbolisch aufgeladenen fast leeren Raum, den zwei Stühle als Heimat der Heimatlosen kennzeichnen.

Der Pas de deux beginnt nämlich im Sitzen – Bouchet befindet sich einsam zusammengekauert auf dem einen Sitzholz, als sich Bellussi einfach auf den zweiten dazu setzt. Flugs entspinnt sich eine Beziehung, bald liegt Bouchet quer auf Bellussis Armen.

Christopher Evans pafft dazu beobachtend – ganz Bernstein-gemäß und ganz im Lifestyle der damaligen Zeit – eine Zigarette.

Die Bewusstseinsebenen wechseln mit der Musik. Aus den beiden Tänzern Trusch und Evans wird wieder ein Künstler im Zwiegespräch mit sich selbst.

Aber mit einem Kuss von hinten auf die Schulter von Hélène Bouchet beginnt Evans, beginnt Bernstein, ein Liebesverhältnis mit der schönen Femme fatale.

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Wieder allein, vollführt diese ein Solo, das sie so nahbar und doch stolz zeigt, als habe sie erst jetzt vollends zu sich gefunden.

Da ist sie, die Zauberkraft der Liebe, die sich in keine Raster oder Amtsschubladen stecken lässt.

Das Corps greift diese positive Energie auf und zeigt, was Freunde miteinander tänzerisch vermögen. Sie springen glücklich in die Höhe und sie wippen scherzhaft in den Knien, sie laufen und springen und straffen die Körper im Sprung, sie sind ein einziges Ausbund an Sympathie und Fröhlichkeit. Hey, was kostet die Welt heute?

Kristina Borbélyová, Sara Coffield, Giorgia Giani (ganz besonders pfiffig und adrett), Greta Jörgens, Hayley Page und Priscilla Tselikova sowie Leeroy Boone, Graeme Fuhrman, Nicolas Gläsmann, Florian Pohl (dem übrigens seröse Anzüge ganz hervorragend stehen, wie man in diesem Ballett sehen kann), Mathieu Rouaux und Eliot Worrell sind als Ensembletruppe einfach eine Wucht!

Aber auch das ist noch zu toppen, und zwar von einem Mädchensolo. Emilie Mazon tanzt „So pretty“ mit soviel Wärme und Innigkeit, mit technischer Finesse und doch lockender Aufgewecktheit, dass man wünschte, der Song aus „Broadway for Peace“ würde längern dauern.

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Christopher Evans und Emilie Mazon als Komponist mit Frau – ein Paar und doch nicht nur glücklich. So zu sehen in den „Bernstein Dances“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Aber der Stream of consciousness, der Bewusstseinsstrom eines Künstlers, ist nicht aufzuhalten. Bernstein entwickelt sich weiter, neue Dinge faszinieren ihn und regen ihn an – und auf einmal ist sie da, die Akzeptanz, die lang herbei gesehnte, die so unberechenbar auf sich warten ließ.

„Der Erfolg – eine Erfolgsstory“ heißt dieses Kapitel, und die Solisten und das Corps feiern mit hochfliegenden, artistischen Bewegungen den Sieg über ein System, das beinahe eines der Vernichtung gewesen wäre.

Something’s coming“ aus der „West Side Story“ ist hier genau der richtige Ton, um Christopher Evans in pure getanzte Freude zu verwandeln.

Wowowow – er sprüht nur so vor Energie, und jetzt, das ahnt Evan-Bernstein, wird sich endlich alle Mühe lohnen. Was für ein Glücksgefühl, diese Erwartung, diese Hoffnung, diese Begeisterung für das, was erst noch kommen wird!

Mit edelmütigen Sprüngen, Drehsprüngen und Grand jetés en manège beglückt Christopher, der übrigens der leibliche Sohn eines Sioux-Indianers ist, sein Publikum. Evans hatte diese Verbindung zwischen Himmel und Erde, die Tänzer haben und pflegen sollten, schon immer stark in sich, und jetzt findet dieses Gefühl das richtige Ventil.

Aber auch seine Mittänzer sind wie elektrisiert, und diese sphärische Aura überträgt sich aufs Publikum.

Selten geht man so beschwingt und frohlockend in eine Theaterpause.

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Emilie Mazon und Christopher Evans noch einmal als Bernstein mit Frau: Ideen und Größe, aber auch Eifersucht und Schmerz der Liebe werden illustriert. Foto: Kiran West

Wenn man da nicht gerade (wie ich) Steffi Graf – die eine sehr angenehme, warmherzige Erscheinung ist – beim Plaudern mit Freundinnen zuschaut, sollte man sich einen tiefen Blick in das Programmheft gönnen.

Es wird Zeit, auch etwas zu den aufregenden Kostümen zu sagen. John Neumeier, der selbst ein begnadeter Kostümdesigner ist, gewann für diese Produktion nämlich den italienischen Modeschöpfer Giorgio Armani.

Da betören die jungen Ladies mal in einem bauchfreien violetten Anzug, bestehend aus Jackett, Bikini-Top und langer Hose, und mal tragen die Herren elegante dunkelgraue Suits oder formidable cremefarbene Bermudas zu weißen Shirts. Letzteres, irgendwie an ein Beach-Outfit erinnernd, steht übrigens auch den Mädchen gut.

Auch olivfarbene oder rubinrote Kostüme betonen den Tanz – und die Solisten haben zusätzliche Hingucker an den schönen Leibern.

Lachsfarbene Kleidchen (Emilie Mazon), hochelegante dunkle Roben (Hélène Bouchet), schimmernde Partykleider (Madoka Sugai) lassen den Abend zu einem Fest auch für Modefanatiker werden. Interessant ist, dass nichts davon altbacken oder überholt wirkt.

Neumeier hat Armani, den er sicher beraten musste, weil Armani nicht wissen konnte, welche Bein- und Armfreiheiten Tänzer benötigen, auf ein Niveau gehievt, das von der alljährlich wechselnden Fashionskala weit weg geht und zu allgemein gültiger Klassik mit einem gehörigen Schuss Sexiness kommt.

Interessant ist auch zu sehen, wie sich diese Kostüme mit dem Spitzenschuh-Look ergänzen. Da wirkt nichts fremdartig oder zwangsweise zusammengestöpselt, sondern es ist, als sei es eben ganz normal, dass die Frauen Ballettschuhe tragen. So soll es sein auf der Bühne!

Und so ist es auch im zweiten Teil, der mit dem Kapitel „Im Zeitraffer“ beginnt. Denn auf der Höhe der Lebenslust vergeht die Zeit so schnell, als fliege sie nur so dahin.

28 TänzerInnen stehen hier jetzt bereit, um zur Ouvertüre zu „Candide“, also zu jener Musik, die wir ohne Tanz als Vorspiel hörten, weitere Erfahrungen zu illustrieren und zu reflektieren.

Da bindet ein Kuss Evans-Bernstein an Emilie Mazon, aber auch Hélène Bouchet verlockt zu mehr als nur Blicken.

Männer und Frauen, Frauen und Männer – „Revue passieren lassen“ heißt ein weiteres Kapitel, und alles, was Bernstein widerfährt, scheint ihm Sinnstiftung für weiteres Handeln und auch für die Kreation von Musiken zu werden.

Die Vergangenheit gewinnt dabei unweigerlich auch an Raum, denn Rückblicke und neue Ausblicke mischen sich.

Letztlich hatte Bernstein die Welt in einem Siegeszug für sich gewonnen, und jetzt gehörte sie ihm!

Neumeiers Tänzer bilden für dieses Gefühl einen Kreis um Evans, sie heben ihn hoch, verehren ihn, machen ihn zu ihrer Mitte.

Noch einmal gibt es atemberaubende, akrobatische, dennoch ausdrucksvolle Tänze, noch einmal rockt und rebelliert das „wild life“.

Doch dann kippt die Stimmung. Es gibt ein Fest, aber ob es eines im Himmel oder in der Hölle ist, wird sich erst noch herausstellen.

Die Liebe, die zunächst unterm Tisch liegt, als würde sie schlummern, wenn sich ein ehrbares Paar auf seiner Party selbst darstellt, erwacht und lässt ihre seltsamen, unkontrollierbaren Kräfte wirken.

Pärchen finden oder streiten sich. Eine Ohrfeige! Der Geohrfeigte weiß wofür – Eifersucht ist ein großes Problem.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Leonard Bernstein und John Neumeier, wie man sie im Programmheft zu „Bernstein Dances“ sieht. Zwei Weltkünstler in herzlichem Beisammensein. Foto: Holger Badekow / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es sind aber auch wunderhübsche Mädchen, die auf dieser jazzig-düsteren Party charmieren. Man trägt, was man hat, zur Schau – und auch, wenn fünf Paare synchron tanzen, so hat dieses etwas Orgiastisches.

Ein geisthafter großer Sprung von Alexandr Trusch – schön wie eine weißfedrige Wolke vor dem Azur – bezeugt nochmals die Macht der Liebe. Später hüpft Mister Love leichtfüßig auf den langen Tisch, unter dem er zuvor schlief und zelebriert darauf wie auf einem Altar ein Ritual: Er schreitet wie in Zeitlupe, auf den nackten Fußballen stehend.

Dieser kosmischen Erscheinung stehen die ganz irdischen Paare gegenüber. Ist es immer Liebe, die sie verbindet? Oder nicht auch Gewohnheit? Oder ein sozialer Vertrag, was die Ehe in etwa bedeutet? Wäre Freundschaft nicht manchmal mehr wert?

„Am Abend… und durch die Nacht“ heißt dieses letzte Kapitel, und es ist, als würden die alten Wunden auch dann immer wieder aufbrechen, wenn die ärgsten Krisen überwunden sind.

Die "Bernstein Dances" von John Neumeier sind ein Volltreffer

Christopher Evans als Leonard Bernstein – nicht als Handlungsfigur, aber als Imago. Diese Geste der rechten Hand – anbietend und offen – läutet das Ende vom Stück ein. Foto: Kiran West

Bernstein hatte sein Gefüge ja gefunden, und er war sehr produktiv, als weltweit begehrter Dirigent ebenso wie als Komponist. Ein Workaholic mit jeder Menge Lust am Arbeiten und Liebemachen. Er konnte als Person auch viel geben, das sehen wir hier: Die kleinen und großen Dramen, die sich zwischen Menschen abspielen, gehen längst nicht alle von ihm aus. Aber wenn er aktiv wird, macht er seine Partnerinnen und Partner happy.

Und doch ist die Atmosphäre manchmal gespenstisch. Innere Zerrissenheit war diesem Mann sicher nicht fremd. Nur die Grandiosität des Lebens, vor allem der Musik, auch der Kunst holte ihn immer wieder zurück in die Gefilde der Seligen. Ach, und es passte so zu ihm, dass er Raucher war und mit dem Qualm neue ideelle Konzepte für weitere Werke ausstieß.

In einem solistischen Akt vor dunkler Bühne streckt er den rechten Arme weit vor, die Handfläche großzügig nach oben gekehrt. Das Leben, es wird weitergehen, immer weitergehen – und als wolle John Neumeier dafür gleich den Beweis antreten, beginnt jetzt das Finale wie ein Spektakel für sich, mit mordsfidelen Tänzern, die so fit sind, als hätten sie gerade eben keine kräftezehrende Supershow abgeleistet.

Was für eine hübsche Referenz an das amerikanische Showbiz!

Jetzt tritt auch das Publikum in Aktion, man klatscht mit, johlt gemeinschaftlich, nacheinander tanzen die verschiedenen Gruppen zur Rampe zum Verbeugen vor, oh yeah, und die Stimmung kocht hoch, wie es nur möglich ist.

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Christopher Evans und das Ensemble im Finale von „Bernstein Dances“: Gibt es mitreißenderen Tanz? Foto: Kiran West

Es scheint kein Ende des turbulenten Lebens zu geben, Orchester und Ballett trumpfen auf – und als endlich der letzte Tusch ertönt, da ist man sich ganz sicher: Das ist jetzt nur eine Stille auf Zeit, hier wird noch so manche heiße Vorstellung die Zuschauer begeistern und mit nachgerade paradiesischer Glückseligkeit erfüllen.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

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