Keine Selbstverständlichkeit Auf „Augenhöhe“ tanzen eine behinderte und eine nicht behinderte Tänzerin miteinander im Klassenzimmer - ein Projekt in Mecklenburg-Vorpommern

"Augenhöhe" verbindet Inklusion und Kunst

Dajana Voss (links) und Magali Saby (rechts) tanzen die „Augenhöhe“ von Stefan Hahn – vor Ort, im Klassenzimmer. Foto: Vincent Leifer

Tanz im Rollstuhl – das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern möglich. Die Künstlerin Magali Saby aus Paris macht’s vor: Sie ist sowohl examinierte Theaterwissenschaftlerin als auch Tänzerin, Model und Schauspielerin. Ihr Körper ist schön und muskulös, ihre Bewegungen sind geschmeidig, ihre Mimik ist ausdrucksstark. Wenn sie sich festhält, kann sie stehen, aber sie braucht den Rollstuhl als tägliches Transportmittel. Auch ihre Kunst findet mit dem Rolli statt, neuerdings nicht nur im Film oder auf einer Bühne, sondern in Klassenzimmern in Vorpommern. „Augenhöhe“ heißt das Stück, das der Choreograf Stefan Hahn mit Magali und der nichtbehinderten Tänzerin und Tanzpädagogin Dajana Voss speziell für Schulkinder ab zehn Jahre schuf. Der Titel bezeichnet zugleich das Thema: Es geht um den demokratischen Umgang mit Behinderungen, um das Miteinander von verschiedensten Menschen, ohne störende Hierarchie.

In einer Gesellschaft, in der sich oft noch nicht mal Mann und Frau ohne Scheuklappen gegenüber stehen, ist das ein Meilenstein der soziokulturellen Kommunikation. Dabei achtete Hahn von Beginn an darauf, die Bedürfnisse des Publikums zu berücksichtigen. „Dass die Kids auf Matten auf dem Boden sitzen und nicht auf Stühlen, wenn Magali und Dajana tanzen, entwickelte sich aus den Workshops mit den Schülern“, sagt er. Denn ein großer Teil der tänzerischen Interaktion spielt sich am Boden ab. Und da wollten die jungen Zuschauer nicht von oben herab zuschauen, auch wörtlich nicht. Keine Selbstverständlichkeit!

Drei jeweils einstündige Einheiten hat diese theaterpädagogische Maßnahme, zu der die Anfangsidee vom Theater Vorpommern kam. Es gibt einen vorbereitenden Workshop mit den Kindern, im Anschluss erfolgt die Vorführung als Kunstakt im Klassenzimmer,  dann gibt es noch ein nachbereitendes Gespräch. „Da kommt guter Input“, bestätigen die Kids wie auch die Erwachsenen. Inklusion als Thema, Tanz hautnah: Dieses Konzept geht auf.

Das Geld für das Projekt kommt aus verschiedenen Töpfen. „Vorpommern tanzt an“ – unter diesem Motto schuf der Stralsunder Verein Perform(d)ance einen Rahmen für die Realisierung ungewöhnlicher Tanzevents. Stadt, Land und Bund geben dann die Zuschüsse. Seit Februar hat sich die „Augenhöhe“ bei nordostdeutschen Kindern schon einen hervorragenden Namen ertanzt. Hahn: „Etwaigen Vorbehalten, das sei für Kinder der mittleren Klassen zu anspruchsvoll, können wir entgegnen, dass es sehr gute Reaktionen der Kids gibt“.

Neugierige Fragen werden gestellt, die zeigen, dass die jungen Menschen durch die tänzerische Darbietung sensibilisiert werden. Keine Denunziationen, keine Klischees, keine Stereotypen: Ein natürlicher, vorurteilsfreier Umgang miteinander wird so trainiert.

"Augenhöhe" verbindet Inklusion und Kunst

„Augenhöhe“ heißt das Stück, aber fürs Foto darf auch mal von oben draufgesehen werden: Magali Saby (rechts) und Dajana Voss in Aktion. Foto: Vincent Leifer

Die Tanzshow beinhaltet unerwartete Elemente wie den schon erwähnten Bodentanz, aber auch den Bezug zu einer Schulbank, außerdem zu Marionetten: Magali Saby mutiert dann zu einem Objekt, zeigt, wie sie aus dieser Perspektive ihren Alltag erlebt. In anderen Passagen ist sie die Stärkere, trägt und stützt Dajana. Später spielt der Rollstuhl mit. Es gibt einen inszenierten Wettlauf der Tänzerinnen: Rollstuhlfahrerin gegen Fußgängerin. Das Ende überrascht: Der Rolli gewinnt, überrollt sogar die Fußgängerin. Diese könnte dadurch künftig auch auf einen Rollstuhl angewiesen sein.

Der Unfall im Tanzstück bewirkt erschrockene Reaktionen im Klassenzimmer. Das dramatische Element verrät theatrales Handwerk: Stefan Hahn studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und hat schon oft mit Jugendlichen gearbeitet, leitet sogar eine eigene Jugendcompany. Ihn inspirierte nicht nur die Aufgabenstellung der „Augenhöhe“, sondern auch die Verschiedenheit der beiden Protagonistinnen.

Magali Saby ist als in Frankreich ausgebildete Tänzerin sinnlich und expressiv, wirkt betont emotional. Dajana hingegen, die in München ausgebildet wurde und berufsbegleitend an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden studiert, ist geprägt von einer zurückhaltenden, strengen Form. Bei den Proben entwickelte sich ein intensiver Austausch der beiden Frauen, sichtbar in der Choreografie.

"Augenhöhe" verbindet Inklusion und Kunst

Der Rollstuhl gewinnt, überraschenderweise, in „Augenhöhe“ von Stefan Hahn, das Schulkinder ab zehn Jahre in Vorpommer’schen Klassenzimmern erleben. Foto: Vincent Leifer

Obwohl Magali nur französisch spricht, ist sie von den Reaktionen der Schulkinder berührt. Deren Interesse, sagt sie, übermittelt sich, und sie ist glücklich, auf diese Weise ein Stück ihrer Welt mit den Kindern zu teilen. Bis Ende März 2019 ist das Team auf „Augenhöhe“ noch durch die Klassenzimmer unterwegs.
Gisela Sonnenburg

www.performdance.de

 

 

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