Hoffnung auf neue Musik Musik aus Estland: Liisa Hirsch, Komponistin und seit heute Trägerin des Europäischen Komponistenpreises, setzte einen musikalischen Meilenstein beim Festival Young Euro Classic in Berlin. Der Schauspieler Dietmar Bär ist Pate

Musik ist nicht gleich Musik.

Dunkelheit und Helligheit – Musik kann beides, nicht nur das Licht. So zu erleben im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin, beim hochkarätigen Jugendmusikfestival Young Euro Classic. Foto: Gisela Sonnenburg

Für seine Vorstellungsrede hat sich der zwischen deutscher Gemütlichkeit und kommissarischem „Tatort“-Hochalarm pendelnde Dietmar Bär was Besonderes ausgedacht: Er kommt in den Zuschauersaal im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin – und wundert sich demonstrativ: „Wo bin ich denn hier gelandet?“ Sein Vorredner, ein Musiker, sprach nur estnisch ins Mikrofon. Er hatte Bär als Paten dieses Konzerts im Rahmen des Festivals Young Euro Classic am 31. August 2016 – mit dem Orchester der Estnischen Akademie für Musik und Theater – angekündigt. Lustig klingt diese osteuropäische Sprache, die von den nur 1,3 Millionen Esten gepflegt wird: zwar nicht so gehoppelt wie Finnisch, aber ähnlich in der Melodie. Man staunt denn auch, bleibt aber ruhig. Dietmar Bär hat damit gerechnet und fragt putzmunter ins Publikum: „Sind Sie etwa alle Esten?“ Esten würden ja ständig im Chor singen, so habe er gehört, und man habe in Estland „die singende Revolution“ ausgerufen, als sich das Land von der Sowjetunion trennte. Und die Zuschauer in Berlin? „Kein Liedgut? Wozu sind Sie denn dann gut?“ Nicht jeder versteht das Wortspiel, aber es ist feinsinnig.

Dann kommt’s deutlicher satirisch: „Ein Freddy Schenk lässt sich so nicht anschweigen.“ Bär macht keinen Hehl daraus, dass ihn viele bis zur Totalverwechslung mit seiner Rolle als „Tatort“-Held Freddy Schenk identifizieren. Und er macht einen tragenden Scherz aus dem Schenk: „Ich kann Sie alle auch verhaften lassen!“ Bis zur imaginierten Szene, er lasse das Gebäude mit Hilfe der Verteidigungsministerin umstellen, damit man ihm nicht entkommen könne, reicht der kabarettistische Auftritt.

Musik ist nicht gleich Musik.

Dietmar Bär ist bestens bekannt als TV-Star, so als „Tatort“-Kommissar Freddy Schenk. Er hat aber auch ganz, ganz andere Seiten… Foto: Gisela Sonnenburg

Schließlich hat ein Star des Krimis stets zu ermitteln. Das Publikum verlangt’s. Wir haben ihn dabei nicht zu behindern! Gesucht werden nämlich drei Personen, darunter eine gewisse Liisa Hirsch, „Liisa mit zwei ‚i’ und Hirsch wie Geweih!“

Sie sei verdächtig und außerdem Komponistin, habe also vermutlich kein geregeltes Einkommen. Sie wird am Tag nach Bärs Rede zwar den Europäischen Komponistenpreis 2016 erhalten, der vom Regierenden Bürgermeister Berlins ausgeschrieben ist und immerhin mit 5 000 Euro dotiert ist. Aber dieser Segen ist am Vorabend ja noch nicht klar. Darum gilt vor der Uraufführung von Hirschs jüngstem Werk nach der Rede Bärs: Wir sollen, wenn die Gesuchte auftaucht, schon mal viel jubeln und klatschen, als Erkennungszeichen sozusagen, dann wisse Bär Bescheid und könne mit dem Zugriff eingreifen.

Ja, ach, und noch etwas: Wenn wir Dietmar Bär treffen, dann sollen wir ihn nur ja nicht mal eben so mit „Freddy Schenk“ anreden, da sei er sehr empfindlich…

Die kleine Rede, ob von Freddy Schenk oder von Dietmar Bär gehalten, ist natürlich ein Erfolg, ein Geschenk aus der komödiantischen Abteilung hochkarätigen Schauspiels. Aber damit rechnet man bei einem Konzert mit moderner klassischer Musik eigentlich am wenigsten. Überraschung gelungen!

Überraschend ist Dietmar Bär auch im Interview. Ehrlich, authentisch, glaubwürdig, spontan – solche Tugenden zeichnen ihn nicht nur in seinen Rollen aus.

Musik ist nicht gleich Musik.

Noch einmal bitte Blinzeln, Herr Kommissar! Und dann raus auf die Bühne, was für einen Vollblutschauspieler wie Dietmar Bär immer eine Freude ist. Foto: Gisela Sonnenburg

Zu denen gehört neben Freddy Schenk aus dem „Tatort“ derzeit auch eine große Theaterpartie: der Dorfrichter Adam aus Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“. Im September wird die Wiederaufnahme in Bochum sein – fast ein Geheimtipp und eine Reise in den Ruhrpott ist das wert, wenn man nicht vor Ort beheimatet ist.

Pate ist Bär schon zum zweiten Mal bei Young Euro Classic. Aber welchen Bezug hat er zur Musik?

Nach einigen Minuten Gespräch kommt eine Seite seiner frühen Jugend zum Vorschein: Er war mal Punk-Schlagzeuger. Wow. Ja, sagt er. Und dass er es schade findet, dass er kein weiteres Instrument vorweisen kann. Denn: „Wer ein Musikinstrument beherrscht, hat eine weitere Sprache, um sich auszudrücken.“ Für ihn, den Vollblutschauspieler, war Musik allerdings von Beginn seiner Karriere an präsent.

Als Statist am Dortmunder Stadttheater packte ihn die Lust am Live-Erlebnis: Er spielte in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“, in der Inszenierung von Paul Hager – und aus dem Orchestergraben erschallte die Musik gleichen Namens von Felix Mendelssohn Bartholdy. „Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, so mit 17 oder 18 Jahren.“ Seither geht Dietmar „Freddy“ Bär – heute auch gern mit Gattin – gern in klassische Konzerte.

Ohne sich dabei anzumaßen, ein Kenner zu sein. Aber er ist doch mit genügend Kenntnissen bestückt, um in seiner Kabarett-Rede im Konzerthaus auch den „Gefangenenchor“ aus „Nabucco“ zu zitieren. Den könnte nämlich das Publikum singen, so sein witziger Einfall, wenn er es von militärischen Kräften umzingeln und festhalten ließe. Ha! Die Träume von Omnipotenz, mit denen jeder Krimi latent seine Rezipienten spielen lässt, nimmt Bär so gleich mit aufs Korn.

Das Publikum von Young Euro Classic ist aber auch wie gemacht für solche Spitzen. Bär hat einfach Recht, wenn er betont, wie schön es ist, wenn die Zuschauer junge Künstler so herzlich aufnehmen wie hier. Auch er selbst brenne jedes Jahr darauf, als hörender Gast bei diesen Jugendmusikfestspielen der gehobenen Art dabei zu sein.

Musik ist nicht gleich Musik.

Ah, da lacht der Bär! Und das Publikum auch, wenn er seine komödiantisch-kabarettistische Seite zeigt… Foto: Gisela Sonnenburg

Dass er dieses Jahr ausgerechnet moderne estnische Musik als Pate „erwischt“ hat, war nicht beabsichtigt. Aber ein glücklicher Zufall – denn die Musik aus Estland ist insgesamt absolut eine Entdeckung.

Liisa Hirsch nimmt da noch eine starke Sonderstellung ein – dazu weiter unten mehr.

Von Arvo Pärt, dem bekannten großen Pärt, ist an diesem Abend ein eher seltenes Stück zu hören: „Lamentate“, entstanden 2002, mutet an wie eine fast experimentelle Collage, sie berückt mit einzelnen, in sich geschlossen wirkenden Passagen, und die Pianistin Marrit Gerretz-Traksmann lotet die hier oft „tröpfelnden“ Klänge ihres Flügels wunderschön aus. Das Orchester der Estnischen Akademie für Musik und Theater aus Tallinn weiß dazu sehr bestimmt und doch zugleich behutsam musikalisch aufzutreten, die Streicher mit walzerartigem Aufstreben, die Bläser mit fast lieblicher Zartheit – es ist ein Ohrenschmaus, wenn sich hier akustisch mal ein großes Drama abspielt, dann aber eine Versöhnung zwischen den einzelnen Orchestergruppen sich ihren Weg bahnt.

Man mag an Fjorde denken, an Wellenbewegungen, an Spiele im Wind.

Manches hat Mahler’sche Resolutheit, anderes die Einfachheit von Marschrhythmen.

Der tragisch gefärbte Akkord gen Ende wird dennoch karikiert von sanften Einzelklängen des Klaviers – ein Ton kehrt dabei immer wieder, immer wieder, immer wieder…

An Musiken von Ravel, Strawinsky und Prokofieff, auch von Korngold erinnert hingegen „Die Legendäre“, die Symphonie Nr. 2 h-Moll von Eduard Tubin. Er ist (noch) nicht sehr bekannt hierzulande, aber durchaus ein interessanter Musiker.

Musik ist nicht gleich Musik.

Paul Mägi, der harmonisierende Dirigent des Abends, im Konzerthaus in Berlin, nach dem Auftritt mit dem Orchester der Estnischen Akademie für Musik und Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Paul Mägi, der entschieden harmonisierende Dirigent des Abends, weiß auch diesem Stück viel Einzigartiges abzugewinnen, wiewohl die Qualität der Komposition durchaus ins Reich der Gebrauchs- und Filmmusik hineinspielt. Aber auch das ist ein genaues Hinhören wert, denn oberflächlich ist die Arbeit von Tubin ganz sicher nicht. Wie ein Sturm auf hoher See peitscht der Rhythmus hier über die Melodie hinweg, bis sanfte, beruhigende Klänge die Segel neu zu hissen scheinen.

Der Minimalismus, aber auch Expressionismus und Impressionismus prägen die neue Musik Estlands. Dabei wurde die ernste Musik während der Zeit, als das Land zur Sowjetunion gehörte, stark gefördert – und junge Leute mit Talent wurden entsprechend gut ausgebildet.

Entsprechend spielt das Orchester der Estnischen Akademie für Musik und Theater wirklich sehr gut, und zwar alle drei, doch in Temperament und Stil deutlich unterschiedliche Stücke. Das ist umso bemerkenswerter, als die Stücke keine typischen Jugendstücke sind, sondern eigentlich eine gewisse Künstlerreife erfordern. Diese jungen Talente hier im Orchester haben sie!

Die Uraufführung des Abends, die übrigens gleich zu Beginn des Programms stattfand, legt ebenfalls und vor allem davon Zeugnis ab, wie gut es ist, eine Frühbegabung zu erkennen und vielseitig auszubilden, und zwar unter Berücksichtigung des nötigen kreativen Spielraums.

Man erinnere sich an die Eingangsrede von Dietmar Bär. Er ließ ja, spielerisch, nach einer gewissen Liisa Hirsch suchen. Komponistin. Vermutlich kein geregeltes Einkommen. Schon von daher verdächtig.

LIISA HIRSCH IN KLANG UND PERSON

Dann die Musik von Liisa Hirsch.

Oh! Oh! Oh, oh! Was für ein poetisches, aber auch kraftvolles Gezirpe! Was für ein Sog steckt in Klängen, die puristisch und dennoch rund und niemals flach einherkommen! Was für eine Verbindung gehen Emotion und Erhabenheit miteinander ein, wenn sie sozusagen nackt sind… ohne aufgesetztes Pathos, ohne verschnörkelte Lyrik, ohne deftige Schlagzeugzulage… ohne Effekte, ohne Verzierungen, sondern hart und weich zugleich wie sonst nur die Wahrheit. Und nichts als die Wahrheit.

Im Rückblick wirken Pärt und Tubin nicht nur etwas populistisch gegen diese neue und junge Art von Musik, sondern auch – jawohl – fast patriarchal in ihrer draufgängerischen Art, die hellen und hohen Klänge vor allem als liebliche und dunkle Klangfelder fast nur als dramatisch-treibende Aspekte zu nutzen.

Musik ist nicht gleich Musik.

Tanz im Interieur: In der Pause im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin an der Wand zu entdecken… Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei kann es doch auch genau umgekehrt sein!

Da musste halt erst eine Frau, also ihr weiblicher Verstand und ihre weibliche Intuition, kommen, um der Kompositionsgeschichte die doppelten Möglichkeiten zu verleihen, um mit Tonhöhen umzugehen und zu spielen wie der Wind mit den verschiedenen Segelschiffen. Zugleich ist es wie ein Spielen im Wind – so arglos, so hingebungsvoll und dennoch ohne Angst vor der Flüchtigkeit. Gerade das schafft neue Werte.

Um dem Konzertsaalpublikum zudem noch eine Art Reinheit und auch eine innere Notwendigkeit zu schenken, die sich in Klarheit und Einfachheit eben noch lang nicht erschöpft, obwohl diese Stilmittel scheinbar ausgiebig genutzt werden, ist diese Musik wie in sich zusammen gezurrt. Als habe man eine Bilddatei zigmal komprimiert.

Aber dahinter stecken keine Zufälle, sondern fein kalkulierte Cluster, Klangmuster und –linien, die sich en detail ergänzen und aufeinander reagieren. Obwohl die Inspiration spürbar in jeder Note manifestiert ist. Was für eine Musik!

Liisa Hirschs Musik ist wie gemacht für Meditation oder Kontemplation, für Tanz oder Malerei… vielleicht auch für Film – und auf jeden Fall für das häufige genussvolle Mehrfachanhören.

Musik ist nicht gleich Musik.

Liisa Hirsch, Hoffnungsträgerin der neuen europäischen Musik, erhielt für ihre jüngste Uraufführung den entsprechenden Preis: den Europäischen Komponistenpreis 2016. Aber hallo! Viele Glückwünsche! Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ein Glück für alle, dass Hirsch für ihr jüngstes Stück heute der Europäische Komponistenpreis 2016 zugesprochen wurde!

Herzlichen Glückwunsch! Wohl verdient! Und wie!

MECHANICS OF FLYING

Das Stück, „Mechanics of Flying“, Mechaniken des Fliegens, beginnt mit einem Summen der Violinen, das anschwillt und bald wie jener stille Lärm anmutet, der von einem Schwarm Insekten im hohen Sommer herrührt.

Aber da mischen sich Tonstränge hinein, die so schrill und kühl sind, dass sie die Atmosphären von Sci-Fi-Filmen beschwören. Sind da Drohnen unterwegs?

Schwebende Sphären entstehen. Ein Geräusch wie von gleich zerspringendem Glas. Starke Schwingungen versetzen alles in eine Art Hypnose… die hohen, noch höheren Klänge entführen akustisch in Gefilde, die einem zugleich bekannt und doch unheimlich neu erscheinen.

Erst nach einigen Minuten entfaltet sich vor dieser Klangfolie eine zweite Tonlage, eine tiefere, in der Mittelllage. Es ist, als schieße etwas quer und atonal in den Schwarm der Insekten oder Nicht-Insekten hinein… um darin zu verharren, dort mitzumischen, ihn aufzumischen.

Was für eine Revolution!

Es sind Celli, die den Violinenschwarm akustisch zu sprengen versuchen.

Musik ist nicht gleich Musik.

Auch er muss sein: Der Kontrabass, im Stück „Mechanics of Flying“ von Liisa Hirsch. Yeah! Foto: Gisela Sonnenburg

Und sie vereinen sich! Die zarten hohen Soprangeigen und die dunkel gefärbten Celli gehen eine Verbindung ein, spielen unisono, halten lang, ganz lang die gemeinsam angestrichenen Töne.

Und nur ganz langsam wird das Ganze lauter und lauter…

Jetzt geht es in absteigenden Intervallen weiter. Die zweite Hälfte des akustischen Geschehens hat begonnen. Es ist die Poetik des Zerfalls, die zugleich wie ein Nährboden für neue Tonkombinationen wirkt.

Sie ist meditativ, warm, fast warmherzig, empathisch…

Da ist indes auch ein dunkles Brummen von den Kontrabässen dabei…

Aber alles wird angetrieben von einem unhörbaren schnellen inneren Rhythmus, der alles zusammen hält. Er ist fühlbar.

Was für eine Kunst, Klänge so miteinander zu verweben!

Johann Sebastian Bach hätte sich gefreut, im 21. Jahrhundert auf diese Art entwickelt worden zu sein.

Musik ist nicht gleich Musik.

Und da ist noch ein Kontrabassist, nach dem Konzert, dessen Höhepunkt die Uraufführung von Liisa Hirschs „Mechanics of Flying“ war. Foto: Gisela Sonnenburg

Vor dem inneren Auge entstehen Landschaftspanoramen, Naturaufnahmen, Ansichten, die sich um 360 Grad drehen, ganz sachte, aber zielstrebig.

Meere, Krater, Berge. Sandhügel. Ewige Weiten am Horizont. Unendliche Höhen. Schreckliche Tiefen. Der Wind, dieses himmlische Kind, spielt mit allem.

Da sind Laubblätter, die den ganzen Kosmos in sich tragen. Wie Mikrozellen. Urzellen der Kraft.

Musik ist nicht gleich Musik.

Atmosphärisch: Neue Musik aus Estland, präsentiert im Rahmen von Young Euro Classic in Berlin 2016. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie werden leiser, die Klänge des Urbaren.

Sie verlöschen ganz sachte, ein Ton ist da am Ende übrig, stark wie die Zeit, die nie ganz vergeht und doch ständig im Wandel begriffen ist.

Er ist wie ein tiefer, tiefer Atemzug. Tiere und Sterbende können so atmen. Fast ist es ein Seufzen.

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Musik ist nicht gleich Musik.

Eine Preisträgerin, die Hoffnung macht – und große Freude mit ihrer Musik: Liisa Hirsch aus Tallinn im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Liisa Hirschs somit uraufgeführte Komposition „Mechanics of Flying“ ist meiner Einschätzung nach ein Meilenstein in der jüngeren Musikgeschichte. Da ist viel Gnade in ihrer Musik.

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Sie hat einen Sog und eine Schubkraft, die sich mit Arvo Pärt und auch nicht-estnischen Komponisten, etwa Jean Sibelius oder Eric Satie, durchaus messen kann. Vielleicht wird sie einen so hohen Rang wie Claude Debussy bekleiden können. Auch Steve Reich findet hier eine reduzierte, aber bedeutsame Fortführung seiner Klangtraditionen – es ist, als sei das Material der minimalistischen Musik neu erfunden worden. Bravo! Bravo! Bravo!

Und so schön schwelgerische Phrasen bei anderen Komponisten auch wirken – das hier ist etwas ganz Neues. Dass Hirschs Stück sich dabei thematisch der scheinbaren Technik widmet, aber doch seinen Ursprung im Leben und in der Natur hat, ehrt sie umso mehr.

Musik ist nicht gleich Musik.

Und bitte alle den Atem anhalten: So eine intensive Musik gibt es nicht alle Tage… Foto: Gisela Sonnenburg

Liisa Hirsch ist streng mit sich, man spürt es bei jeder Note, dass diese oftmals auf ihre Richtigkeit und Authentizität hin überprüft wurde. Hier stehen keine Fetzen bewährter Erfolgsstrategien der Musikgeschichte nebeneinander, und hier wird auch kein Komponist aus Langeweile zu Tode zitiert. Hier erhebt sich eine ganz einzigartige, neue Tonlage einer jungen Frau.

Was für eine Offenbarung! Tod und Leben so nah beieinander zu hören, in nur fünfzehn Minuten kompakter Klangkunst, und keine Häppchenkunst ist das, sondern komprimierte, intensivierte Musik.

GEBURT DES INTENSIVISMUS

Ich schlage den Begriff INTENSIVISMUS vor, um diese Musikrichtung, die Liisa Hirsch (unwissentlich vielleicht) begründet hat, zu benennen.

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Ob Hoffnung in dieser Musik steckt und wenn ja, worauf, das kann ich nur abstrakt beantworten: Ja, da ist Hoffnung. Hoffnung auf alles, was zu hoffen ist. Aber es ist ein Hoffen ohne Versprechen. Ohne Wahrscheinlichkeitsgarantie. Ohne feste Zusage. Es ist Hoffnung pur, unkorrumpierbar. Eine Hoffnung, die nicht zu verwirbeln ist, die unvergesslich und unabhängig von äußeren Einflüssen ist.

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Musik ist nicht gleich Musik.

Ohne Piano geht es nicht: Die Musik lebt oftmals von der Vielfalt dieses Instruments, und Liisa Hirsch, die beinahe Pianistin geworden wäre, komponiert am Klavier, auch und besonders meditativ für Streicher. Foti: Gisela Sonnenburg

Und sie nimmt sich neben den großen Komponisten der letzten fünfzig Jahre aus wie ein Pralinenstück neben Puddingschüsseln. Kein Pudding hat die Süße, die Herbheit und die Vollkommenheit einer solchen Praline!

Danke, Liisa Hirsch!

Als sie auf die Bühne tritt, um den Applaus entgegen zu nehmen, ist sie beinahe unprofessionell darin, weil sie so unerfahren, so jung ist. Sie freut sich einfach nur. Ganz einfach. Kein Stückchen Diva scheint in ihr zu stecken, und doch spricht ihre Musik von großer Persönlichkeit.

In einer weißen, schlichten, flatternden Bluse und einer schwarzen Hose – die gut zu ihrem lackschwarzen Haar passt – wirkt sie so wenig überkandidelt, dass man sie für eine Büroangestellte halten könnte, nicht für eine Künstlerin. Aber nach solchen Äußerlichkeiten zu gehen, wäre dumm. Sehr dumm sogar.

Ihr Herz spiegelt sich ja in ihren Gesichtszügen, weich, sehr empfindam ist sie wohl, aber auch unerbittlich im Hinblick auf die Stimmigkeit ihrer musikalischen Manöver.

Musik ist nicht gleich Musik.

Applaus für verdiente Musiker – nach dem Konzert mit der Uraufführung von „Mechanics of Flying“ von Liisa Hirsch… Foto: Gisela Sonnenburg

Um sie als Person noch stärker fasslich zu machen, folgt hier ein Arbeitsportrait dieser hoch talentierten, fleißigen jungen Frau, an die sich hoffentlich nicht nur meine Hoffnungen auf eine neue europäische Musik knüpfen.

HOFFNUNGSTRÄGERIN AUF EINE NEUE EUROPÄISCHE MUSIK

Wenn die Komponistin Liisa Hirsch spricht, hat sie eine besondere Ruhe in der Stimme. Und ihre Musik scheint so tief wie ein stilles Meer vor dem Sturm zu sein. Doch unter der Oberfläche zittert es darin wie Espenlaub. Bis Klangkaskaden entstehen. Hirsch, 32, ist eine ungewöhnliche klassische Musikerin. Sie wurde in Tallinn, ihrer Heimatstadt in Estland, und auf dem Konservatorium in Den Haag in Holland ausgebildet. Auf dem Festival Young Euro Classic in Berlin präsentiert sie nun, im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, ihr jüngstes Werk.

„Mechanics of Flying“, „Mechaniken des Fliegens“, heißt es ja, und es basiert, in den Worten seiner Schöpferin, auf einer einzigen musikalischen Form. Purismus ist ohnehin die Spezialität der Künstlerin. Mit Mikro-Intervallen zaubert sie zirpende Melodien, die eigentlich keine sind. Das Wort „Melodiebögen“ passt besser, auch „Geräusch-Cluster“ oder „Akkord-Brocken“ kann man die Klänge nennen.

Musik ist nicht gleich Musik.

Instrumente in der Pause: Warten auf die neue Herausforderung… Foto: Gisela Sonnenburg

„Es ist wie eine Reise, wenn man so ein Stück komponiert“, erzählt die Komponistin. Der Zusammenhang von Musik, die unsere Seele berührt, und Naturerlebnissen sei für sie wichtig. Entsprechend schätzt Liisa Hirsch das Leben auf dem Land, sie lebt und arbeitet mit Fensterblick auf Apfelbäume, in denen das Licht spielt.

Estland ist das nördlichste Land des Baltikums. Als es zur Sowjetunion gehörte, gab es dort eine starke Förderung von Talenten der schönen Künste. Als Kind wurde Liisa von ihrer Mutter in der Musikschule angemeldet, die nur wenige Busstationen von ihrem Haus entfernt lag. Hirsch beschreibt sie als „Schule russischen Stils“, in der die Kinder mindestens sechs Stunden täglich übten. Sie lernte dort das Klavierspielen. „Wir lebten in unseren eigenen Welten aus Träumen und Arbeit“, erinnert sie sich: „Von da aus war es ganz natürlich, ein Profi zu werden.“

In der überschaubaren Szene estnischer Profi-Musiker gab es auch Frauen. Vorbilder für Liisa Hirsch. Letztlich, so sagt sie heute, gebe es weibliche und männliche Anteile in jedem Menschen. Toleranz und Gleichstellung seien wichtig. Zum Komponieren war es für sie aber ein besonderer Weg, gerade als Frau: „Dafür musste ich Zeit und Kraft finden!“ Sie entschied sich gegen eine Laufbahn als Pianistin und hatte sie die Wahl zwischen der Theaterschule und dem Kompositionsstudium: „Nach einigen Kämpfen entschied ich mich für Letzteres.“

Musik ist nicht gleich Musik.

Schwanenornamentik im Konzerthaus in Berlin – auf den Schwingen der Kunst fühlt man sich dort außerordentlich beflügelt. Foto: Gisela Sonnenburg

International dominieren aber männliche Tonsetzer das Geschäft. Anregung findet Hirsch unabhängig von solchen harten Tatsachen in den Geheimnissen der Musik: „Ich versuche nicht, mich direkt durch die Musik auszudrücken. Ich versuche, Klangphänomene zu finden, die mich so sehr faszinieren, dass ich tiefer und tiefer gehen kann, um die Struktur und die Essenz dessen zu entdecken.“

So entstehen am Klavier Musiken vor allem für Streichinstrumente. Denn sie locken Liisa Hirsch besonders: „Die Klänge der Streicher haben für mich viele unterschwellige Bedeutungen. Sie sind flexibel, das entspricht mir. Aber ich habe auch Angst vor ihnen, denn ich kann sie ja selbst nicht spielen.“ Jede Komposition ist insofern eine Bezwingung.

Musik ist nicht gleich Musik.

Liisa Hirsch, jung, aber nicht unbedarft, schaffte etwas, wofür viele Künstler – vor allem Männer – sich anstrengen. Sie setzte einen Meilenstein der Musik mit einer Komposition in einem ganz neuen, ihrem ureigenen Stil, den man Intensivismus nennen kann. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch Liisa Hirschs neues, knapp viertelstündiges Werk, das im Berliner Konzerthaus vom Studentenorchester Estland uraufgeführt wurde und ihr den Europäischen Komponistenpreis 2016 eintrug, ist für ein Sinfonieorchester mit Streichern geschrieben. Es geht von einem einzigen Akkord aus, um dann zwei verschiedene Harmoniereihen zu eröffnen. Der Gegensatz von kalten Höhen und warmen, tiefen Tonebenen ist dabei bedeutsam. „Es ist der Versuch, die Poesie einer Landschaft aus Tönen wiederzugeben“, sagt Liisa Hirsch.

Berge, Winde und Täler beschreibt die Musik. Eine sanfte Landschaft. Eine europäische. Der Europäische Komponistenpreis passt darum sehr gut zu Liisa Hirsch – und sie zu ihm. Sie ist eine Hoffnungsträgerin, und auch, wenn KünstlerInnen das vielleicht nicht nur gerne hören: Da lastet fortan Verantwortung auf ihr.

Na, sie wird ihr spielerisch gerecht werden, diese große, ernsthafte Künstlerin, die mit soviel Mut und mit so wenig Größenwahn die Bühne der Weltmusik betreten hat.

Musik ist nicht gleich Musik.

Celli spielen eine besondere Rolle in „Mechanics of Flying“ von Liisa Hirsch. Hier beim Applaus am 31.8.2016 im Konzerthaus in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihren bislang größten Erfolg hatte sie erst letztes Jahr, mit dem Streicherstück „Ascending… Descending“ („Aufsteigen… Absteigen“). Kalt klirrt es darin, bis es dann zart, lyrisch und sogar temperamentvoll wird.

Auch für den Film und fürs Ballett, fürs Theater und fürs Puppentheater hat Hirsch schon komponiert. „Lemonade Tale“, „Limonadenmärchen“, heißt ihr Puppenstück von 2013. Man hört den Schalk darin, den hintergründigen Witz, dem Hirsch sich ebenso verpflichtet sieht wie der ernsthaften Suche nach Tiefgang und Sinngebung. Musik als akustische Dekoration ist ihr ein Graus – und eben diese Entschiedenheit zeichnet sie als Menschen und als Musikerin aus.

Musik ist nicht gleich Musik.

Beim Warten auf den Sekt ein Blick auf Lüster: im Konzerthaus im Gendarmenmarkt. Prosit, Liisa Hirsch: Santé! Foto: Gisela Sonnenburg

Intensivismus – ich hoffe, dieses Wort ist ab sofort mit Liisa Hirsch verbunden und wird viel mehr als nur eine Fußnote der Musikgeschichte sein.
Gisela Sonnenburg

Kostproben von Liisa Hirsch gibt es hier:

www.soundcloud.com/liisa-hirsch

 Dietmar Bär gibt es ab September auch wieder hier:

www.schauspielhausbochum.de

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