Was für eine Szene! Wenn sie gemeinsam erwachen, sind sie ein frisch vermähltes Paar, das indes die schönsten Stunden seines jungen Lebens schon hinter sich hat: Der Paartanz von Romeo und Julia nach ihrer ersten und einzigen Liebesnacht, die heimlich in Julias wie dafür gemachtem Jungmädchenbett statt fand, ist ebenso ein Begrüßen des neuen Tags wie ein heimlicher Abschied vom Leben insgesamt. Reich an Arabesken, Penchés und Attitüden, hat Julia hier zwar eine hingebungsvolle Körpersprache der liebenden Sehnsucht. Und oftmals trägt Romeo sie in ihrem entzückend geradlinigen Spagat hin und her, wenn er sie nicht gerade fest in einer Arabeske auf Zehenspitzen hält. Aber die Träume der zwei sind von Bitternis und Traurigkeit durchzogen. Da bleibt Romeo einfach urplötzlich stehen, wendet sich ab, so als wolle er davon laufen. Schon zu Beginn des Pas de deux, gleich nach dem Aufstehen, ging er ein paar Schritte, sah in die Ferne, dann auf den Boden, mit fast erloschenem Blick – als wüsste er, dass die Zukunft nicht gut aussieht für seine Liebe. Später geht Julia wie eine verzagende Verliererin barmend auf die Knie, und ihr Romeo steht einfach nur ratlos da. Dann aber wieder umarmen sie sich, eng und herzhaft, als wäre es mit ihrer letzten Kraft – und als könne eine einzige solche Umarmung die Welt verändern. Ach, wäre es doch so! John Crankos Version von Shakespears Verona-Tragödie „Romeo und Julia“ hat mit dieser emotional so vielfältigen postkoitalen Szene einen Markstein in der Weltgeschichte des Balletts gesetzt, gleichmaßen einen Höhepunkt der Tanzsprache von Liebenden gefunden. Beim Staatsballett Berlin läuft Crankos Stück, das 2012 in dieser Inszenierung mit einer Ausstattung von Thomas Mika premierte, nun wieder als Herzschmerztrostpflaster für alle, die noch an die Liebe glauben wollen.
Polina Semionova, die große internationale Startänzerin, die einst von Berlin aus ihren Weg durch die Theater der Welt nahm, und Jason Reilly, als Stargast vom Stuttgarter Ballett kommend, eröffneten die neue Aufführungsserie in der Deutschen Oper Berlin mit einer bis ins kleinste Detail durchgearbeiteten Hingabe an ihre Rollen.
Keck und frisch, neugierig und ein bisschen frech ist die Julia von Polina – bilderbuchreif und so sprühend vor Lebensfreude und Liebestrunkenheit, dass man ihr stürmisch gratulieren möchte zu so einem herzerfrischend unverdorbenen Naturell. Aber dabei steckt natürlich auch viel Arbeit in den formvollendet schönen Spitzenschuhfüßen der Semionova, die noch in jedem einzelnen, hier bewusst vorwitzig wirkenden Tendu ein Abbild ganz besonderer Eleganz formulieren. Polina hat diese Partie schon mal mit einem Stuttgarter Gast getanzt, und zwar in Berlin wie auch beim Bayerischen Staatsballett in München: mit Friedemann Vogel, mit dem sie nachgerade ein optimales Pärchen aus Verona auf der Bühne abgab.
Jason Reilly wiederum ist als delikat-passionierter, dabei auch männlich-dominanter Romeo berühmt-berüchtigt: Er mimt nicht den naiven Burschen, der sich Knall auf Fall mal eben so verliebt, sondern er ist ein jung erblühtes Mannsbild, das im Vollbesitz seiner Kräfte all seine Sinne auf die Suche nach Liebe konzentriert. Es ist ein Genuss, diese beiden Weltstars umeinander werben und miteinander tanzen zu sehen: Die gebürtige Moskowiterin verfügt über genau jenes feminine Fluidum, das ihr erlaubt, den Mann neben ihr als Verführer per se erscheinen zu lassen. Jason wiederum hat diese unnachgiebig-drängende Art, eine Frau anzusehen und ihr damit das Gefühl zu geben, sie sei nur für ihn allein überhaupt geschaffen.
Dieser Romeo tut das von der ersten Sekunde an, da er Julia auf einem Maskenball im Haus ihrer Eltern sieht. Wir wissen es und können uns dennoch nicht satt sehen daran: Wie zwei Wesen, die die Liebe neu erfinden, fallen die zwei gedanklich übereinander her, kaum, dass sie sich gerochen haben. Es ist derweil so herzergreifend, dass sie diesem inneren Drang nicht gleich nachgeben dürfen: Da stehen sie voreinander, nebeneinander und wieder voreinander, um sie herum eine festliche Ball-Dekoration, und Romeo traut sich kaum, sie überhaupt auch nur einmal zu berühren. Als sich endlich ihre Hände finden, lassen sie auch gleich wieder los – zu groß ist die Anziehungskraft, sie würden womöglich völlig die Kontrolle über sich verlieren.
John Cranko, der choreografische Vater des so genannten Stuttgarter Ballettwunders, war schon ein großer Kenner der tief gehenden Leidenschaften. Und er warf viel von seinem Wissen in die Waagschale, um diesen „Romeo“ zu kreieren. Mit dem gewünschten Erfolg: 1962, ein Jahr nach Amtsantritt als Ballettchef bei den Württembergischen Staatstheatern, hatte er mit seinem „Romeo“ den entscheidenden Durchbruch in der Gunst des Publikums. Allerdings war es schon der zweite Versuch, das Stück von William Shakespeare – sein berühmtestes – in ein Ballett umzusetzen. Denn schon 1959 stellte Cranko als Gastchoreograf in Mailand seine Urversion von „Romeo und Julia“ auf die Bühne. Und es ist sicher kein Zufall, dass auch Crankos bestes Stück, „Onegin“, ebenfalls nach einem Stück Weltliteratur (Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“) entstand – und erst im zweiten Anlauf, also als überarbeitete Version, jene hohe Karatzahl an künstlerischer Qualität erhielt, die es zum internationalen Bestseller macht.
Was „Onegin“ betrifft, so hat Cranko hier nur wenig Konkurrenz. Hier und da wird das Stück grob gecovert, um Ballettdirektoren irgendwo auf der Welt die Lizenzgelder zu ersparen. Und auch wenn John Neumeier 2014 eine ganz neue Umsetzung des Puschkin’schen Versromans schuf – direkt in Wettbewerb zu Cranko geht er damit natürlich nicht.
In Sachen „Romeo und Julia“ sieht es allerdings anders aus. Viele große Choreografen (und auch viele weniger bedeutende) kreieren ihre eigene Fassung des Stücks, seit sich die Musik von Sergej Prokofieff (die Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts entstand) umfänglich durchgesetzt hat. Außer der Stückfassung des Südafrikaners Cranko muss man auch diejenige des Briten Kenneth MacMillan und die des Deutschamerikaners John Neumeier sowie die verschiedenen des russischen Tanztitans Juri Grigorovich für absolut wichtig erachten. Maurice Béjart, Sasha Waltz, Stijn Celis, Mauro Bigonzetti und viele andere – darunter auch Nacho Duato, aktueller Ballettchef in Berlin – schufen ebenfalls sehenswerte Versionen dieses unsterblichen und unerschöpflichen dramatischen Themas.
John Cranko aber zeigte speziell den Deutschen, was in der Liebe und im Ballett so alles möglich ist, wenn man mal alle konventionellen Fesseln überwinden und dem puren Gefühl der überschäumenden Zuneigung das Recht geben will.
Die Versöhnung der verfeindeten Clans der Montagues und der Capulets ganz am Ende bleibt hier denn auch weggelassen – bei Shakespeare und auch bei Grigorovich ist sie indes das immerhin erfreuliche politische Ergebnis des grandiosen, abgrundtief traurigen Liebestodes.
Cranko aber fokussiert das Interesse auf die Dynamik dieser Gesellschaft, in der Leben und Sterben nah beieinander liegen, und die ein kunterbuntes Abbild klassischer Theaterszenerien ist. Da gibt es, gleich nachdem Romeo zu Beginn des ersten Akts schwärmerisch mit seinen Umhang für ein Mädchen namens Rosalinde (sehr elegant-erhaben: Sarah Mestrovic) gewedelt hat, eine mittelalterliche Jungfrauenriege mit Wasserkrügen. Sie wirkt wie einem Poesiealbum über romantische Nostalgie entstiegen – und die vier Freunde Romeos, die dazu kommen, ergänzen dieses Tableau unbeschwerter Einfachheit zu jugendlicher Kraft.
Neben dem mal wieder köstlich mit Sprungkraft und Charme bestechenden Dinu Tamazlacaru als Mercutio beglücken Alexander Shpak als Benvolio sowie Alexander Abdukarimov als namenloser Freund in dieser Clique. Barbara Schneider als Gräfin Montague und Martin Szymanski als ihr Gatte (was er auch im realen Leben ist) verströmen die selbstbewusst schillernde Distanz des Adels zum Volk. Soweit der Clan der Montagues, dessen leitende Kostümfarbe hier Rosa ist (kein Babyrosa, sondern Altrosé).
Bei den Capulets ist es ein lichtes Blau, das sich wiederholt, und die expressive Beatrice Knop als Julias Mutter mit Tomas Karlborg als wertem Gatten verkörpert vollendet den glitzernden Hochmut, ja den Narzissmus dieser mächtigen Familie. Arshak Ghalumyan als Tybalt und Michael Banzhaf als Graf Paris ergänzen diese Gruppe mit geschmeidigem Stolz (Ghalumyan) und aufrichtiger Freundlichkeit (Banzhaf).
Das ist ja so richtig von Cranko beobachtet: Die netten Menschen sind oft viel zu harmlos, um sich einer Obsession wie dieser alles verzehrenden Liebesleidenschaft, wie Romeo und Julia sie füreinander empfinden, auszuliefern. Arshak Ghalumyan schafft es zudem, wie eine Art Regisseur auf der Bühne zu wirken und immer wieder als dominantes Korrektiv aufzutreten, wenn einer der Montagues den Capulets zu nahe kommt.
Und sie sind allesamt leicht entflammbar hier, die jungen Seelen! Cranko zeigt eine Gesellschaft, in der es kocht und brodelt, in der jeder Einzelne in jeder Sekunde bereit ist, jemanden anzuspringen oder zu umarmen, jemanden abzustechen oder zum besten Kumpel zu machen.
Den Trio-Tanz der drei Freunde Romeo, Mercutio und Benvolio, der vor synchron wie einzeln zu absolvierenden Tours en l’air nur so strotzt, interpretieren Reilly, Tamazlacaru und Shpak denn auch mit flirrender Miene. Es ist ein Gefühl, als würde man eines Vorspiels gewahr, das neben vielen spielerischen Aspekten auch eine deutliche Portion Aggression enthält.
So ist kein Wunder, dass sich nach allerhand Scherzen wie spielerischen Fecht-Duellen und einer Apfelschlacht es auch immer wieder ernsthaften Zoff gibt, und der mit Schwarz-goldenen Prunkfarben aufwartende Patriarch, der Herzog von Verona (Tommaso Renda), muss schon bald Romeo und Tybalt anmahnen, sich zur Aussöhnung die Hand zu reichen.
Das Ensemble, in zwei Gruppen den Montagues und den Capulets zugeordnet, erscheint solchermaßen als lebender Organismus: Die Stimmungen, die diese Menschenmenge erfassen, werden von der aufwühlenden, gefühlsstarken, dennoch moderne Kontrapunkte darbietenden Musik noch unterstützt.
Damit sind wir allerdings auch schon beim Wermutstropfen dieser Aufführung: Der Dirigent Nicholas Carter, seit einem Jahr als Assistent von Donald Runnicles, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, engagiert, meistert die sinfonisch flüssige, im Kleinen aber auch mal verzwickte Partitur keineswegs besonders gut. Im ersten Akt stimmt das Verhältnis der dunklen zu den hellen Klangpartien oftmals nicht, die Übergänge und Crescendi wirken dilettantisch heruntergeleiert. Im zweiten und dritten Teil des Abends schleppt sich dann musikalisch siech dahin, was voller Schwung und Spannung sein sollte.
Im Kontrast zu den hervorragend „getrimmten“ Tänzern nimmt sich das geradezu grotesk aus.
Ein besonders krasses Beispiel hierfür ist der „Lilientanz“ von acht jungen Damen an Julias Bett im dritten Akt. Dieser aufwändige Vorhochzeitstanz einer versammelten Jungfrauenschaft ist ein surreal glitzerndes Kleinod des choreografisch Möglichen! John Cranko hat sich sehr gewitzt erlaubt, darauf hinzuweisen, welche Macht die Segenswünsche von gut erzogenen Teenagern haben können. Im Grunde ist das eine Art weiße Magie des Abendlandes, die hier zelebriert wird, und ballettgeschichtlich handelt es sich zugleich um einen radikalen Gegenentwurf zu den bösartig-rachsüchtigen „Wilis“ und den gedankenlos-verdorbenen Sylphiden des klassisch-romantischen Balletts.
Diese Szene der tanzenden jungen Damen am Bett der vermeintlich schlafenden, faktisch aber mittels Gift in ein Koma gefallenen Julia, hat etwas von Federico Fellinis Fantasien über junge Frauen. So sollte dieser Morgen eigentlich ihr Hochzeitstag mit Paris werden; aber heimlich ist sie bereits mit Romeo vermählt – und statt offiziell durch Heirat vom Mädchen zur Frau zu werden, wird sie durch ein Missverständnis tragisch ums Leben kommen. Dieser Tanz der Jungfrauen mit den symbolhaften Lilien beschwört ein letztes Mal im Stück die Unschuld und Stärke der Liebe, die normalerweise eine kreative und fruchtbare Wirkung haben sollte – und die sich in „Romeo und Julia“ auf so konfliktträchtige Weise in ihr Gegenteil verkehrt.
Der Stellenwert im Stück des tanzenden Oktetts geht über die Existenz als dekoratives, rein retardierendes Moment also weit hinaus. Vulgo: Der Lilientanz in „Romeo und Julia“ ist unerhört bedeutsam und hintergründig.
Das Ballettmeisterteam vom Staatsballett Berlin, von den Cranko-Coachs Georgette Tsinguirides, Reid Anderson und Birgit Deharde sehr schön instruiert, weiß das – und legt stets größten Wert auf eine adäquate Darbietung. Diese gelingt denn auch in dieser Saison vollauf, und es ist immer wieder berückend zu sehen, was auch so ein scheinbar argloses, freundlich-liebenswertes Damenoktett an Gefühl und Ausdruck mit kleinen und großen Bewegungen zu transportieren weiß.
Aber so mädchenhaft-lieblich, so harmonisch-geschmeidig, so erwartungsfroh-animierend und dennoch so synchron-exakt denn auch Lisa Breuker, Julia Golitsina, Elinor Jagodnik, Cécile Kaltenbach, Marina Kanno, Danielle Muir, Aoi Suyama und Patricia Zhou mit Lilienzweigen in den Händen vor Julias Bett auftanzen, so schrill und scheppernd kamen dazu bei der Wiederaufnahmeaufführung die Orchesterklänge. Nicholas Carter hat die Sache am Dirigentenpult einfach nicht im Griff. Insgesamt stoßen vor allem die Bläser mit schrägen, quäkenden Tönen auf, aber auch die Streicher sind unter Carters „Romeo“-Dirigat nicht miteinander im Reinen gewesen. Hier muss noch geübt, geübt, geübt werden. Möglicherweise bessert sich dann das Klangbild oder entfaltet sogar eine eigene Interpretation.
Einige der „Romeo und Julia“-Vorstellungen in der Deutschen Oper Berlin werden zudem von Robert Reimer dirigiert. Und er hat mit dem Staatsballett Berlin bereits eine ganz hervorragende Kooperation begründet und ist als Ballettmusikleiter eines großen Orchesters nur zu empfehlen. Bei Reimer kann man üblicherweise jeden Ton genießen, und voll Freude schwingen die Musiker da im Gleichklang. Auch die Soli und Sologruppen weiß Reimer gekonnt zu koordinieren – und sie noch dazu mit den Tänzern auf der Bühne abzustimmen, ohne, dass ganze Klangpartien abstürzen, was bei Carter während der Wiederaufnahmevorstellung von „Romeo und Julia“ 2016 zweifelsohne der Fall war.
Kommen wir zurück in den ersten Akt, ein wahrer Hechtsprung ist das, denn es geht in die Vollen einer prickelnd aufregenden Gesellschaft, deren Lust zu feiern keineswegs nur zu einem rein repräsentativen Charakter der Festivitäten führt.
Der Maskenball in Julias Elternhaus zeigt aber auch die Freude an der Demonstration von Macht, wie sie für die gesamte Renaissance – insbesondere in Italien, wo wir uns vom Libretto her ja befinden – typisch war.
Romeo trifft hier noch einmal auf Rosalinde, die ihn hinhält – und nach der Formulierung jugendlich-spritziger Manneskraft im Trio-Tanz mit seinen Freunden hält Romeo eigentlich nichts mehr, sich ein neues Mädchen zu suchen. Sein Blick fällt auf Julia – und er erstarrt. Er ist wie gefangen, zugleich drängt es ihn an sie heran. Er kann es aber selbst auch kaum fassen, wie ihm geschieht. Die Liebe, sie trifft auf diesen Romeo wie ein Blitz in eine arglose Birke einschlägt.
Jason Reilly spielt das mit jeder Faser seines schönen muskulösen Körpers. Da strömt das sinnliche Verlangen nur so hin zu diesem schönen Mädchen, das seinerseits zugleich unmäßig vertrauensvoll wirkt und doch fast erschrocken ist angesichts einer so großen Gefühlsgewalt.
Polina Semionova kann das Changieren zwischen selbstbewusst-naiver Göre und wie verzaubert wirkender Liebhaberin wunderbar zeigen! Da wirkt ihre Julia schon für Momente ganz erwachsen, durch das starke Begehren, das in ihr erwacht. Aber auch ihre nach wie vor kindhaften Seiten wirken hier verlockend und erwartungsfroh. Willig ergibt sie sich dem Verlangen des Mannes, der sie dadurch in seinen Besitz nimmt.
Und wäre sie diesem tollen Romeo nicht begegnet – sie hätte ganz einfach schon aus Neugier sehr gern den netten, wenn auch etwas langweiligen Grafen Paris geehelicht. So sieht es hier aus, aber das mag nur die halbe Wahrheit sein, denn natürlich steckt hinter der Bereitschaft, sich auf Tod und Leben zu verlieben, noch eine ganz andere Triebkraft als nur die, dem langweiligen Ehealltag zuvor kommen zu wollen.
Romeo und Julia stehen denn auch sinnbildhaft für die ewige – also der Unvergänglichkeit verpflichtete – erotische Liebe, für die ganz große, alles durchdringende Sexualität zwischen zwei Menschen.
Ach, und das kann in einer Gesellschaft, die immerzu den Aufruhr und den Machtzugewinn will, nicht gut gehen, niemals!
Die Revolution der Liebe, die hier die Feindgrenzen zwischen den Montagues und den Capulets überwindet, ist bei John Cranko allerdings eine, die dem Recht auf Privatheit und dem Recht auf Individualität geschuldet ist – und weniger dem Recht auf Frieden und Anstand in der Welt.
Das ist bei anderen Choreografen anders, etwa bei John Neumeier, dessen Hamburg Ballett seinen „Romeo“ ebenfalls im April 2016 wieder zeigt.
Bei Cranko aber kommt ein Gutteil der Aufmerksamkeit der Inszenierung der bürgerlichen Herrschaft zu, so im legendären „Tanz der Ritter“ auf dem Maskenball. Musikalisch handelt es sich dabei um ein Geschmeide aus auftrumpfender Rhythmik, und Crankos Ensemble-Choreo setzt da noch eins drauf.
Sein Kniff: Er lässt die Ritter Capulets symbolhafte Schmuck-Kissen auf einer Hand balancieren – Zeichen ihres Wohlstandes und ihrer Zivilisation. Gold-schwarz sind sie in der Ausstattung von Thomas Mika, und der umwerfend schön einstudierte Gruppentanz damit zeigt musterhaft, wie sich hier das Bürgertum zum Geldadel erhoben hat.
Die Herren mit den Kissen auf den Händen, die Damen kommen mit langen Schleppen dazu – so macht ein Clan ganz sanft klar, dass er nicht mit sich spaßen lässt und Außenseiter in jedem Fall assimilieren oder abstoßen wird.
Ein wohlig-gruseliger Schauer darf einem den Rücken runterlaufen!
Polina Semionova als Julia wirkt darin wie ein verkörperter Wink des Schicksals, sie ist ein wandelnder Frühlingsgruß in dieser Kälte der Macht, sie ist süß und behende tänzelnd, aber zugleich bereits entrückt…
Michael Banzhaf als Paris erweist ihr allerdings viel Ehre, er weiß, ganz souverän und erfahren, mit wohl jeder noch so flotten Sprotte fertig zu werden. Wenn er sie sicher hebt und in eine Pose zwingt, dazu selbst noch die saubersten Arabesken zeigend, dann kann sie sich dagegen kaum wehren – und tanzen sie erst einmal zusammen, sind sie auch schon fast ein schönes Paar. Darum wird Julia später das Tanzen mit ihm gleich ganz verweigern.
Ein Solo der Julia mit viel Getrippel und mädchenhaften Arabesken, mit einigen Passés und exquisiten Ports de bras zeigt aber vor allem auch die Unbedarftheit dieses Mädchens. So richtig klar wird ihr wohl erst kurz vorm Tod, worauf sie sich mit Romeo eingelassen hat.
Dessen clownesk aufgelegte Entourage, bestehend aus Mercutio und Benvolio, erfreut derweil mit großen Sprüngen und vielfachen Pirouetten – ach, so eine frotzelnde Jungmannschaft macht schon sehr viel Spaß!
Nur die Paartänze von Romeo und Julia sind da natürlich ganz erhaben über jedwede Albernheit. Es ist der Ernst des Lebens, der mit der Liebe über sie kommt. Crankos Pas de deux drücken das auch genau so aus, und mitunter erinnern sie nicht zufällig etwa an den „Spiegel-Pas-de-deux“ aus „Onegin“.
Da ist so viel Hoffnung in dieser traumhaften Zweisamkeit!
Die nächtliche Balkonszene nährt denn auch diese Erwartungen. Im Bühnenbild von Mika ist der Balkon die Galerie auf der Bogenbrücke, die das ganze Stück über den Hintergrund hier bildet. Romeo erscheint – und die Welt scheint eine andere. Seine spiralförmigen Tours en l’air und lang gehaltenen Arabesken – um Julia zu beeindrucken – künden von einer Freude und Zuversicht, die mit dem Machtgehabe der verfeindeten Clans nichts zu tun haben können.
Seine Julia kann er damit selbstredend in Euphorie versetzen, und wenn er sie hebt – und sei dieses kopfüber – so bilden die beiden eine organische Einheit aus Harmonie und Magnetismus. Der Kuss, der den Pas de deux abschließt, ist das logische Ziel all dieser gegenseitigen Umwerbungen: Es ist ein Wunderwerk ballettöser Eleganz, wie hier aus zwei Menschen ein schier unauflösbares Liebeskonstrukt wird. Und wenn Julia dann vertrauensvoll rückwärts in Romeos Arme trippelt, um von ihm aufgefangen und umarmt zu werden, dann weiß man, dass diese beiden jungen Menschen zu allem bereit sind, das sie noch stärker, noch stärker und noch stärker miteinander verbindet.
Die Bereitschaft, füreinander und miteinander zu sterben, ist bei so starker Liebe immanent – und Crankos Choreografie weiß das aufzuweisen.
Weitere Volkstanzszenen setzen die pure Lebenslust dagegen.
Das wirklich hervorragende Ensemble vom Staatsballett Berlin sprüht hier nur so vor Spaß und subtiler Spannung – und ähnlich wie im ersten Akt in „Onegin“ toben folkloristische Elemente im Verein mit der sie überformenden Klassik. Juchhe!
Allen voran wirbeln drei virtuos tobende Zigeunerinnen (Maria Boumpouli, Stephanie Greenwald und Sebnem Gülseker) durch die Szenerie, als gebe es kein Morgen. Die Jungsclique von Romeo ergibt sich nur allzu gerne ihrem Charme – und tanzt und scherzt und flirtet, auf Teufel komm raus.
Alexander Sphak profiliert sich hier durchaus für eine feurig verliebte Liebhaberrolle – vielleicht werden wir ihn ja mal als Lenski in „Onegin“ oder auch als Romeo erleben.
Der Tanz mit dem Würfelbecher, den die Jungs hinlegen, ist zudem so gepfeffert und gesalzen, als sollten die Schicksalsgötter geradezu herausgefordert werden. Romeos Solo wirkt dagegen fast lyrisch!
Dann sorgen die „Faschingstänzer“ sprich die tollkühnen Narren, allen voran der virtuose Kévin Pouzou, für Stimmung. Was für ein künstlerisch-ästhetischer Aufruhr!
Spagatsprünge und Radschlagen, Umeinander und aneinander Turnen, das gehört hier dazu. Wie eine exaltierte Botschaftertruppe, etwa aus Paris zur Zeit des mittelalterlichen Karnevals kommend, bricht diese Narrenschaft hier ins bürgerliche Dasein der Veroneser ein. Guiliana Bottino, Xenia Wiest, Olaf Kollmannsperger und Ulian Topor platzen fast vor Spielfreude – und übermitteln diese mit hoher Könnerschaft.
Einen scharfen Gegensatz bietet dagegen der Mikrokosmos des Priestertums im Stück. Der Mönch Pater Lorenz, von Martin Szymanksi getanzt (ohne, dass dadurch nun eine Doppelrolle mit Julias Vater draus würde), hält einen Totenschädel und ein Körbchen mit Kräutern in den Händen, hinter ihm spendet ein Brunnen sein Trinkwasser – die nahrhafte existenzielle Bedeutung von Religion ist hier wohl gemeint.
Philosophie, Kräutermedizin, Lebensmittelkunde – im Mittelalter waren all das mönchische Domänen; nur in den Klöstern wurde das Wissen kultiviert und weiter gegeben, und die späteren Gelehrten der Renaissance bauten darauf auf.
So ist kein Wunder, dass Romeo und Julia diesem Mönch vollauf vertrauen und sich rasch von ihm verheiraten lassen. Wenigstens vor Gott, wenn schon nicht in der Öffentlichkeit, wollen sie ein sich zueinander bekennendes Paar sein.
Jason Reilly und Polina Semionova verleihen dieser Szene die kindliche Ernsthaftigkeit, die Teenager nun mal so an sich haben, wenn sie über Heirat nachdenken. Sehr niedlich wirkt das!
Und weiter geht es, wieder mit einem Fest – davon konnte Cranko anscheinend nie genug bekommen, um die Tragik der Liebe szenisch zu konterkarieren. Und zwar spielen Maske und Kostüme hier stets eine symbolhafte Rolle. Das ist das eigentliche große Erwachen, das „Romeo und Julia“ bewirken kann. Denn: Nur die Liebe lässt die Menschen hier sie selbst sein; alle andere unterliegen der Heuchlerei, der Verstellung, dem Selbstbetrug… aber immerhin in buntester Ausführung!
Karneval, Karneval! Rauschhaft steigert sich das Tanzen der Massen, bis Arshak Ghalumyan als Tybalt mit schwingendem Degen die Feier sprengt. Ihm ist da zuviel Montague-Geruch in der Luft… Romeo aber will sich nicht schlagen, und seine Kumpels äffen den streitsüchtigen Tybalt, als wäre dieser nur irgendein Penner. Klar, dass ihn das nur noch mehr auf die Palme bringt!
Er verpasst Romeo eine Ohrfeige, es ist schon die zweite in diesem Stück, aber der selig Verliebte steht über allem und hebt den Handschuh, den Tybalt ihm als Duellforderung vor die Füße warf, nur nett auf und reicht ihn Tybalt. Wie anders geht so eine Duellforderung in „Onegin“ von statten!
Hier aber bemüht sich Romeo um Ruhe und Frieden. Damit ist er indes ziemlich allein… es kommt zum Zwist. Die Fechtkunst von Tybalt genügt allerdings nicht, um Unheil zu verhindern. Mercutio wird von Romeo in seine Klinge gestoßen, absichtslos zwar, aber faktisch hat Tybalt Mercutio dann umgebracht. Ein letzter grotesker Tanz des Sterbenden, der bis zum Schluss vortäuscht, seine Verwundung sei gar nicht so schlimm, gibt der Sache nochmals Sprengkraft. Mercutio stirbt im Stehen, in den Armen seiner Freunde Benvolio und Romeo hängend. Oh!
Jetzt kommt Romeo nicht mehr drum herum. Er fordert Tybalt zum Duell. Atemberaubend fechten sie, und Romeo scheint zuerst unterlegen – aber da trifft er Tybalt mit dem Degen und erschrickt, denn auch dieser Tod ist so nicht beabsichtigt. Cranko will zeigen, wie grausam die Tötung im Zweikampf ist – und wie wenig die kampfgeilen Männer darüber vorher nachgedacht haben.
Am Ende des zweiten Aktes steht fest: Das große Glück wird hier nicht mehr einziehen. Aber dennoch verbreitet „Romeo und Julia“ von John Cranko einen ganz bestimmten Esprit: eine Mischung aus serviler Eleganz, lüsterner Schelmigkeit und rasch hochkochender Leidenschaft.
Auch im dritten Akt treffen sich groteske Elemente mit ganz naiver großer Liebe. Es ist gerade diese Mischung, die das theatralische Potenzial des Abends ausmacht.
Der dritte Akt beginnt mit der hier eingangs geschilderten Kernszene. Welches Glück und welche Todesahnung kommen hierin zusammen!
Julia lässt sich vom Mönch ein Elixier geben, um scheintot zu werden. Aus der Totengruft soll sie mit Romeo fliehen können. Doch Romeo wird davon nicht benachrichtigt, und die Sache geht schief.
Doch vor Romeo trauert Graf Paris an ihrer vermeintlichen Leiche. Das Grabmahl ist in Mikas Ausstattung das rasch umdekorierte Jungmädchenbett von Julia. Auf der einen Seite kauert hier der trauernde Paris, auf der anderen der gerade angekommene Paris. Sie entdecken einander, verfallen sofort in einen Kampf mit dem Dolch auf Tod und Leben – und Paris verliert. Ungerührt lässt Romeo ihn sterben, widmet sich seiner Trauer um Julia – und kann es nicht fassen, dass diese tatsächlich tot sein soll. Ach, wäre er nur nicht von dieser Ungeduld der Jugend besessen! Kaum hat er sich erdolcht, erwacht Julia… und freut sich zunächst, ihren geliebten Mann neben sich zu finden. Ihr Grauen ist endlos, als sie entdeckt, dass er nicht mehr lebt. Auch den toten Paris entdeckt sie – es scheint überhaupt kein Leben mehr um sie zu geben.
Nach einem letzten Tanz, der ihrer Liebe gilt, bringt Julia sich mit Paris’ Dolch um, den sie in die Hände des toten Romeo geklammert hat. Sie kriecht im Sterben unter ihren Geliebten und hält ihn, als sie ihren letzten Seufzer aushaucht, in den Armen… wahrlich poetisch, aber auch qualvoll, wie John Cranko hier die blutjunge Julia ihr eigenes Dasein enden lässt, in dem Wissen, dass sie mit einer Unbedingtheit und Intensität geliebt hat und geliebt wurde, wie es nur wenigen Menschen vergönnt ist.
Iana Salenko, die 2012 auch die Berliner Premiere bestritt, tanzt die Partie der Julia mit stark betonten Kontrasten: zuerst überschwänglich glücklich und dann unglaublich bekümmert; grenzenlos niedlich-süß zu Romeo, aber fast hartherzig-abweisend zu Paris. Polina Semionova verbindet die verschiedenen Seelenzustände der Julia ja stärker, bildet sie dafür aber nicht ganz so prägnant an den akuten Stellen aus. Beides ist unbedingt sehenswert!
Jason Reilly hat Dinu Tamazlacaru gegenüber den Vorteil, den Romeo an dessen Entstehungsort, beim Stuttgarter Ballett, einstudiert zu haben. Nachdem er ihn unzählige Male bei anderen Kollegen dort sah! Dennoch ist Reilly kein typischer, sondern ein phänomenal „anderer“ Romeo, der weitaus mehr Männlichkeit und Beherztheit auffährt, als das zumeist der Fall ist. Dinu Tamazlacaru hingegen hält in seiner Interpretation einen unerreichten Rekord an formschönen Sprunghöhen bereit; außerdem entspricht er mit seiner burschikos-ästhetischen, lyrischen Interpretation ganz dem Idealbild eines verliebten Jungmanns. Auch hier sind also beide Besetzungen absolut sehenswert!
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
Mehr über Crankos „Romeo und Julia“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-berlin-romeo-und-julia-polina/