Kühe faszinieren. Zumindest den schwedischen Choreografen Alexander Ekman, der mit dem Thema „COW“ („Kuh“) beim Semperoper Ballett in Dresden einen Coup de luxe landet. Wer nun glaubt, die Metapher der Kuh sei nur ein Vorwand, um mal wieder so richtig abtanzen zu können, liegt indes nicht ganz falsch: Ekman und sein Team haben sich zwar intensiv mit der Kreatur aus dem Stall beschäftigt – aber zu einem Resultat kamen sie mitnichten. Dennoch entstand ein fetziger, mitreißender, auch anrührender Abend; pausenlos, atemlos, mit wilden Szenen, aber auch mit ganz viel Stille. Der Star des Abends ist Christian Bauch, der junge in Dresden geborene und auch dort ausgebildete Tänzer, der auf allen Vieren und mit durchgedrücktem Kreuz im Watschelgang eine hervorragende Kuh abgibt. Lieb guckend, beruhigend brav, ganz unaufdringlich uns mit Blicken befragend – und doch total ans Herz greifend, wenn man bedenkt, was der Mensch den vierbeinigen Viechern so alles antut.
Bauch im Herrenanzug. Er kriecht einer weißen Plastikkuh, die weiter oben schwebt, zum Trotz von links nach rechts und ist – von der Körpersprache her – ganz Kuh. Vorn an der Rampe, vorm Vorhang, macht er Halt. Mit gelassenem Kuhblick äugt er ins Publikum: nichts ist clownesk daran. Er wirkt sympathisch, man mag ihn, ganz so, wie man eine ruhig kauende Kuh auf der Weide auch spontan richtig gern hat.
Eigentlich ist das umwerfend, wie sehr dieses Kuh-Gefühl von Christian Bauch getroffen wird: Wie von einem Zeichner oder Bildhauer, etwa wie von dem genialen Rembrandt Bugatti, wurde die Essenz einer tierischen Daseinsform vom Tänzer Bauch genau erfasst, verinnerlicht und als künstlerischer Ausdruck reproduziert. Bloße Imitation ist das mitnichten. Sondern: Da zeigt sich die Verwandtschaft zwischen Vieh und Mensch, die evolutionsbiologisch ja auch längst nicht so weit voneinander entfernt sind wie etwa Fische und Zweibeiner.
„So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich.“ Diesen hellsichtigen Aphorismus von Friedrich Nietzsche, den das zur Vorstellung gehörige Programmheft dankenswerterweise zitiert, hat Bauch somit schon fast erfüllt.
Die Kuh, ob heilig oder nicht, als überzeitliches Sinnbild: fürs Unschuldige, Natürliche, Eigentliche, für die Kunst, für Ballett, für dich und mich. Kuh, oh Kuh – nur du!
Aber diese Kuh hier auf der Bühne hat noch einen weiteren Vorteil. Sie spricht!
Christian Kuh, Pardon, Bauch heißt uns herzlich willkommen, und er sagt auf nette, etwas umständlich-höfliche Art, dass man während der Vorstellung keine Aufnahmen machen darf: „Das Fotografieren ist nicht verboten, solange die Vorstellung nicht läuft!“ Sehr freundlich. Aber dann bittet er um besondere Aufmerksamkeit und verlangt etwas: „Bitte stellen Sie sich vor, Sie waren noch nie im Theater!“
Das fällt gar nicht mal so schwer, wenn man Bauch in diesem Kuh-Gestus zuschaut. Normales Theater oder genormtes Ballett ist das ja nun wirklich nicht!
Zudem spricht Bauch außerordentlich gut, deutlich und prononciert, bestens intoniert – zweifelsohne hat er auch fürs Sprechtheater Talent, und wenn aus klassischem Ballett, wie hier, ein hoch modernes Tanztheater-Stück wird, ist ein solcher Künstler genau am richtigen Ort.
Es ist wohltuend zu sehen, dass an einem großen Opernhaus auch für so besondere Talente, die was ganz anderes als die üblichen Ballett-Prinzen sind, Platz ist. Dass man sein Handy abschalten muss, sagt er denn auch nicht einfach und schnöd, sondern demonstriert es, indem er das laut klingelnde Ding – einfach wegwirft. Mit einer lässig-künstlerischen Geste, ganz so, als würde er seinen Kuh-Geschwistern damit einen ganz großen Gefallen tun.
Jedenfalls hilft die drastische Geste, und das ist heutzutage ja auch schon erwähnenswert.
„Vorhang auf!“ Die Kuh im Anzug, Christian Bauch, als magischer Conférencier.
Es erwartet uns ein dunkel-poetischer Raum, in dem ein laut streitendes Pärchen mit Pudelmützen in einer Sitznische von oben aus dem Schnürboden kommt. Als es unten ankommt, verstummt es – und findet dann rasch zum versöhnlichen: „I love you!“ Frohgemut erzählen die zwei sich alsbald, wie groß ihre Liebe sei, während sie wieder hochgefahren werden. Später wiederholt sich dieses Spiel im Spiel – man muss schmunzeln, und sicher erkennt sich fast jede(r) auch mal drin wieder. „It’s forever!“ lautet schließlich die euphorische Übersteigerung, die höchste und banalste und sicher auch falscheste aller Liebeserklärungen.
Das ist Ironie, wie sie typisch ist für Alexander Ekman. Der 1984 geborene Schwede, der zunächst Tänzer war und im Königlichen Schwedischen Ballett, bei den Cullberg Balletten und beim Nederlands Dans Theater tanzte, sattelte 2006 auf Choreograf um. Seither renommiert er sich international mit ballett-untypischen, witzig-hintergründigen, auch satirisch-absurden Stücken. Die Deutschen, speziell die Dresdner, feierten schon sein Stück „Cacti“, eine Satire auf den Kunstbetrieb, mit großer Begeisterung – entsprechend gespannt war man jetzt auf die Neuschöpfung speziell für das Semperoper Ballett.
Die Zusammenarbeit verlief denn auch wie am Schnürchen. Es gibt ja kaum eine andere Truppe, die so in ihrer Zusammensetzung so heterogen ist wie das große Semperoper Ballett – und dennoch eint eine bestimmte Eigenschaft die rund 70 Tänzerinnen und Tänzer, nämlich der stetige Hunger auf Neues, auf Erfahrungen, auf Kreation und Interpretation. Ekman bedankt sich dafür denn auch im bereits erwähnten Programmheft, betont die große Offenheit und Willigkeit des Ensembles, die er gerade bei einer auch klassisch geprägten Truppe so im Grunde nicht wirklich vermutet hatte.
Er ist aber auch ein Stimmungsmacher! Alexander Ekman ist niemand, der Probenabläufe dem Zufall überlässt, aber er lenkt mit geschickter Hand, wie von der Rückbank aus. Er ermuntert denn auch stets, zur künstlerischen Einfachheit zu finden, den Leistungsdruck hingegen lässt er möglichst außen vor. Inspiration statt nur Transpiration!
Auf der Bühne bricht denn auch alsbald ein kreativer Tumult aus, etliche Figuren sind mit sich und ihren Cluster-Freunden beschäftigt. Da wird Fabien Voranger, den man noch als hervorragenden Tristan (aus David Dawsons „Tristan + Isolde“) im Gedächtnis hat, auf einem Frisörstuhl bedient, von hysterisch-lustvoll kreischenden Damen in extravaganten Fashion-Outfits. Ein Boot, ein Nachen, fährt vorüber, mitten über die Bühne, besetzt mit zwei filmreifen, ebenfalls modisch über den Dingen stehenden Gestalten. Die Kostüme von Henrik Vibskov verdienen ein Extra-Lob, sie schmeicheln den Tänzerkörpern wie dem Blick auf sie.
Aber die Figuren, die hier mit exzessiven choreografischen Zutaten und in intensiv verdichteter Zeit entworfen werden, haben es auch in sich!
Da läuft einer auf eine Wand zu, knallt mit dem immerhin von einem Helm geschützten Kopf voll dagegen, prallt ab, kommt zum Liegen – und man ist sehr erleichtert, dass er scheins unversehrt wieder hoch kommt.
Männer mit Hutgebilden wie aus einem Alptraum von Monty Python grinsen nicht nur übers ganze Gesicht, sondern bis zu den Fuß- und Fingerspitzen. In dem Boot, das immer mal wieder die Bühne überquert, steht irgendwann ein voll ergrünter Laubbaum. Ein Lorbeer ist es gar!
Dieses ganze polyphone Durcheinander, von entsprechender Klangkulisse von Mikael Karlsson begleitet, erinnert denn auch an William Forsythes „Impressing the Czar“, und dass „COW“ auf dem Rücken eines weißen Mantels steht, passt dennoch gut in die Analogie zu Forsythe. Dessen goldene-Kirschen-Manie war schließlich auch bewusste Verrätselung und keinesfalls willkürlich eingebrachte Utopie mittels eines Natur-Zitats.
Doch plötzlich ändern sich Stimmung und Szenerie – und es entsteht eine Stufenlandschaft, bevölkert von wunderhübschen Plastikkühen, ein knappes Dutzend an der Zahl, alle sind gleich, wie Klone, aber niedlich grinsend, und je zwei Tänzer betütteln und umsorgen die Kuh, als seien sie deren höchstpersönliche Assistenten. Streicheleinheiten fürs Vieh, das stumm dasteht, aber nicht reglos, denn mechanisch werden die Kühe gedreht, und man gewinnt den Eindruck, dass sie sich so gern anfassen und bewundern lassen wie Nachbars Katze, die auf Leckerbissenfang durch die Gärten streift.
Man muss dazu sagen, dass in „COW“ die Bühnentechnik viel zu tun hat – und ihre Aufgaben mit Bravour erledigt. Da werden Ebenen hoch- und runtergefahren, da wird der Boden schief gelegt und wieder verflacht, da sausen Kulissen heran und wieder weg, als sei’s eine Verführung der Potenz der Maschinen. Dahinter aber stecken auch viele tüchtige Menschen, deren Namen Ballettdirektor Aaron S. Watkin denn auch demokratischerweise bei der Premierenfeier vorlas, damit ihnen dankbar Beifall gespendet werden konnte. Man fühlte sich an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ von Bertolt Brecht erinnert, etwa an den Beginn dieses Gedichts: „Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbei geschleppt?“
Und es ist ja wahr. Techniker, Inspizienten, Werkstattangestellte – vom ersten Nadelstich an einem Kostüm über die Bereitstellung der Kulissen bis hin zur Schminke am Leib der schönen Darsteller gehören sehr viele fleißige Hände zur Theaterfamilie, damit so ein großartiger und großartig dekorierter Abend vonstatten gehen kann.
Und ein großartiger Abend ist es – auch wenn er sich mit eineinhalb pausenlosen Stunden mühelos ins Passepartout des typischen unternehmungslustigen Kulturkonsumenten von heute einfügt, der gern nach dem Tanzstück noch gut Essen geht, um dann einen Club oder eine Bar aufzusuchen.
Die wirklich tiefen Momente fehlen hingegen – man muss aufpassen, dass derart überladen-lustiges Theater nicht eben doch zu einer Art Zirkus verkommt. Der ist vergnüglich, aber wirklich rühren oder das Lebensgefühl ändern kann er nicht.
Ekman gesteht denn auch, dass ihn der ritualisierte Abendfüller in der Ballettkultur aber auch noch nie besonders angeturnt habe, er sich von daher der Innerlichkeit eher gar nicht verpflichtet sieht – und er meint, gerade seine Generation würde mit Zeitplanung ganz anders umgehen als ältere Leute früher, und damit hat er wohl auch ein gutes Stück weit Recht.
Dennoch entspinnt sich auf der Bühne immerhin auch bald ein Pas de trois zwischen zwei Jungs (Julian Amir Lacey und István Simon) und der Primaballerina Svetlana Gileva (in Spitzenschuhen), der – wiewohl alle drei hautfarbene Mini-Kostüme tragen – das neoklassisch-moderne Ballett ausdrücklich zitiert. Da dürfen die Herren synchron in fein gegliederte Arabesken gehen, ihrer Sehnsucht nach Schönheit und Weiblichkeit in ihrem Leben Ausdruck verleihend, und Gileva trippelt alsbald so zart heran, als handle es sich um einen Tanz von Hans van Manen oder von Kylián.
„Stiere“ verkörpern die drei übrigens laut Besetzungszettel, und das ist offenkundig ironisch gemeint. Sie sind nämlich das Gegenteil von schnaubenden, tumb-aggressiven Tieren… Dafür zeigt eine Projektion von Fragen im Hintergrund, dass es hier um die Kunst und um nichts als um die Kunst geht.
„Ist es ausdrucksstark genug?“ – Und auf Englisch: „Is it expressive enough?“ „Werden Sie sich daran erinnern?“ – „Will you remember this?“ – Es ist also hier die Gretchenfrage: Was ist wahre Kunst?
Aber das liegt ja auch immer im Auge des Betrachters respektive in der Leistung seines Gedächtnisses.
Nach einem Solo von Svetlana Gileva, das an Elegie und Energie nichts zu wünschen übrig lässt, begibt sich das Trüppchen flugs in eine Hebefigur, die Dame obenauf, und fast wähnt man sich schwebend zwischen Ironie und Ernst, zwischen Sarkasmus und Tragödie.
Stürzt hier etwa das klassische Ballett kopfüber ab?
Nein, die Drei ziehen sich diskret und sogar trippelnderweise aus ihrer anschaulichen Turnerei zurück. „Turnerei“ ist jetzt ganz gemein gesagt, spaßhaft-gemein, aber das darf man hier, obwohl man soeben noch bewundert hat.
„Wie geht es weiter?“ – „What happens next?“ Die Fragen leuchten am Vorhang.
Die Primaballerina entert ein Feld. Blau sind das Licht und die Weite des Horizonts, ein bisschen erinnert man sich an „Schwanensee“ oder an die typischen Das-hier-ist-die-wahre-Welt-Räume, die einem auf Ballettbühnen so gern mit Mondlicht ausgeleuchtet werden.
Das exzellente Licht-Design stammt übrigens auch vom Choreografen, wie auch das Bühnenbild – Ekman ist ein Stück weit ein Multitalent, das sich oftmals die Musik oder die Ausstattung selber macht. Hier also ist es eine wechselhafte Welt voller aberwitziger Details und Anspielungen, die er kreiert hat, und wenn Svetlana Gileva den Blick über die am Boden Liegenden schweifen lässt, dann darf man sie fast als eine Gottheit des Tanzes interpretieren. Eine Göttin aus irgendeiner fiktiven Urreligion, die den Spitzentanz lange vor seiner Erfindung durch die Taglionis 1832 propagiert hat, steigt also hinab in irdische Sphären…
Angefüllt ist diese Welt mit liegenden Menschen in weißen Gewändern, zumeist mit nackten Oberkörpern. Werden diese Menschen weiße Kühe? Heilige Kühe? Glückliche Kühe? Sind sie es schon?
Das Trippeln der Primaballerina, pardon, die trippelnde Gottheit weiß es vielleicht schon, verrät es uns aber nicht.
Stille. Sehr oft herrscht hier eine sowohl beruhigende als auch aufregende Stille. Der begabte Komponist Mikael Karlsson (der zudem mit seiner gepflegten Punkfrisur eine „beautiful person“ ist, wie Ballettdirektor Aaron S. Watkin trefflich formulierte) arbeitete eng mit Ekman zusammen, er schuf Soundcollagen und auch klassisch anmutende Musiken für das Stück. Aber sehr oft belassen die beiden „COW“-Macher es beim Atmen und Sprechen der Tänzerinnen und Tänzer, bei ihren hauchfeinen Regungen und beim leisen Tapern der Spitzenschuhen, die vereinzelt, nämlich bei den beiden Primaballerinen des Abends, eingesetzt sind.
Es hat schon eine Aura vom Allerfeinsten, wenn dem Spitzenschuh in so einem verquer-modernen Stück eine solche Aufmerksamkeit zuteil wird!
Und das bewirkt denn auch ein Erwachen der Liegenden, die sogleich die herbstlichen Blätter, auf denen sie geruht haben, freudvoll in die Höhe werfen.
Knallig dringen Rhythmen ans Ohr, auch die akustische Welt scheint aus einem Tiefschlaf erwacht.
Der ganze Boden hebt sich schließlich, die Welt erzittert zwar nicht, aber sie entschwebt, unter sich ein gatterförmiges Netz verspürend – und harte Rhythmen wie von extravagantem tap dance erfüllen die Luft.
Flugs wird auch mit dem Publikum in der ersten Reihe gespielt, es ist ja eine Urszene der aufwachenden Theaterwelt, die hier zugleich persifliert und geformt wird – aber im Nu ist dieser sinnenhafte Spuk schon vorbei.
Dafür erheben sich Teilebenen der Bühne, und in rasantem Tempo formieren sich darauf Blöcke und Einheiten von Tanzenden.
In der Mitte steht jetzt eine schiefe Ebene, ein Mann schleudert darauf seine Partnerin wie beim Eiskunstlauf um sich herum. Fast schmeist er sie herum. Aggression kommt auf. Allgemeine Hysterie macht sich breit.
Manches erinnert an Capoeira, den brasilianischen Kampftanz, manches an blinden Hass. Ganz schnell kippt diese energiegeladene Stimmung auf der Bühne in eine krasse Bereitschaft zu Gewalt, wir gegen euch, ich gegen dich, jeder gegen jeden, geht es dann. Das ewig Böse als ständig im Menschen schwelendes Element.
Getanzt wird das mit einer fast hypnotischen Hingabe, das Semperoper Ballett beweist mal wieder, dass es sich anscheinend aus lauter Alleskönnern zusammen setzt.
Es ist schon enorm, dass eine Compagnie, die aus klassisch ausgebildeten Tänzern besteht, derart toll loslassen kann und sich solchermaßen einer im Klassischen undenkbaren, völlig gelockerten Raserei hingibt.
Wie Schwärme, wie Tierhorden rasen zwei Gruppen von Tänzern über die Bühne, ekstatisch zucken ihre Leiber, sie springen, sie schlackern mit den Gliedmaßen, es ist wie eine Parodie auf „Le sacre du printemps“, und dennoch wirkt alles echt und authentisch und – tierisch. Irgendwie animalisch. Enthemmt. Bedrohlich. Explosiv. Die Masse wird zu einer Gefahr.
Später, auf der Premierenfeier, wird der kommissarische Intendant der Semperoper, Wolfgang Rothe, sagen, dass ihn das „fast Faschistoide“, das die Tänzer hier im Entwicklungsverlauf von „COW“ zeigen, besonders berührt hat. In der Tat: Ein so emphatisches, dennoch aufklärendes Körpertheater sieht man selten, und man schwankt zwischen Begeisterung und Befürchtung, man muss und soll sich mit den eigenen aufkommenden Mitläufergelüsten oder auch den Ängsten vor der Macht der aggressiven Masse auseinander setzen.
Umso erstaunlicher, dass es auf der Bühne zu keinem Massaker kommt.
Aber nach der Entladung in einem Höhepunkt kommt die tobende Menschenmenge zu Ruhe, die Spannung ebbt ab, Stille kehrt ein. Langsam und ohne Nachwehen gehen die Tänzer ab.
Und dann sind sie da: Adam und Eva, genannt „Stille / Das Paar“. Sie links, er rechts: Erst liegen sie, scheintot, dann erwachen sie, stehen auf, gehen aufeinander zu, langsam, ganz langsam. Sie wird schneller, er weicht nicht aus, und ganz ohne Musik entspinnt sich ein Paartanz, der zugleich harmlos und doch existenziell anmutet. Sangeun Lee und Christian Bauch tanzen hier in hautfarbenen Kostümen, ihre Seelen scheinen ebenfalls nackt. Mich erinnerte diese Szene an die große legendäre Liebe von Marina Abramovic und Ulay, die als bildende Künstler miteinander Performances und unerbittliche Verschmelzungen zelebrierten.
Da schlängeln Lee und Bauch die Arme umeinander, aber immer wieder zuckt es aggressiv in ihnen. Schamanisch wirken sie. Ein magisches Paar. Aber kein einfaches. Sie sind dank der Liebe aufgewacht, wie es das in einigen Versionen von „Le sacre du printemps“ gibt. Dieses Paar hier hat jetzt aber die höchste energetische Bereitschaft!
Das lockt den Rest der Horde an. Die Menschheit findet sich ein, springt herbei, rockt ab in einem großen Durcheinander. Man hüpft, man feiert, vermutlich ja den Frühling, und man steht in Gruppen herum. Fehlt bloß noch das Lagerfeuer. Oder eine Gitarre? Eine gezupfte Bratsche aus den Boxen verströmt ein fast bürgerliches Flair dazu. Kein Igor Strawinsky erschallt. Mikael Karlsson ironisiert statt dessen mit seiner Musik auch diese Szene.
Die Choreo aber scheint vieles jetzt sehr ernst zu nehmen. Man marschiert, in einer Reihe, man übt synchrone Gehbewegungen, man erinnert an den Gruppenzwang im Ashram, in Poona, in den 70er Jahren. Freiheit!
Schließlich wird klar: Hier wird auch „Le sacre du printemps“ von Maurice Béjart zitiert. Er wurde 1970 kreiert und galt lange als der ultimative, moderne „Sacre“. Bei Béjart spielt es eine große Rolle, dass die scheinbar nackte Urhorde ein Paar mustergültig kopulieren lässt.
So auch hier, wenn auch weniger drastisch sexuell, dafür umso aggressiver. Die scheinbar Nackten heben das Paar empor, bilden lebende Mauern, die sich aufeinander zubewegen, Kampfgeist und Lust kulminieren in einer öffentlich zelebrierten Sexualität.
Paare und andere Gruppen bilden sich. Man lacht dabei!
Man glaubt sich in einem Workshop in den 80er Jahre. Ein Vorturner lässt Übungen machen. Hahahahaha. Aber dann passiert ihm was. Er verletzt sich, symbolisch oder echt, er hält einen Arm hoch und scheint eine Art Rückenversteifung zu erleiden. Er kann sich nicht mehr normal bewegen. Hilfe! Er zappelt und grimassiert, die anderen haben Angst, kreischen, weichen zurück – vielleicht ist das ansteckend, was er da hat?
Schließlich hilft ihm jemand, einer, der sich damit als Heiler profiliert. Zack, zack, zack. Der Rücken ist wieder okay. Tusch! Sprung!
Der Heiler schnalzt mit der Zunge, bläst mit seinen Wangen aus der Mundhöhle Klickgeräusche. Es gibt Stämme in Afrika, die sich mit solchen Klickgeräuschen aus dem Mund verständigen. Klack, klock, kluck!
Aber der Heiler hier hat noch was anderes vor. Er hebt seinen Fuß und lässt die anderen das nachahmen. Aha. Er ist jetzt der Obermacker.
Zu sanften Streicherklängen entfaltet sich ein altbekanntes Muster: Eine Gruppe hat einen neuen Führer, huldigt ihm, passt sich an, ist froh, die Verantwortung für ihr Handeln los zu sein.
In weichen Wellenbewegungen entsteht ein kleines Glück, man kann sogar rückwärts gehen damit, gern mit einem erhobenen Arm, an den früheren Führer und seine Absetzung gleichermaßen erinnernd.
Jetzt kommen auch Adam und Eva wieder ins Spiel.
Sie strecken ihre Arme synchron aus, ihre Hände bewegen sich aufeinander zu. Aber es ist ein leises Abschiednehmen… Rückwärts streben sie auseinander, dabei scheint eine unsichtbare Macht sie noch zu verbinden. Jedoch… am Ende liegen sie wie Tote da, wie zu Beginn, sie links, er rechts. Elegisch-melancholisch ertönt die Streichermusik. Ende dieses Akts. Ist es nicht wie im Film? Oder wie im Ballett?
Aber so einfach macht Ekman es uns nicht.
Ein großes weißes Seidentuch wird durch die Luft gewirbelt und als Himmelszelt der Bühne installiert. In drei Wogen wabert es da oben, paradiesisch-surreal.
Das Zeltdach, ein wenig Musik und viel gleißend helles Licht – romantisch zirpen die Geigen, und romantisch in einem modernen Sinn ist auch diese Szene, die nur den Technikern gehört und keinem Tänzer.
Das darf auch mal sein – und es erinnert zudem an Robert Wilson, der nicht nur als Regisseur eines pantomimisch-gestischen Minimalismus, sondern auch als bildender Künstler tätig ist. Da öffnen sich Türen wie von Geisterhand, Licht, Schatten, Winkel bilden Linien, die als Kunstwerk ausgedeutet werden wollen. Höchst poetisch ist das, und eine gewisse solche Poesie verströmt auch hier die kleine Pause vom Tanz, in der ein weiß wogendes Zeltdach der Hauptdarsteller ist.
Dann spricht die Kuh. Aus dem Off kommt Christian Bauchs Stimme, und er sucht die Worte, während er spricht. Er hätte, um sich zu helfen, so viele kleine Bilder im Kopf, ja und es wäre wohl das Beste, auch mal Kühe zu beobachten. Das sei ein guter Anfang. In der Stadt sei das aber schwierig, man müsse sich an die Bilder halten, die man schon im Kopf habe. Dass das oft dumme Werbebilder à la Milka-Schokozeugs sind, sag er nicht. Aber plötzlich sitzen wir im Kino, ein Schwarz-weiß-Film läuft, auf den Vorhang projeziert, und der Bauch spricht über seine Rolle, die auf dem Besetzungszettel „Regeln / Kuh“ heißt.
Bauch ist hier das Maß aller Dinge, er gibt die Regeln vor, die Spielregeln. Kuhsein. Kühe beobachten. Raus also, auf die Weide!
„Ich möchte selber eine Kuh werden.“ Da muss man als Künstler erstmal hinkommen. „Welche Gedanken hat eine Kuh?“ Was für eine Frage!
T. M. Rives hat sensibel mit der Filmkamera diesen Film-im-Ballett geschaffen. Natürlich ist es eine Doku, aber viele Schnitte und Perspektiven sind ungewöhnlich und spiegeln die experimentelle Herangehensweise – ohne modisches Gewackel oder krasse Unter- und Überbelichtungen.
Am Wasser, in den Wiesen… Die Kamera fährt nah heran. Christian Bauch auf allen Vieren… er watschelt mit durchgedrücktem Kreuz… er übt den Kuhgang, das Kuhsein. Er will natürlich sein als Kuh.
Also vermutlich eher keine von diesen allseits bekannten Partykühen, die am liebsten verleugnen würden, dass sie Kühe sind.
Courtney Richardson, die Tänzerin, die man noch gut als Isolde („Tristan + Isolde“ von David Dawson) vor dem inneren Auge hat, taucht. Sie hat einen Taucheranzug an, es ist Winter, es ist kalt. Sie übt mit Ästen auf dem Kopf, die wie ein Geweih aussehen, für ihre Rolle als Hirschkuh. Doch dazu später.
„It’s just a mental exercise“, sagt Bauch. Man mag nicht wirklich widersprechen. Aber man kichert, das kann man sich einfach nicht mehr verkneifen. Überhaupt schwappt hier in der Aufführung oftmals so eine köstlich alberne, kichernde Stimmung hoch. Macht eben einfach Spaß, diese komplizierte „COW“.
Mit den deprimierenden, in Alkohol eingelegten Tierpräparaten der Millenniumswende eines Damien Hirst hat Ekmans Werk jedenfalls nichts zu tun, und auch mit den gelben Kühen von Franz Marc, dem sein Aufbruchsgeist einen frühen Tod in den Gräben von Verdun im Ersten Weltkrieg bescherte, kommt man hier nicht viel weiter. Vielleicht fehlt dem Choreograf auch einfach der Bezug zur bildenden Kunst. Das wäre – leider – keine Seltenheit im heutigen Theaterbetrieb.
„Kuh! Kuh!“ Es gibt aber, im Film, nach einigen Ballettsaalproben, auch Bühnenproben. „To be in the herd.“ In der Herde sein. Bauch schließlich ganz beglückt: „Ich bin eine freie Kuh!“ Er fühle sich so wohl in der Gruppe der anderen Kühe.
Aber er ist nicht gezwungen, bei ihnen zu stehen. Er darf sich entfernen. Ein paar Meter. Gibt es überhaupt freie Kühe?
Alexander Ekman probt mit den Tänzern. Diese sollen nicht daran denken, dass sie die Kuh tanzen. Einfach Kuh sein, heißt das Motto. Schon bei George Balanchine in New York wurde immerzu gepredigt: to be, not to play. Sein, nicht spielen.
Die Herde kommt in Fahrt. Auf allen vieren stürmen sie durch den Raum, raus ins backstage, weiter ins Treppenhaus, durch die Gänge… es ist eine Invasion der Menschenkühe… wie in einem surrealen Film oder wie bei Eugène Ionesco, in einem noch unbekannten Stück von ihm. „Die Kühe“ heißt es natürlich, in Anlehnung an „Die Nashörner“.
Fazit: „Es macht Spaß, mit dieser Existenzform zu spielen.“ Ja, aber sind wir nicht sowieso alle Kühe? Und ahnten wir das nicht schon?
Raus aus dem Opernhaus! Die Kühe strömen also in die weite Welt hinaus…
„Ist die Kuh ein Einzelgänger?“, wird da philosophisch-kritisch nachgefragt.
Wer weiß.
Es folgt ein plötzlicher Wechsel der Perspektive, des Motivs. Ein Blick geht aus dem Flugzeug aufs grüne Land. Aufs mutmaßlich grüne Land. Denn es ist ja ein Schwarz-weiß-Film.
Da ist sie, die Kuh! Im Stall. Ihr Atem ist ein weißer Dampf. Tapfer sieht sie aus, die Kuh, und lieb. So lieb. So aufmerksam. Sie macht nicht muh, aber sie beobachtet. Sie fühlt sich nicht allein. Sie erzählt nicht, dass sie noch sehr jung ist und noch nicht erlebt hat wie das ist, was andere Kühe am laufenden Band durchmachen. Sie bekommen nämlich Kälber, die sie sehr lieben, die man ihnen aber wegnimmt und die man schlachtet, damit man aus der Milch der Kuh Käse und Joghurt für den Verkauf machen kann. Die Kühe brüllen jedes Mal vor Verlustschmerz, wenn sie plötzlich ihr Kalb nicht mehr bei sich haben. Und sie hoffen bei jeder neuen Geburt, dass sie ihr Kalb dieses Mal behalten können. Zumindest rechnen sie nicht damit, es wieder verlieren zu müssen. Aber das rührt die Menschheit meistens nicht. Alexander Ekman leider auch nicht. Und auch Christian Bauch fragt nach so etwas lieber nicht. Ihn interessiert nur: Ist er auch genügend Kuh?
Dann steht sie, wie schön für sie, auf der Weide, diese Kuh. Hinterm niedrigen Elektrozaun. Sie ist intelligent, die Kuh, sie berührt den Zaun nicht. Vor dem Zaun steht, auch intelligent, auch auf allen Vieren: Christian Bauch. Auch er ist, natürlich, eine Kuh. Er schaut zu ihr auf. Lieb. Beobachtend. Fast grüblerisch. Er ist nicht allein. Er hat die Kuh. Nur der dünne Zaun trennt sie noch…
Das seien die wahren Gefühle einer Kuh, versichert der Tänzer: „einfach zufrieden sein“. Er meint, dass die Ansprüche einer Kuh nicht so hoch sind, wenn das Futter gut ist. Aber das sagt er so nicht. Ihm geht es um den Gefühlsausdruck, nicht um das Gefühl. Aber auch das sagt er nicht.
Auf deutsch zu erklären, worum es ihm geht, fällt ihm aber zunehmend schwer, auf einmal möchte er lieber englisch reden… ach, und überhaupt… „The question was?“ Christian Bauch, kurz vorm Aufgeben.
Wieder ist ein Akt vorbei. Schade. Schön war’s. Wenn auch inhaltlich lückenhaft, für meinen Geschmack. Aber weiter geht’s.
„COW“ steht auf roter Folie da, wo sich sonst der Vorhang befindet. Die Musik dröhnt dieses Mal.
Das Ensemble tanzt im Orchestergraben, bei Rotlicht, und die Tänzer tragen dazu Zwitter aus Hüten und Perücken auf den Köpfen. Himbeerrote Haare umfransen dieses länglich aufstrebende Hutmodell. Ein wirklich ausgefallenes Stück Mode. Yeah!
Sie tauchen auf, dank Bühnentechnik – und in nudefarbener Kleidung tanzen sie auf massiven Holzplateaus mit im Profil eingekerbtem Absatz. Auch das sehr originell. Vor allem aber macht das Stampfen mit diesen Schuhen genau jene tap-dance-Geräusche, die wir vorhin schon mal gehört hatten. Ah, das also ist ihre Machart!
Wir erleben die totale Persiflage auf das Thema „Revue“, Riverdance inklusive. Ha! Es wird gesteppt, bis der Bär kommt, sozusagen. Es wird gebrüllt. Zwei Dutzend Tänzer üben was? Egal. Revue. Hauptsache: schrill. Immer wieder kommen sie in einer Reihe mit ihrem Mordslärm von den Schuhen nach vorne gesteppt und verharren, „ha!“, an der Rampe in einer Pose. „Ha!“
Schließlich werden sie runtergefahren, in den Orchestergraben. Weg sind sie. Besser so. Wo ist die Kuh? Da, da, da! Auf der Bühne! Es ist die Hirschkuh! Courtney Richardson persifliert die Hirschkuh aus Angelin Preljocajs „Schneewittchen“-Ballett. Die Hirschkuh macht eckige Bewegungen, sie ist weiß, bildschön, trägt Spitzenschuhe und auf dem Kopf ein prächtiges Geweih. In „Schneewittchen“ wird sie nach ihrem Solo erschossen, ihr Herz rettet der Titelfigur das Leben, weil es vom Jäger als Schneewittchens Herz ausgegeben wird und der bösen Stiefmutter überreicht wird. Ich habe jedes Mal geweint, wenn ich das Stück gesehen habe.
Hier darf die Hirschkuh weiter leben. Hier gibt es nämlich kein Schneewittchen. Hier gibt es auch keine Tränen. Also hat die Hirschkuh – die auf dem Besetzungszettel „Fnerf“ heißt – ein richtig großes, langes, schönes, aber etwas sinnloses Solo.
In eckigen Bewegungen, auf Spitzenschuhen, tanzt sie – und Courtneys schöne Ballerinenfüße machen trotz der Sinnleere ein kleines Fest des Tanzens daraus.
Aus den Boxen erschallt dazu das Röhren eines brünftigen Hirschen. Hier allerdings gibt es keine Naturalismen auf der Bühne. Das Röhren ist ein Synthi-Sound.
Aber dann! Dann bekommt der Ballettomane, der sich aus Neugier und Aufgeschlossenheit hierher traute, einen überraschenden Bonus zu sehen.
Für mich ist es der heimliche Höhepunkt des Abends: „Deux“, die beiden, sind Svetlana Gileva und Denis Veginy, und sie tanzen einen wunderhübschen, formvollendeten, klassisch-modernen Pas de deux. Man denkt an David Dawson, an Christopher Wheeldon, an John Neumeier, an George Balanchine. Aber auch dieses Stück hier stammt von Alexander Ekman, der virtuos die Stile mixt und zitiert.
Zu Beginn kichert, fiept und piepst Sveta mit ihrem Ballerinensopran hinter der jetzt nicht mehr als Zeltdach, sondern am Bühnenhorizont flatternden weißen Stoffflut. Die Tänzerin durchstößt sie schließlich – und taucht in einem schwarzen Tutu über einem weiten schwarzen Hosenrock in Spitzenschuhen auf. Ah! Hinter ihr gleich ihr Partner Denis – auch er in Schwarz, mit flatterndem Beinkleid, auch er ein originelles Beispiel für neue Mode im Balletttanz.
Wie er sie leitet, hebt, führt, dreht, ist einzigartig. Die beiden verströmen den Charme des verliebten neoklassischen Balletts, in neuartige Formen gegossen. Da ist das Miteinander viel enger, viel unmittelbarer als sonst. Da ist kein Zwang zur Pose, sondern die Ruhepunkte scheinen sich fast zufällig zu ergeben. Häufig überkreuzen sich die Arme, damit sich die Hände fassen können. Ein Penché ist hier umso schöner, desto weniger es dramatisch präsentiert wird. Weich und fließend und sehr charmant ist der Ausdruck dieses Liebestanzes – Pathos wäre hier hingegen völlig unangebracht. Entsprechend die Musik: ein Cello ertönt mit sanftmütigen Vibrationen. Ganz sanft setzt Veginy seine Dame schließlich ab, stellt sie vor sich hin.
Es rumpelt im Hintergrund. Christian Bauch, die Kuh, steht mit durchgedrücktem Rücken da und staunt. Er ist vielleicht eine äthiopische Kuh oder eine afrikanische, denn die haben diese stark durchhängenden Rücken, während die meisten deutschen Flachland- oder Almenkühe doch eher sehr rundlich und rückengerade gebaut sind. Jedenfalls ist Kuh wieder mal neugierig. Und stört kein bisschen.
Der ironische Bruch der Romantik ist hingegen deutlich!
Und schon vollendet die Bühnentechnik das Werk der radikalen Szenenveränderung. Die Bühne geht hinten hoch, eine Schiefebene entsteht. Christian, die Kuh, taumelt bergab, rollt wie ein Vierbeiner mit weggestreckten Gliedmaßen hinab. Uff. Muh. Applaus für wohlbehaltenes Untenankommen. Sowas gibt es auch im Leben. Nicht nur einer Kuh.
Ach, und es gibt wieder eine Chaos-des-modernen-Menschen-Szene. Das Ensemble taucht auf, wie aus dem Nichts, als sich die Schräge wieder gesenkt hat. In schwarzen Outfits mit knallroten Klebebandrollen in der Hand machen sie sich wichtig, diese aufstrebenden Mode-Yuppies. Sie kleben Linien auf den Boden, Markierungen für ihre Pläne, für ihre Terrains.
Ein Exkurs: In Indien, dem hoch religiösen Land der heiligen Kühe, in dem am dichtesten bevölkerten Land der Erde, das entsprechend die höchste menschliche Sterbequote hat, ist „Mein Kampf“ von Adolf Hitler derzeit ein Bestseller. Nicht etwa aus Gründen der Aufklärung über die Judenverfolgung. Sondern man empfiehlt das Buch Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur angeblichen Persönlichkeitsreifung, vor allem, wenn sie Führungskräfte werden wollen oder sind. Von Hitler könne man lernen, wie man einen Plan fasse und ihn durchsetze, und außerdem, so sagen befragte akademische Inder, sei es wichtig, alles Schwache gleich von Anfang an auszumerzen. Kapitalismus und Faschismus in harmonischer globalisierter Eintracht. Das kann der Kuh nicht Recht sein. Obwohl: Dann könnte man doch die gesamt Pegida-Bewegung plus AfD-Wählerschaft nach Indien locken, oder? Wäre man sie dann los, liebe Kuh, was meinst du?
Leider wird sie im Stück dazu nicht befragt, denn – und das ist der Schwachpunkt dieses ansonsten hervorragenden, brillanten Stück Ballett-Theaters – politisch hält man sich ganz und gar heraus. Es gibt keinen einzigen Appell in Richtung Tierschutz, obwohl der angesichts absurd hoher Mengen Tierfleisch, die von Menschen verzehrt werden, beim Thema „COW“ wirklich überfällig wäre. Aber auch Schlachthöfe muss man sich ebenfalls selbst dazu denken, wenn man sie kritisieren will.
Leo Tolstoi sagte: „Solange es Schlachthäuser gibt, solange wird es Kriege geben.“ Und der russische Dichter war nicht mal Vegetarier.
Kühe gibt es bei uns nur als Nutztier. Dazu wurden sie gezüchtet. Sie werden ausgebeutet bis in den Tod. Wie Schweine, Hühner, aber auch wie Laborhunde. In Berlin entsteht gerade das größte Tierversuchslabor Europas. Über 90 Prozent aller Tierversuche sind im Grunde völlig überflüssig, sagen Experten. Auch das meiste Fleischessen ist eher ungesund als nur nahrhaft. Manche Schlachthöfe in Brandenburg töten dennoch täglich über 30 000 Tiere. Kann das gut gehen? Niemand kann das bejahen, wenn der Verstand genügend eingesetzt wird.
Viele Krankheiten der Menschen wären im übrigen weitestgehend vermeidbar, wenn deutlich weniger oder gar kein Fleisch gegessen würde. Auch dem Umweltschutz wäre viel geholfen, wenn nicht diese immensen Tierfuttermittel angebaut und fabriziert würden und dafür massenhaft Regenwälder abgeholzt würden. Die Methangase der Rinder schädigen wiederum auch die Umwelt – aber in Argentinien ist Fleischessen sozusagen Folklore. Der Islam hingegen kennt, ähnlich wie China, so gut wie gar keinen Tierschutz. Lebenden Schafen werden, während sie geschächtet werden, die Füße abgeschnitten. Lammfleisch ist ja so delikat.
Allergiker, Rheumatiker, Diabetiker, Nierenkranke, Darmkranke, Übergewichtige und Herzkranke bemerken hingegen immer öfter, dass eine gesunde sprich fleischarme oder fleischlose Ernährung (je nach Erkrankung) ihnen sehr viel hilft. Die wissenschaftlichen Nachweise über die Gründe liegen im übrigen vor, auch wenn viele Ärzte hier Bildungsdefizite haben. Meist sind es Säuren wie die Arachidonsäure, die bei der Verstoffwechselung von tierischem Fett und Fleisch im verdauenden Körper des Menschen entstehen, die solche Krankheitsentwicklungen fördern.
Der häufige Verzehr von Milchprodukten bewirkt bei Erwachsenen hingegen eine Störung des Kalzium- und Magnesiumhaushalts, was aber auch niemand so richtig wahrhaben will. Oder doch: Die Industrie verdient daran, wenn dann Kalzium und Magnesium in Tablettenform zusätzlich gekauft und verkonsumiert werden.
Naja, aber soweit will hier im Theater niemand mitdenken, Tanztheater soll Spaß machen und Freude evozieren und zum Lachen und Träumen anregen, und die Realität ist dafür zu brisant, man lässt sie offenbar lieber draußen.
Ein Hauch wie aus einem Werk von Christoph Schlingensief fehlt hier: Künstler, die immer nur den Schwanz einziehen, wenn’s ernst wird, gibt es schon genügend. Beim Thema „Cow“ ist Tierschutz fällig – meinungslos einfach nur das „Muh“ in vielen Variationen loszuwerden, ist unterm Strich dann doch zu wenig.
Solche Kritik trifft indes nicht wenige Choreografen, die sich von öffentlichen und Sponsorengeldern mit sehr hoch dotierten Lizenzgeldern füttern lassen und die, in diesem Karussell der internationalen Auftragsvergaben obenauf sitzend, nicht einen Cent davon riskieren wollen. Niemand kreiert ein Ballett nur noch für die Resonanz vor Ort. Man will in alle Welt verkaufen, möglichst viel an Geldern international einnehmen – und leider sind auch Künstler zumeist nicht frei von Geldgier.
Wer eine Meinung hat und diese sagt, riskiert hingegen was. Für den Verkauf ist das meinungslose bunte Zeugs immer das Beste. Dabei ist gerade heute, da die Werbefluten die Menschen vom Umgang mit Kritik entwöhnen, selbige besonders wichtig.
Es ist darum wichtiger denn je, dass die Meinungsfreiheit auch für die Künstler gilt – und von diesen deutlich praktiziert wird. Die Freiheit der Künste ist in Deutschland denn auch grundgesetzlich garantiert, da ist viel Spielraum – und auch, wenn Ekman und andere Choreografen die internationalen Lizenzgelder im Blick haben, so sind sie es ihrem Publikum schuldig, mehr als nur Bilder ohne Botschaft zu zeigen.
So sieht man hier zwar eine Liebeserklärung an die Kuh, aber selbige ist und bleibt ein Symbol für alles und nichts, ein Symbol fürs Menschsein, fürs Freisein, für den Ursprung – und fürs Tänzersein.
Es wird ausgeblendet, wohin die Kuh für uns geht, wenn der Vorhang gefallen ist: nämlich in einen durchaus grausamen Tod im Schlachthaus nach einem zumeist ebenfalls ziemlich grausamen Leben in der Massentierhaltung.
Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Alexander Ekman, der große Spötter, beim Thema Kuh den Kopf in den Sand steckt. Er blendet aus, was hier am brisantesten zu benennen wäre – und schickt das Publikum ohne Aufklärung nach Hause.
Leider hat auch die Ballettdramaturgin Valeska Stern hier nicht den Mut gehabt, entsprechendes Material ins Programmheft aufzunehmen. Steak bleibt Steak, in Dresden. Da will man wohl niemanden abschrecken.
Es hilft der Kuh dann wenig, wenn auf der Bühne die Verbürgerlichung von Kunst persifliert wird. Da werden eine Stehleuchte und ein Tischchen und in Folge weitere Tische mit Stühlen auf die Bühne gebracht – und Kerzen.
Die Leuchtkraft der Kerzen aus roten Gefäßen erinnert an das soeben in Berlin premierte Stück „Herrumbre“ von Nacho Duato, das ebenfalls am Ende stillen Kerzenschein aus roten Gefäßen präsentiert. Hat da jemand abgeguckt – und nicht nur wieder grob zitiert?
Alexander Ekman muss sich diese beiden Vorwürfe machen lassen, sich erstens um eine Kernaussage zu drücken und zweitens außerdem wahllos Versatzstücke anderer Choreografenwerke sinnlos für sich zu benutzen.
Immerhin aber ist sein jüngstes Werk ein Ausbund an lustvoll-exotischer, durchaus reich assoziierender Theaterkunst. Einen besonderen Clou gibt es dann noch am Schluss, den ich hier aber nicht verraten möchte – also auf in die Semperoper, um das Kuhsein zumindest in Gedanken mitzuüben. Davor oder danach aber sollte das Geld, das man sonst für einen Besuch im Steakhouse ausgibt, in ein veganes oder vegetarisches Kochbuch investiert werden… oder ersatzweise dem Tierschutz gespendet werden. Ehrlich gesagt, ich fände es sogar famos, wenn die Semperoper, wenn sie dieses Stück spielt, Sammelbüchsen für Tierschutzspenden oder zu Gunsten eines Kinderbauernhofs aufstellen könnte. Auch Nutztiere brauchen nämlich Schutz – erst recht dann, wenn sie mal gerade nicht als tiefsinniges Symbol im Kunstbetrieb gesehen werden.
Gisela Sonnenburg
P.S.
Rebecca Gladstone, gerade auch von mir hoch geschätzte Ballettmeisterin vom Semperoper Ballett, hat sich entschieden, künftig freiberuflich zu arbeiten – in Dresden wird sie nur noch zum Beispiel bei der Vorbereitung der „Manon“-Aufführungen wieder mit dabei sein. Ansonsten genießen Choreografen wie David Dawson ihre hilfreiche Hand beim Coachen in aller Welt. Rebecca, alle Fans vom Semperoper Ballett werden Dich vermissen, wir rufen Dir ein „Hey, come back, we’ll wait for you!“ hinterher… und wünschen Dir ganz, ganz viel Erfolg auf Deinen neuen Wegen. Mut und Bravour hast Du ja schon!
bj
Termine von „COW“: siehe „Spielplan“
Anregende Lektüre, die Alexander Ekman aber nicht kannte, ist das Buch des Berliner Autoren Florian Werner: „Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung“