Wer den ersten Stein nicht wirft Mit „Messias“ von John Neumeier präsentiert sich das Hamburg Ballett nach Gastspielen in zwei Kontinenten wieder daheim: brillanter den je, mit einem Stück, das in der Neubesetzung noch gewinnt

Liebe, Zweifel, Zivilisation - Neumeier fährt die großen Themen auf.

Marc Jubete (rechts) inmitten der virtuosen Neubesetzung von „Messias“ beim Hamburg Ballett. Foto von diesem Jahr: Kiran West

Es gibt wohl nichts Besseres, als zu den Feiertagen in ein Ballett von John Neumeier zu gehen. Das Erhabene, das Weihevolle, aber auch das Menschliche und nicht zuletzt das Erotische in seinem Werk wirken beflügelnd und beschwingend – und lassen einen die Probleme des Alltags nicht nur vergessen, sondern manchmal, durch eine Reinigung und Erhellung der Seele und des Geistes, sogar lösen. So sagte mir eine gebürtige Inderin, sie gehe deshalb so gern in Neumeier-Stücke, weil sie gut für ihr Karma sind. Man sollte von daher auch seine sakral inspirierten Stücke nicht auf die die eine oder andere Religion festlegen. Toleranz ist da sehr viel im Leben wert! Der „Messias“ jedenfalls hat unbedingt eine solchermaßen multikulturell  läuternde Wirkung – eine kathartische Sauna für jedes Gemüt, sozusagen. Fürs Hamburg Ballett waren die jüngsten Aufführungen zudem so eine Art Wiederankommen im heimischen Gefilde.

Nach wochenlangen Gastspielen mit anderen Neumeier-Kreationen wie der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, „Othello“, „Liliom“ und „Ein Sommernachtstraum“, die das Hamburg Ballett unter großem Erfolg in den USA und in Asien darbot, tanzt es jetzt wieder regelmäßig für sein  Publikum in der Alster-Metropole. Der „Messias“ war hier zu den Osterfesttagen natürlich besonders geeignet, ein Coming home mit Standing Ovations zu zelebrieren – auch wenn oder weil die christliche Thematik nur eine Ebene dieses vielschichtigen Balletts ausmacht.

Liebe, Zweifel, Zivilisation - Neumeier fährt die großen Themen auf.

Das Programmheft zu „Messias“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett zeigt Fotos der Besetzung von 2014 – und stimmt immer wieder auf die Aufführung mit Fotos von Holger Badekow ein, während der neue Fotograf vom Hamburg Ballett sein ehemaliger Tänzer Kiran West ist. Damit hat man einen schönen Vergleich in jeder Hinsicht. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ein tiefes, aber nicht dunkles Blau erfüllt die Bühne. Man darf an den bildenden Künstler Yves Klein denken, aber nicht an die plakative Leuchtkraft seiner Werke. Das Bühnenbild – ein Kreis aus mittelgroßen Steinen um die gesamte Tanzfläche sowie eine Schräge in der Bühnenmitte mit einem toten Baum dahinter und, im zweiten Teil des Balletts, ein Spiegel darüber – stammt von Ferdinand Wögerbauer, dem begabten Österreicher, der mit Neumeier auch Ballette wie „Liliom“ gestemmt hat. Dass die Kulissen des „Messias“ so spartanisch-asketisch einher kommen, liegt am Choreografen – der verlangte, ein einer Art Eingebung, während der Schöpfungsphase 1999 eine Reduktion auf die Schräge, den Spiegel und den Steinkreis.

Anfang und Ende des Balletts sind denn auch einem symbolhaft steinigen Weg der menschlichen Würde gewidmet. Nicht Händels „Messias“, der das eigentliche Stück bestimmt, sondern Musik von Arvo Pärt erklingt dazu. Doch das Vorspiel findet sogar ganz ohne musikalische Vorlage, in aller Stille statt: Zwei Gestalten, ein Mann (Aleix Martínez) und eine Frau (Carolina Agüero), rollen die Schräge hinab. Erst als sie unten sind, setzt der Gesang ein, „Veni, Sancte Spiritus“ aus der „Berliner Messe“ (1990/92) von Arvo Pärt. Zart, zirpend wirkt das, obwohl zuerst nur der Männerchor singt, bis dann auch die Frauen das Heilige am Geist beschwören.

Man muss bei dieser Gelegenheit sagen, dass der Chor der Hamburgischen Staatsoper und das Philharmonische Staatsorchester unter Alessandro De Marchi die filigran feinen, aber auch aufwühlenden Klänge des Abends ganz ausgezeichnet meistern; ob Pärt oder ob Händel, die elegante Innigkeit beider Musiken kommt bei dieser akustischen Behandlung so lieblich-melodiös wie eben auch tänzerisch geeignet zum Tragen.

Den Gesangssolisten, allen voran der Altistin Rebecca Jo Loeb, sei ebenfalls gedankt, denn ohne ihre hervorragenden Stimmen und ihre sichere Art, auch mit den Tänzern zu kommunizieren, wäre das Gesamterlebnis „Messias“ so nicht möglich.

Aber natürlich umfängt einen vor allem die Choreografie von John Neumeier mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, mit einer Selbstskepsis und einer Liebe, die nur ihm zu eigen ist. Als sein Publikum darf man sich verwöhnt wähnen von einer exquisiten, auf den Punkt gebrachten Tanzkunst, deren schöpferische Kraft immer wieder alles übertrifft, was ich sonst zu deuten wage.

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Aleix Martínez und Carolina Agüero auf der Schräge: Pas de deux von großer Stille und Reife, vorab sogar ganz ohne Musik, in „Messias“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Der junge, aber bereits versierte Neumeier-Tänzer Aleix Martínez in der Hauptrolle tanzt dieses Flair mit brillanter Hingabe, er ist in jeder Sekunde ein Mensch gewordener Messias – manchmal ist es auch ein Messias gewordener Mensch – und es gibt keinen Zweifel daran, dass Martínez so etwas wie eine Optimalbesetzung ist. Das Zappeln, das Sichstrecken, das Blitzschnell-die-Schräge-hinauf-Laufen, das grüblerische Hocken, das tatkräftige In-den-Luft-Spagat gehen, auch das Tragen der Partnerin, und zwar in verschiedenen Verbiegungen und Posen, absolviert Martínez, als sei all das eine Leichtigkeit.

Carolina Agüero tanzt dazu den weiblichen Hauptpart ebenfalls leidenschaftlich und präzise, mit einer gewissen weiblichen Ungeduld und einem herzhaften Drängen im Ausdruck (was wunderbar als Ergänzung zu dem geduldig leidenden Martínez passt). Ihre hier wuschelige Haarpracht ergänzt zudem diese Anmutung des Naturhaft-Intensiven, die zu ihren bildschönen, akkuraten Spitzenschuh-Attitüden einen sehr reizvollen Kontrast bildet.

Xue Lin (anstelle der heutigen Choreografin Yuka Oishi, die diesen Part 2014 und 2015 tanzte) wirkt dann mit sehr schön eigenwillig-modernen, aber zugleich auch mitreißend-klaren Linien eine mädchenhaft-sportive Partie, die ihren Hauch Androgynität gut verträgt. Wenn sie springt, ist sie eins mit der Musik, wenn sie Freude oder Trauer darstellt, ist sie – trotz asiatischer Dezenz – so glaubhaft wie eine Vollblutschauspielerin. Auch in den Pas de deux und Pas de trois ist Xue Lin, mit ihrer Ausstrahlungskraft, eine Augenweide!

Mittlerweile sind wir musikalisch übrigens bei Georg Friedrich Händel angelangt, der seinen „Messias“ als Oratorium im April 1742 uraufführen ließ. Zugrunde liegen Texte aus der Bibel, die wie Lyrikpartikel zusammengestellt sind. Insgesamt geht es um ein messianisches Verständnis des Lebens, also um die heilsgeschichtliche Erwartung, dass alles ein gutes Ende finden wird, so verwegen dieses Zutrauen angesichts der bestehenden Probleme auch manchmal anmuten mag. Da aber viele „Messiah“-Textstellen (im englischen Original) dem Alten Testament entstammen und hier benutzt werden, um das Leben und Leiden Christi im Neuen Testament zu schildern, darf man auch von einer über geschichtliche Zeiträume hinweg greifenden Werkinnovation sprechen.

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Ein Blick in das vorzügliche Programmheft zu „Messias“ von John Neumeier zeigt auch einen Blick aufs Original des Librettos zum englischen „Messiah“ von Händel, von dessen „Freizeit-Dramaturgen“ Charles Jennens verfasst. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Händel hatte für dieTextcollage und sogar für die darauf gebaute Idee zum Oratorium den Librettisten Charles Jennens an der Hand, der zugleich ein reicher Großgrundbesitzer und sozusagen ein Mäzen der Künste war. Jennens ging es nicht ums Geld, wenn er ein Libretto für ein musikalisches Werk schuf, sondern darum, dass dieses Werk kreiert und verstanden werde. Er war sozusagen ein Dramaturg in eigenem Auftrag für die Musikliebhaber seiner Zeit.

Auch John Neumeier hatte dramaturgische Hilfe und Anregung für den „Messias“ nötig. Seine damalige Dramaturgin, die kluge Angela Dauber, Jahrgang 1946, die in den 90er Jahren bereits über reichhaltige Erfahrungen als studierte Theaterwissenschaftlerin und Ballettdramaturgin verfügte, schlug ihm den „Messias“ vor, als Neumeier auf der Suche nach einem neuen, für ihn inspirierenden Stückthema war: „ ‚Messias’, ja, das müssen Sie machen!“, fand Dauber spontan. Denn die „Matthäus-Passion“ von Bach, „Magnificat“ (ebenfalls nach Musik von Bach) und das „Requiem“ (von Mozart, um Gregorianische Gesänge erweitert) hatte Neumeier bereits seit den frühen 80er Jahren zu Balletten gemacht. Dass der Ballettchef Dauber gleich am nächsten Tag nach ihrer Intuition darauf  ansprach, zeigt, dass die Musik von Händel, die er sich nächtens angehört hatte, ihm zu denken gab. Allerdings befand der geniale Ballettschöpfer die Klänge zunächst für „untanzbar“, was sich bei mehrmaligem Hören und Beschäftigen mit dem Thema aber gab.

Das sei auch Ballettfans immer wieder eine Mahnung, nicht aufzugeben, wenn ein Stück einen zunächst nicht ganz erreicht. Es kann einen enorm beglücken, wenn man sich auch scheinbar schwierige Kunst Schritt für Schritt erobert, sie sich durch ein analytisches Verständnis oder auch durch Empathie und Emotion geistig aneignet.

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Ein Ausschnitt aus dem ersten Bild in diesem Beitrag zu „Messias“ beim Hamburg Ballett macht’s nochmal sichtbarer: Marc Jubete tanzt voller Willenskraft zu Ausdruck und Schönheit. Foto (Ausschnitt) : Kiran West

Allerdings: Wenn man Marc Jubete in „Messias“ tanzen sieht, dann hat man höchstwahrscheinlich gar keine Probleme mehr damit, das Stück zu verstehen oder zumindest ausgiebig zu befragen. Geschmeidig, dennoch voll Spannung im Körper, leichtfüßig, dennoch tiefsinnig und mit Temperament gestaltet er die Gesten, Sprünge und Drehkombinationen. Und wenn er in bestimmte Posen geht, die vielleicht typisch sind für eine Figur, die sich aufbäumen und mächtiger werden möchte, für jemanden, der wachsen und sich entwickeln möchte, dann ist es eine Herzenslust, dabei zuzusehen.

Es geht hier ums Menschliche, das ist dann klar, um Zweifel und um Hoffnung, um Sehnsucht nach Liebe und Geliebtwerden, aber auch um die Fähigkeit, allein vor sich und seinen Werten bestehen zu können. Und bei Jubete stimmt einfach jeder Bewegung und jeder Tanz gewordene Atemzug, um das zu vermitteln. Bravo!

Man muss es ihm schon sehr gönnen, sollte er am Ende dieser Saison befördert werden (derzeit ist er noch Gruppentänzer). Und auch den Dr.-Wilhelm-Oberdörffer-Preis (den Förderpreis der Hamburgischen Staatsoper) wünscht man ihm einmal mehr. Dass Jubete den Jesus in John Neumeiers auch bald wieder auf dem Hamburger Spielplan stehenden „Matthäus-Passion“ tanzen wird (ab 24. April 2016), ist mehr als wahrscheinlich, und auch darauf darf man sich selbstverständlich freuen.

Patricia Friza tanzt nun die vierte bedeutende Partie im „Messias“, zusammen mit Martínez, Jubete und Agüero. Aus der Babypause zurück gekommen, steht sie anstelle der verletzten Anna Laudere (gute Besserung!) auf der Bühne. Friza ist, auch wenn ihre Mutter Lilli Scheuermann eine sehr bekannte Wiener Primaballerina war, selbst keine auf den ersten Blick Begeisterungsstürme auslösende Tänzerin, aber sie hat in manchen  Momenten eine ganz große, eindringlich und sympathisch wirkende poetische Kraft. Im „Messias“ hebt sie mitunter die Hand, als könne sie damit Engelsscharen bewegen, und ihre Figur hat in der drehenden Bewegung einen so großen Charme, wie ich es selten bei einer modernen Ballerina erlebt habe.

Weiterhin hervorzuheben ist Emilie Mazon, die junge Stürmerin vom Hamburg Ballett, die feingliedrig und elegant, mit vollendeter Kunstfertigkeit und doch stets spontan wirkender Seligkeit ihr Fluidum versprüht. Sie ist auch in dieser Saison der absolute Hingucker unter den Ballerinen, und nur Neider können ihr das große Talent wie auch bereits errungene Meisterschaft absprechen wollen.

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Es gibt in diesem sakral inspirierten Stück von Neumeier auch Anklänge, Rückgriffe und Zitate bezüglich der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier, die dieser 1981 schuf. Foto von „Messias“ 2016 mit Aleix Martínez (vorn links stehend): Kiran West

Der schöne, große Jacopo Bellussi (der Ostersonntag glatt auch noch Geburtstag hatte, von hier aus: herzlichen Glückwunsch!) und der supergut trainierte, kleinere Emanuel Amuchástegui zeigen sich bestens aufgelegt. Sie vermögen mit Verve einen akrobatisch inspirierten Paartanz zu zeigen, der an Intensität und Lebendigkeit einer mann-männlichen Beziehung seinesgleichen sucht. Bellussi kam übrigens vor vier Jahren von der Junior-Company des Bayerischen Staatsballetts nach Hamburg, „Ema“ hingegen 2010 von der Nachwuchsschmiede des Houston Ballet. Und man möchte wirklich nicht auf sie verzichten!

Bei den Damen fällt vor allem Yaiza Coll mit immenser Sinnlichkeit bei höchster Präzision auf. Sie wurde 2012 von der Schule des Hamburg Balletts ins Ensemble übernommen und ist eine der nicht eben wenigen   vielversprechenden Hamburger Kandidatinnen für eine Solo-Karriere. Aber auch Georgina Hills, die, ebenfalls von Neumeiers Schule kommend, sogar erst Aspirantin im Hamburg Ballett ist (also sozusagen Elevin, eine absolute Berufsanfängerin), fiel mit starker Präsenz auf. Sie war für die nun wegen einer Verletzung mit einem herzlichen „Gute Besserung!“ zu bedenkende, sehr talentierte Hayley Page eingesprungen (was indes nicht auf dem Programmzettel stand).

Und dann gibt es noch einen hammermäßig vom Hocker fegenden Engel in dieser Besetzung vom „Messias“: Sasha Riva. In einem weißen, langen Mantel scheint er, wenn er auf dem Ballen geht, zu schweben – und wenn er die Arme hebt und senkt, so scheint davon das Wohl und Wehe der ganzen Menschheit abzuhängen. Schon wegen ihm würde der Abend sich lohnen – nur selten erlebt man eine solche, dennoch auch bescheiden wirkende Persönlichkeit im Ballett. Ohne zu charmieren oder gar den Ausdruck zu forcieren, gelingt es Riva, wie so oft, seine Partie solchermaßen mit einer generös-souveränen, sehr persönlichen  Seelenkraft zu füllen. Hier barmt ein Tänzer nicht nach dem Motto „bitte, habt mich lieb!“, sondern hier brilliert ein junger moderner Mann mit der Standfestigkeit eines Zeitgenossen, der von sich aus geben möchte, was er emotional und intellektuell zu geben hat. Ein Genuss!

Priscilla Tselikova hat dann den entsprechenden weiblichen Part gleich danach zu tanzen, und sie tut es mit einer wunderschön-elegischen Haltung, die sehr pointiert ist und die Weihe, die Sasha Riva vor ihr versprüht, wie einen glitzernden Faden aufnimmt und weiter zu spinnen weiß. Es ist, als erzählten die beiden eine ganz besondere Teilgeschichte des Abends, um Einsamkeit geht es darin, aber auch darum, Gleichgesinnte zu finden.

Zweifel und seine Bewältigung – dieses Kernmotiv im „Messias“ verleiht  der biblischen Leidensgeschichte eine weitere Tragweite, und ob in Soli, in kleinen Gruppen oder im Ensembletanz: das Hamburg Ballett, noch voll der Energie, die es bei seinen Auslandstriumphen einsammelte, führt diese urmenschlichen und auch philosophisch aufgeladenen Vorgänge vor, als seien sie eine körperlich zu berichtende Reportage von der Entwicklung der Menschheit hin zur Zivilisation.

SECHSUNDDREISSIG HERVORRAGENDE TANZKÜNSTLER SIND HIER BEISAMMEN

Es fällt allerdings schwer, viele andere hervorragende Tanzkräfte des Abends nicht zu nennen, also nenne ich sie: Florencia Chinellato, Futaba Ishizaki, Winnie Dias, Miljana Vracaric, Kristina Borbélyová, Yun-Su Park, Mayo Arii, Braulio Álvarez, Dale Rhodes, Dario Franconi, Marcelino Libao, Konstantin Tselikov, Sara Coffiled, Christopher Evans (wieder bestechend geschmeidig), Jemina Bowring, Maria Tolstunova (die erst diese Saison vom Wiener Staatsballett nach Hamburg kam, aber hallo!), Aljoscha Lenz, Lizhong Wang, Florian Pohl, Lennart Radtke, Graeme Fuhrman, Matias Oberlin, Eliot Worrell und Ekaterina Mamrenko.

Besonders achte man auf jene Tanzpassagen, in denen die Tänzer mit den Steinen aus dem Kreis, der sie umgibt, agieren.

Am Anfang und am Ende schreiten sie auf den unebenen Symbolen für des Lebens Härte – und zwischendurch tanzen sie immer wieder damit, um ihrem Bemühungen, einen Weg zu finden, Ausdruck zu verleihen.

Steine bieten als Quelle von Mineralien und anderen Stoffen schon Flechten und Pflanzen Überlebensmöglichkeiten. Als haltbares Material diente Gestein Tieren und Menschen früh, um Schutzzonen zu errichten oder zu finden. Die Höhlennutzung entstand. In der nach ihm benannten Steinzeit entstanden steinerne Instrumente der Alltagsbewältigung, die zuvor undenkbar waren. Steine führten auch früh zu Kunstwerken, in Form von bemaltem Stein oder als Fetisch und Skulptur, aber auch zu Mosaiken. Im Fall des Steinschlags aber sind sie Gefahrenquellen, die so unberechenbar von oben kommen wie der Jähzorn altgeschichtlicher Gottheiten. Der Stein an sich ist ein starkes Bild, auf der Bühne wie in der bildenden Kunst.

Das Paar Martínez-Agüero steht denn auch da, synchron in einer Art Merce-Cunningham-Passé auf einem Bein, es hält aber die Balance, ganz so, als sei es so angewachsen. Und dann nimmt sich jeder einen Stein, um damit weitere Balancen auszutarieren – Menschen und Steine, das scheint hier untrennbar voneinander.

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Ein Ausschnitt aus dem obigen Bild zeigt nochmals Aleix Martínez in Aktion mit männlichen Tänzern, die hier eine Gruppe bilden, und die ganze Pose erinnert an Neumeiers „Matthäus-Passion“. Foto von 2016: Kiran West

Aleix Martínez tanzt auch ein anderes Mal, dann ist es ein Solo, mit einem Stein. Den hält er in der Hand, als handle es sich um einen sakral aufgeladenen Fetisch, er legt ihn sich dann sogar an die Schläfe, dorthin, wo er, würde er dahin geworfen, tödlich sein könnte. Schließlich legt er den „besiegten“ Stein vor sich hin, tanzt mit ihm, um ihn herum. Es ist, als würde eine frühe Religion entstehen. Gibt es in den Naturreligionen auch Gottheiten des Gesteins?

Die biblische Metapher, die sich von der Steinigung – der Todesstrafe – ableitet, kennt hingegen jeder: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Im Original heißt es (Römer 2,1): „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“, und gemeint ist mit diesem Freispruch erster Klasse durch Jesus eine auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin. Der Messias mahnt sie dann im Gespräch lediglich an, fortan nicht mehr zu sündigen – sie kommt nochmal davon.

Wir alle wissen, dass es in anderen Ländern auch heute noch ganz anders aussieht. Vor allem in Syrien finden derzeit häufig grauenvolle öffentliche Massaker an so genannten Sünderinnen und Sündern statt; und man sollte nicht immerzu ausblenden, dass sich der Islam aus dem Christentum heraus entwickelte, so wie das Christentum auf der Grundlage des jüdischen Glaubens entstand. Die drei monotheistischen Weltreligionen sind also inhaltlich gar nicht mal so weit voneinander entfernt, wie ihre einzelnen Vertreter uns gern vorgaukeln.

Die Geringschätzung der Frauen an sich ist allerdings kein trauriges Privileg dieser Religionen; sie kulminiert auch in den vielen Gottheiten gehörenden Gesellschaften, vor allem in Überbevölkerungsdomänen wie in Indien oder in Afrika. Es wird so gern verschwiegen, wie ungerecht, wie grausam und auch wie verblödet sich das Patriarchat Frauen gegenüber weltweit immer wieder aufführt. Oft genug übrigens völlig unabhängig davon, ob die Weiblichkeit nun bestimmten Moralvorstellungen entspricht oder nicht.

Es wird Zeit für neue Regeln, auf die sich eine Weltgemeinschaft einigen könnte, für Werte, die unabhängig von Göttern und Propheten sowohl als Moral als auch als Gesetz existieren können. Aber wem sage ich das?

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Immer wieder denkt man in „Messias“ von John Neumeier auch an Adam und Eva, in wechselnden Konstellationen, auch in wechselnden Kostümen, die der Meisterchoreograf selbst kreierte. Foto von 2016: Kiran West

Das messianische Denken, das eine angeblich automatisch erfolgreiche Heilserwartung anstelle des Kulturpessimismus setzt, ist derweil ein zweischneidiges Schwert. Natürlich kann man immer darauf hoffen, dass ein Erlöser und Retter kommt und einem die Verantwortung, die Dinge zu regeln, abnimmt. Man kann aber auch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und hoffen, nicht allzu sehr dabei behindert zu werden, wenn man versucht, wirksam zu werden.

Ob es einem nun nur ums eigene Dasein geht oder um einen Aspekt, der altruistische Züge trägt.

Altruismus heißt „Uneigennützigkeit“. Diese liegt nahe bei der christlichen Auffassung von Nächstenliebe im Gegensatz zur Selbstliebe, umfasst aber noch stärker die Bereitschaft zu Verzicht auf Eigeninteresse zu Gunsten des Interesses von jemand anderem.

Im „Messias“ gibt es auch eine Szene, in der die Mehrheit des Ensembles Steine in den Händen hält – als wäre sie bereit zur Steinigung – und damit auf Aleix Martínez zielt. Es ist fast ein Schock zu sehen, wie sich die Szenenabfolge im Stück auf dieses Tableau hin zuspitzt.

Das Innehalten in dieser Bewegung ist dann das Entscheidende: Es gewinnt, wer den ersten Stein nicht wirft. Als frozen position halten die Tänzer ihre Hände mit den Steinen hoch, werfen aber nicht. Sie haben gewonnen, indem sie sich überwinden.

Diese Szene markiert das Ende des ersten Teils, sie steht also zentral in der Mitte, während das Gehen auf den Steinen den Beginn und das Ende als Vor- und Nachspiel kennzeichnen. Die Harmlosigkeit der Steine ist allerdings nach dem Ballett dahin – sie waren schon fast Waffen, diese Erdbrocken, und mithin nicht nur Steine des Anstoßes oder ähnlich verhältnismäßig sanfte Aggressoren.

Die Zweifel und den Skeptizismus, den wir im Ballett „Messias“ als motivischen Leitfaden sehen, legt denn auch nahe, dass es hier nicht nur um die mythische Gestalt von Jesus geht, der in seiner Eigenschaft als Messias als Mittler zwischen Gottvater und der Menschheit dient.

Vielmehr ist die Zivilisationsentwicklung auch nach dem Verlust der Unschuld gemeint.

Und sind es nur Selbstzweifel, um die es hier geht? Den Vorwürfen, die sich die Hauptfigur (Aleix Martínez) selbst macht, denn sie sich aber auch vor den anderen stellen muss, stehen die emotionalen Reaktionen seiner Mitmenschen gegenüber.

Auch hier dienen die Steine als Symbole. Sie können tatsächlich auch etwas Verbindendes darstellen.

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Paartänze, Soli, Ensembleszenen – in „Messias“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett geht es oftmals auch um mehrere Spielebenen zugleich, was typisch für die Neumeier-Ballette ist. Foto von 2016: Kiran West

So durchzieht die Reihe der Steingänger am Ende ganz friedlich auch den Rest des Ensembles. Sie kommt von den Steinen, also der Außenlinie, her in die Mitte des Spielfeldes, man mischt sich unter die dort Wartenden und zieht von dort weiter, wie Nomaden oder auch wie Flüchtlinge – und es sind andere Tänzer als zu Beginn des Stücks, die jetzt in diese Rollen der notwendigerweise Reisenden geschlüpft sind.

Und tatsächlich gibt es auch sonst gute Neuigkeiten innerhalb der unwillkürlichen Demontage des mainstreamigen Heile-Welt-Bildes: Mitunter lösen sich Konflikte durch die Zartheit der Berührungen, der tänzerischen Bewegungen, der wortlos mitgeteilten Zauberworte des Messias und seiner Anhänger.

Es sei ein kurzer Exkurs in eine scheinbar ganz entlegene Welt erlaubt:  Der britische Zirkusclown Tweedy, ein Star in seiner Branche, sagt: „Das Leben besteht – wie eine gute Show – vor allem darin, in Schwierigkeiten hineinzugeraten und dann zu versuchen, aus ihnen wieder herauszukommen.“

Das fasst ganz gut zusammen, worum es auch im „Messias“ geht. Allerdings sind es hier nicht nur die kleinen, persönlichen Problemchen, die zu bewältigen sind, sondern sehr wohl auch solche, die die Entwicklung unserer gesamten Spezies in eins betreffen.

So gesehen, geht es im „Messias“ um die Forderung nach religiöser Toleranz, nach Gedankenfreiheit, nach Gebetsfreiheit. Und wenn man den Atheismus als stärkste Religion von allen definiert, so gilt dieses sogar im überreligiösen Sinn.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Weitere Texte zum Stück bitte hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias/

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias-zu-ostern/

www.hamburgballett.de

 

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