Die Liebe als eine fremde Macht Das Wiener Staatsballett führt mit dem Abend „Thoss / Wheeldon / Robbins“ mit zeitlosen Themen tief in die Liebeskonzeptionen auch der Gegenwart

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Blaubart, getanzt von Kiril Kourlaev, und Judith, dargestellt von Alice Firenze, im brillant-tänzerischen Geschlechterkampf – so zu sehen in „Blaubarts Geheimnis“ von Stephan Thoss in Wien. Foto: Wiener Staatsballettt / Michael Pöhn

Wild. Makaber. Außenseiterisch. Das ist „Blaubarts Geheimnis“ von Stephan Thoss. Einen Ausschnitt daraus zeigt – mit ungewöhnlichen Paartänzen – das Wiener Staatsballett als Auftakt seiner neuen Premiere. Die minimalistische Musik von Philip Glass unterstreicht den modernen, zeitgenössischen Bezug des Themas, das, seit es in der Märchensammlung „Ma mère l’oye“ („Meine Mutter, die Gans“) von Charles Perrault erschien, immer wieder die Kulturschaffenden inspiriert. Der seine Ehefrauen aus geringfügigen Anlässen mordende Blaubart steht in dem 2011 uraufgeführten Ballett für einen Mutterkomplex-bezogenen Geschlechterkampf, dessen letzte Schlacht noch nicht geschlagen ist.

Elegant. Elegisch. Paradiesisch. Das ist „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon. Damit geht es in diesem wirklich ungewöhnlichen Programm weiter. Das närrische Paradies aus dem Titel gibt vier Tänzerinnen und fünf Tänzern Gelegenheit, das schönste aller Gefühle, nämlich die Liebe, geradezu rausch- und soghaft zu zelebrieren. Die Musik von Joby Talbot wurde speziell für dieses 2007 uraufgeführte Ballett komponiert, das mit dem Motiv des Garten Edens ebenfalls einen kulturgeschichtlichen Evergreen aufgreift.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Noch einmal „Blaubarts Geheimnis“ mit dem Wiener Staatsballett, zu sehen in „Thoss / Wheeldon / Robbins“. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Zeitlos. Zyklisch. Originell. Mit unkonventionellen Ideen zu einem auch sehr beliebten Thema – dem Sinnbild der vier Jahreszeiten als Metapher für den Lebenskreislauf – schuf Jerome Robbins schon im letzten Jahrhundert zur Musik von Giuseppe Verdi „The Four Seasons“. Darin beginnt ein einzelner Tänzer, den Winter darzustellen, damit dann Paare den Frühling, den Sommer und den Herbst als Höhepunkt des Daseins feiern. Die Figur eines Fauns ergänzt und belebt dieses allegorische Spiel, das 1979 in New York uraufgeführt wurde.

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Davide Dato vom Wiener Staatsballett springt hier als Faun durch „The Four Seasons“, also durch die vier Jahreszeiten, von Jerome Robbins. Wow! Foto: WIener Staatsballett / Jerome Robbins

Startänzer wie Davide Dato als Faun, herausragende Newcomer wie Greig Matthews in „Fool’s Paradise“, die Primaballerina Olga Esina und der Primoballerino Denys Cherevychko im selben Stück sowie die eben erst mit einem Preis ausgezeichnete Rebecca Horner als Mutter der Titelfigur in „Blaubarts Geheimnis“ werden in der Premierenbesetzung dem Abend den Glanz ganz großen Balletttheaters verleihen.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Sommernachtstraumatisch, mit großem Schönheitsbonus: „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon beim Wiener Staatsballett, hier mit Olga Esina und Roman Lazik. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Dem Hauptstück darin, „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon, ist der folgende Beitrag gewidmet. Er ist dem Programmheft des Wiener Staatsballett entnommen, in dessen freundlichem Auftrag er erstellt wurde:

LIEBE ALS FREMDE MACHT

Die Liebes- und Naturkonzeption in Fool’s Paradise des britischen Choreografen Christopher Wheeldon

Wenn wir lieben, sind wir uns fremd. Wie verzaubert. Das liegt daran, dass wir dann das Andere lieben, das, was anders ist als wir. Auch wenn, äußerlich gesehen, Ähnlichkeiten der Grund für die Liebe zu sein scheinen: Was unsere Herzen ganz tief bewegt, und zwar so stark, dass wir es uns eigentlich gar nicht erklären können, ist vor allem das, was uns Menschen voneinander unterscheidet.

Da ist es ein logisches Paradoxon, dass Verliebte sich stets einbilden, der oder die Angebetete sei genau so wie sie selbst. Mit Sicherheit ist das Gegenteil der Fall: weiter auseinander als im Fall großer Liebe können Menschen an und für sich nicht sein. Denn um etwas zu lieben, das ist wie wir selbst, bräuchten wir nur in den Spiegel zu sehen. Das wäre Narzissmus. Liebe aber ist die außergewöhnliche Faszination, die schon durch ihr Begehren dem Begehrten den Status des Außergewöhnlichen verleiht. Spätestens durch die Liebe wird das Geliebte das Fremde, das Andersartige, das Unbekannte.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Wunderbar leicht und dennoch dramatisch schaut das aus: Ioanna Avraam und Eno Peci vom Wiener Staatsballett beim Paartanz in „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Das wussten schon Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir; Tristan und Isolde, als literarische Erfindungen, wussten es auch schon, bereits im Mittelalter; Romeo und Julia wussten es, seit William Shakespeare sie in die Bühnenwelt gesetzt hat – und jede und jeder, die oder den es mal so richtig aus heiterem Himmel erwischt hat, weiß es im Grunde auch. Also: Liebe ist eigentlich eine Katastrophe. „Ein verliebter Mann ist ein Narr, eine verliebte Frau ein Engel“, besagt denn auch ein Sprichwort. Verliebte als Narren zu bezeichnen, folgt einer alten Tradition – auch wenn das Glück von Verliebten und Liebenden gemeinhin als das höchste gilt. Sie befinden sich in einem Paradies der Liebe, das keine Realität mehr kennt.

Im Angloamerikanischen hat das Fool’s Paradise, das „Narrenparadies“, zudem als Redewendung, die sich schon in Shakespeares Romeo und Julia findet, einen Beigeschmack: Gemeint ist das Glück der Ahnungslosen, der Betrogenen, der hinters Licht Geführten. Die Naiven, die um der Liebe willen lieben und die weder berechnend noch misstrauisch sind, sind gemeint. Es sind auch diejenigen, die sozusagen in ihrem eigenen Interesse übersehen, dass sie gehörnt oder belächelt, belogen oder sonstwie genarrt werden. Und sie versammeln sich an einem imaginären Ort – um dort ungestört ihre Illusion vom Glück auszuleben.

Tänzer betrifft von Berufs wegen eine ähnlich hermetisch abgeschirmte Form des Glücks: Sie arbeiten unglaublich hart an ästhetischen Idealen, die vom Rest der Welt kaum wahrgenommen werden. Da braucht man schon Scheuklappen, um sich täglich ganztags im Ballettsaal einzufinden: um immer wieder mit aller Kraft den eigenen Körper in eine der Trägheit ganz zuwider laufende Form zu bringen. Daraus resultiert indes mehr als nur äußere Schönheit.

Ballett sei „Schönheit, um die Welt zu retten“, sagte die berühmte russische Primaballerina und Choreografin Natalia Makarova mal anerkennend zu ihrer New Yorker Kollegin Julie Kent (die im Sommer 2015 mit ergreifenden Vorstellungen ihren Bühnenabschied nahm). Das ist ein schöner Ballerinentrost für all die Schmerzen und all den Verzicht, den das professionelle Tanzen verlangt. Aber will die Welt da draußen diese Art von Schönheit überhaupt? Die Frage verdrängen wir, die wir der Ballettkunst anhängen wie einer Religion und die wir glauben, dass vom disziplinierten Bühnentanz eine Power ausgeht, die eher mit Schamanentum zu vergleichen ist als mit jenem kalten Leistungswettbewerb, der das internationale Ballettgeschehen für Außenstehende zu sein scheint. Ballett hat mit einer hohen Konzentration an positiven Gefühlen zu tun, mit viel Liebe zu jeder noch so kleinen Regung oder Bewegung – und das bei jedem Atemzug. Ballett, das ist die Erregung des Herzens durch die Bändigung der Sinne.

Im Ballett Fool’s Paradise des britischen Choreografen Christopher Wheeldon dreht sich alles genau um dieses eine Gefühl, um das Glück und die Magie einer allumfassenden Liebe, die einen – mit einer kleinen Portion Selbstironie betrachtet – außer Rand und Band und doch zugleich tief ins eigene Innere führt. Liebe, sagte mir Christopher Wheeldon im Gespräch, ist denn auch seine ganz große Utopie: eine romantische Vorstellung, nach der wir eigentlich doch alle streben.

Sein 2007 in London uraufgeführtes Stück beginnt ganz leise und zart, langsam und gar nicht typisch für ein von Beziehungen sprechendes Ballett: Zwei Männer schreiten langsam von hinten nach vorn auf die Bühne, hinter ihnen steht eine Frau. Schon diese Trio-Konstellation ist nicht konventionell – und auch die Distanz der Tänzer zueinander ist nicht typisch für ein Ballett, das immerhin nichts geringeres als ein Paradies, wenn auch ein trügerisches, verspricht.

Das Gefühl der Innigkeit, ja Gläubigkeit an den Anderen, das wir so oft auch mit Liebe verbinden, schwebt hier wie ein unsichtbares Band zwischen den Tanzenden. Diese gewachsene emotionale Verbindung ist es auch, die uns den oder die Geliebten so oft als vertraut erscheinen lässt. Oft wider besseres Wissen! Das ist jedoch dem Faktor Freundschaft zuzuschreiben, nicht der Liebe selbst; Freundschaft geht mit Liebe Hand in Hand, und manchmal geht das Freundschaftliche der Liebe sogar voran (wenn es ihr auch nur selten nachfolgt).

So sehr mitunter die Grenzen zwischen den Empfindungen verwischen mögen: Liebe als Rausch resultiert, für jeden ist das erkennbar, aus der vom Sexus motivierten, ungestümen Gefühligkeit. Wie Hypnose kommt die Liebe einem dann vor, sie führt zu Hormonstößen und somnambulen Zuständen; wie ferngesteuert bewegen sich die Liebenden von Lustrausch zu Lustrausch, leben darin nur ihrer Gegenwart, weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft auch nur einen Gedanken verschwendend. Liebe mache blind, sagt man – und gerade das steigert das Glück, das sie verheißt.

LIEBE ALS GEGENWELT

In Fool’s Paradise kommt uns diese höhepunktträchtige, rauschhafte Liebe als stetes Grundgefühl entgegen – und mischt sich darum unmerklich mit tiefer Freundschaftsempfindung. Männer versenken ihre Köpfe ganz selbstverständlich auf den nach hinten gebogenen Oberkörpern der Damen wie auf einen Meeresgrund von Empfindungen. Die jungen Damen lassen sich als Dank von den Herren vertrauensvoll weit empor heben, in vielfache Pirouetten involvieren oder auch blitzschnell in eine elegant-erotische Positur bringen, etwa auf einem Bein, das andere seitlich oder nach hinten lang ausgestreckt. Nähe und Intimität sind in diesem Narrenparadies die Voraussetzungen für alles weitere – ohne Hinterfragung, ohne Zweifel.

Schmeichelnd geschmeidig, auch von technischer Virtuosität ist der Tanz, den Wheeldon auf die Inspiration moderner Filmmusik hin entwickelte. Der Komponist dieser Klänge, Joby Talbot, ist mit Musik für populäre Kinofilme wie Per Anhalter durch die Galaxis (2005) bekannt geworden. Doch seit seiner ersten Kooperation mit Christopher Wheeldon – für Fool’s Paradise – ist er auch ein versierter Ballettkomponist: Talbot schrieb für diverse Ballette, nicht nur von Wheeldon, sondern auch von Wayne McGregor (Entity, Chroma), die Musik. Für Wheeldon entstanden vor allem auch abendfüllende Werke. Zunächst Alice’s Adventures in Wonderland, das 2011 mit großem Erfolg im Londoner Covent Garden uraufgeführt wurde. Und 2014 brachte das Gespann Wheeldon / Talbot, ebenfalls fürs Royal Ballet in London, unter starkem Zuspruch The Winter’s Tale (Das Wintermärchen) nach der gleichnamigen melancholischen Komödie von William Shakespeare auf die Ballettbühne.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Wunderbar exakt: Nicht ganz derselbe Moment wie im vorherigen Foto, aber nah dran im Fluss der Choreografie: Hier tanzen Sarah Lamb und Federico Bonelli vom Royal Ballet in London das Stück „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon. Foto: Andrej Uspenski / Courtesy: ROH

Entdeckt hat Christopher Wheeldon, der seit 2012 Artistic Associate beim Royal Ballet ist, den gefälligen, auf moderne Art schwelgenden und gerade noch tonalen Musikstil von Talbot anhand einer kleineren Filmarbeit des Musikers. Für den kurzen, schon 1916 gedrehten russischen Ballett- und Stummfilm The Dying Swan (Der sterbende Schwan zur Originalmusik von Camille Saint-Saëns) hatte Talbot neue Musik geschrieben: dramatische, dennoch auch lyrisch-poetische Klänge für Klavier, Violine und Cello.

Wheeldon war sofort wie elektrisiert – und bat Talbot, ihm auf dieser Grundlage für ein etwa halbstündiges Ballett die Musik zu entwickeln. Jetzt, nach erfolgtem Schöpfungsakt, ist das ganze Orchester dafür im Einsatz, und die Musik strotzt nur so vor fetzenhaft sich ablösenden, harmonisch tröpfelnden Melodiephrasen bei unerwartet auftauchenden Synkopen. Wenig penetrant, aber stimmungsreich dient diese Musik dem Tanz.

Expressionismus und Impressionismus mischen sich darin. Für Wheeldon war es ein großer Reiz, auf solcherart „erzählerische“ Musik ein abstraktes Ballett zu kreieren, das lediglich eine innere Handlung, keinesfalls aber eine äußere hat.

Der Eindruck eines erträumten Tableaus ist allgegenwärtig: Liebe als Gegenwelt zur Realität. In den süffisanten Paartänzen in Fool’s Paradise steht ein sanft einher kommender Eros als Kontrastbild zum banalen Alltag da, zugleich als Gegenentwurf zur herkömmlichen „Show“, als Gegenstück sogar zum „Ballet d’action“, dem Handlungsballett, das sich normalerweise bestens eignet, um Liebesgeschichten darzustellen.

Die Grundidee des Choreografen, eine romantisch-utopische Träumerei zu entwerfen, blieb in Wheeldons Tanzstück erhalten. Liebe hat darin nichts mit Fesseln und Konventionen zu tun, nichts mit Anpassung oder sozialem Aufstieg. Es geht noch nicht mal um das „Sich-endlich-Küssen“, nach langem Werben oder märchenhaften Abenteuern zum Beispiel. Und es geht auch nicht um Dinge wie Verlobung, Hochzeit, Intrige oder Verwechslung. All die klassischen Zutaten zu einer Liebeskomödie – oder auch Tragödie – bleiben hier außen vor.

LIEBE ALS INVASION

Statt dessen gleiten die neun Solisten, die hier auftreten, freundlich miteinander flirtend und neidlos einander präsentierend von einer Szene in die nächste, als müssten sie vorführen, zu welch einem Potenzial an Liebe und Zuneigung Menschen überhaupt fähig sind. Dabei steigert sich ihre Anzahl auf der Bühne langsam, aber stetig; im Gesamtbild so kontinuierlich, dass man hierin die eigentliche Absicht des Balletts vermuten könnte. Erst sind es zwei Tänzer, die das Feld beherrschen, dann drei, dann vier, dann sechs… schließlich acht, dann endlich neun Protagonisten. Sie tanzen einen beispiellosen Liebesreigen: ohne Versprechen zu geben, die sie brechen könnten. Manche haben Partnerschaften und nehmen noch jemanden dazu, andere wechseln den Partner, ohne dass es darum Streit geben muss. Die Liebenden insgesamt aber werden immer mehr: Liebe als Invasion.

Da wundert, dass es „nur“ neun Tänzer am Ende sind. Der Grund für die begrenzte Anzahl von Bühnenkünstlern ist denkbar lapidar: Mehr als neun Tänzer (vier davon weiblich) hatte Wheeldon 2007 in der kreativen Phase, als er das Stück choreografierte, nicht zur Verfügung. Die von ihm gegründete kleine Compagnie „Morphoses / The Wheeldon Company“, die sich aus befreundeten Londoner und New Yorker Tänzern nebenberuflich zusammen setzte, war nämlich das Ensemble der Uraufführung von Fool’s Paradise.

Gedacht war das Stück dennoch von vornherein als Teil eines abendfüllenden Programms im regulären Ballettbetrieb. Dorthin fand es auch seinen Weg: Es wurde, stürmisch bejubelt, vom Royal Ballet im Covent Garden aufgeführt und ins dortige Repertoire aufgenommen. Der Aufstieg des „Außenseiter-Stücks“ in die etablierte haute etage des Balletts vollzog sich so lässig, wie die neun Protagonisten in Fool’s Paradise trotz all ihrer Individualität den Weg zum solidarischen Team auf der Bühne finden.

Es sind ja zunächst nur zwei Männer und eine Frau, die sich respektvoll, dennoch mit Intimität vor feierlich herabrieselndem Blütenblätterregen begegnen. Man könnte an das Ritual eines Furchtbarkeitstanzes denken. Verherrlichende Posen entstehen, die an klassizistische Reliefs erinnern oder an die frühromantischen Gemälde des deutschen Malers Philipp Otto Runge. Das rubinrote, bald ins Bordeauxfarbene changierende Bühnenlicht (stimmungsvoll erschaffen von Penny Jacobus) schafft dazu eine warme, edle Atmosphäre. Später wird es in ein kühles Nachtblau übergehen, das die Dynamik der sich unermüdlich schnell bewegenden, von Pose zu Pose gleitenden Tanzkörper betont.

Nebelschwaden steigen im Hintergrund auf, verfangen sich im Lichtkegel am Bühnenhorizont. Die Szenerie wirkt surreal. Wo befinden wir uns? Wo liegt dieses Fool’s Paradise? Ist es überhaupt noch Teil unseres Milchstraßensystems? Es könnte sich um einen fernen, exotischen Planeten handeln, um eine kühne Fiktion des roten Planeten Venus – oder auch um die irdische Illusion eines liebesfreundlichen Gefildes, das fern von kommerziellen Wellness-Oasen angesiedelt ist, aber nah bei unseren Herzen.

Die Stimmung ist dabei nicht euphorisch, aber erhaben. Und niemand hat das Gefühl der Erhabenheit, das im Ballett generell eine wichtige Rolle spielt, so genau definiert und beschrieben wie der Klassiker Friedrich Schiller. In seiner Abhandlung Über das Erhabene, die 1793/94 entstand, erklärt er: „Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als Schauer äußert, und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen kann und, ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinen Seelen aller Lust doch weit vorgezogen wird.“ Die Ambivalenz, die Schiller meint, ist spürbar aufgeladen mit erotisch konnotierter Obsession.

Denn immerhin spricht Schiller da von „Lust“ und von „Schauer“, von „Entzücken“ und von „feinen Seelen“. Er meint aber weder das Grotesk-Dekadente noch das Melancholisch-Sehnsüchtige, auch nicht das Manisch-Depressive oder Sadomasochistische, das man heutzutage bei solcher Polarität unwillkürlich unterstellen würde. Er meint vielmehr die durchaus feinsinnige Mischung von Erschrecken und Erstaunen, von Ängstlichkeit und Beglückung, die den Zustand der Erhabenheit – das Lebensgefühl der Erhabenheit – ausmacht.

Es ist eine Form der Weltverzückung! Erhabenheit, Entzückung und Entrücktheit wiederum finden sich bei Christopher Wheeldon in der Choreografie verschwistert. Sie bilden ein Bollwerk gegen andere Gefühle. Es gibt darin keine Aufs und Abs der Gefühlslagen, keine Hochs und Tiefs der Emotionen – sondern ein kontinuierliches Hochgefühl hat die Protagonisten erfasst.

Da packen die Männer die Frauen ohne Umschweife, um sie in ihrer Position völlig zu verändern. Und die Damen lassen sich das gerne bieten. Manchmal vollführt ein Paar dann synchrone Bewegungen, beugt den Rücken redlich nach vorn und nach hinten, über Kreuz an den Händen gefasst. Aber noch öfter zelebrieren sie das tänzerisch stilisierte Liebesspiel, mit den tradierten verteilten Mann-Frau-Rollen, und die Körper genießen den angenehmen Wechsel von hautnahem Kontakt und armweiter Distanz zueinander. Es ist wie beim Rock’n Roll – nur viel stylischer.

Die Damen stechen ihre Beine dabei weit und hoch und ohne mit der Wimper zu zucken in die Luft, mit exzellent gestreckten, vorwitzig gebogenen Füßen. Blitzschnell drehen die Herren ihre Damen dann auf einer Fußspitze, als seien diese Mädchen wie Kreisel und also Spielzeuge der jungen Männer: Der Spitzenschuh wird dabei zur Achse des Liebesglücks.

Da ist der mental vielschichtige Liebesrausch durch die Choreografie, durch die Musik und auch durch die Ausstattung omnipräsent. Da gibt es einen wiederkehrenden flitterhaften Regen aus künstlichen Blütenblättern: ein stilisiertes Zitat der sensitiv wahrzunehmenden Natur, der lau-feuchten, „fruchtbaren“ Wetterlage. Aber auch die Kostüme des Modeschöpfers Narciso Rodriguez, die den Tänzerinnen und Tänzern eine Anmutung von Nacktheit verleihen, tun ein Übriges: das Adam-und-Eva-Kostüm findet sich überformt von feinsinnigem Trendgefühl mit seidig glänzenden Applikationen.

Schmutz oder blaue Flecken, Körperbehaarung oder Pigmentflecken würden in diese ideale Welt „sinnlicher“ Schönheit allerdings nicht hineinpassen. Sie ist zu weit von unserem Alltag entfernt, ist in eine Sphäre platziert, die vom Einerlei und Allerlei unseres realen Tages- und Nachtablaufs nichts wissen will. Dafür betören uns die Reinheit und Hegemonie der Liebe in diesem kulissenlos-nackten Garten Eden. Der besteht aus Lust und Leidenschaft – und aus sonst gar nichts. Da gibt es keine Hindernisse, keine Hemmnisse für den Liebesrausch. Nichts stört den Liebesstrom, der wie ein unsichtbarer Wind den Bühnenraum erfüllt.

Utopisch ist auch der Gemüts- und Gefühlszustand der Tanzenden in Fool’s Paradise: Sie sind keineswegs närrisch, irre, verwirrt oder durchgeknallt im landläufigen Sinn. Die Protagonisten hier sind absolut klar in ihren – mit ihren Körpern sichtbar gemachten – Gedanken. In einer Hinsicht sind sie sogar verblüffend vorbildhaft: Sie zeigen keine negativen oder fleischlichen Gefühlsregungen, wie etwa Eifersucht, Wut, Trotz. Sie kennen nicht mal Traurigkeit. Im Gegenteil: Sie sind äußerst gelassen, freundlich, souverän, selbstbewusst, stabil – und ihrer Sache sicher. Es ist eine Angelegenheit des Trieblebens und doch auch des Wissens und der Selbstbeherrschung, die sie vor unseren Augen da erledigen. Was für ein Menschenentwurf! Sie tanzen, indem sie die Liebe als wichtigstes Gefühl zelebrieren – und sie lieben, indem sie für uns tanzen.

Liebe und Tanz verschmelzen bei Christopher Wheeldon zu einer Tätigkeit, zu einer Aktivität, zu einem Grund des Seins.

Dabei werden wir alle vorübergehend zu Adam oder Eva, zu den ersten, unschuldigen Menschen – und zugleich zu den letzten, schuldigen Menschen, die es bereuen müssen, durch eigene Schuld aus dem Paradies vertrieben zu werden. Da Wheeldon Engländer ist, muss man bei dem von ihm gewählten Stücktitel unweigerlich auch John Miltons episches Gedicht Paradise Lost (1667 zuerst publiziert) assoziieren. Der englische Dichter und Diplomat Milton, ein Anhänger von Oliver Cromwell, hatte mit diesem Werk eine die Kultur des Abendlandes prägende Resonanz.

Der Verlust des paradiesischen Zustands der Menschheit wird darin als Motiv für die Bildung von Kultur und Zivilisation überhaupt vorgestellt, und das dämonische Spiel von Satan und anderen gefallenen Engeln sorgte für Miltons Berühmtheit bei den damaligen Zeitgenossen. Bezeichnenderweise hatte die Fortsetzung, Miltons Spätwerk Paradise Regained (erschienen 1671), in dem die Menschheit darüber belehrt wird, wie sie durch moralisches Verhalten zurück ins Paradies kommen kann, im Vergleich zum tragisch-barmenden Erstling so gar keinen Erfolg.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Solche selten zu sehenden, komplizierten Hebungen dachte sich Christopher Wheeldon für sein „Fool’s Paradise“ aus – hier zu sehen beim Londoner Royal Ballet im Covent Garden. Foto: Andrej Uspenski / Courtesy: ROH

Die Menschheit, das ist zu schlusszufolgern, will also gar nicht wissen, wie sie wieder Einlass in den Garten Eden finden könnte. Sondern sie will von ihrem angeblichen, fantastischen Urzustand, bestehend aus Glück, Liebe und Zufriedenheit, mindestens ausreichend Mitteilung bekommen, um davon immer wieder immer weiter zu träumen… sie will träumen und anbeten und genießen und träumen… und nicht etwa handeln, nicht sich oder ihr Verhalten ändern. Vielleicht geht man darum ins Ballett – statt auf die Barrikaden.

Es folgt ein Interview mit Christopher Wheeldon vom September 2015:

Gisela Sonnenburg: Was war bei der Vorbereitung des Stücks Fool’s Paradise am stärksten in Ihrer Gedankenwelt?

Christopher Wheeldon: Die dunkle, romantische Welt zu kreieren, die mir in den Sinn kam, als ich die Musik von Joby Talbot zu dem Stummfilm The Dying Swan hörte.

Gisela Sonnenburg: Die Beziehungen in Fool’s Paradise sind so modern, und sogar der Stil ist etwas Neues. Handelt es sich dabei um eine Art Utopia, um einen Traum einer neuen Liebesform, erdacht für das Leben in der Zukunft?

Christopher Wheeldon: Meine Idee war, dass es wie ein magischer Spielplatz für Liebende sein sollte. Eine Art zeitgenössisches Feenreich, das an Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare erinnert.

Gisela Sonnenburg: Die Rhythmen und Melodien ändern sich hier sehr schnell, nicht nur in der Musik, sondern auch in der Choreografie. Ist das typisch für unsere Zeit, für das zeitgenössische Leben heute, dass da nichts ohne Wechsel ist?

Christopher Wheeldon: Ich denke daran wie an eine sich verschiebende Landschaft der Emotion, sowohl musikalisch als auch choreografisch. Das Leben hat sich immer verändert. Gefühle können aufflammen und nachlassen, wie das Wetter vom Regen zum Sonnenschein umschlägt. Es ist alles eine Reise, wie das Leben. Wie auch immer, da ist außerdem so viel Stille und Einfachheit in diesem Ballett, ich denke, das ist nachgerade altmodisch in einem gewissen Sinn. Und es reflektiert auch nicht das Bombardement der Sinne, das wir normalerweise mit unserer Zeit verbinden.

Gisela Sonnenburg: Sie haben mit Ein Sommernachtstraum schon einen Hinweis gegeben. Dieses Thema hat eine große Tradition in der Ballettwelt: John Neumeier und Frederick Ashton, George Balanchine, Heinz Spoerli und andere haben sich damit befasst. Stehen Ihre „Elfen“ da mehr für sich selbst? Oder leben sie, wie die Feen im Sommernachtstraum, auch in einem Paralleluniversum, in einer Gegenwelt, die hier eben Fool’s Paradise benannt ist?

Christopher Wheeldon: Die Erinnerung an den Sommernachtstraum ist ein Anhaltspunkt, um das Ballett ein Stück weit für mich selbst als Choreograf einzuordnen. Das ist nicht als Anker für das Publikum gemeint. Ich möchte, dass sich das Publikum selbst eine Meinung bildet, mit seinen eigenen Erfahrungen. Die Choreografen, die Sie erwähnen, schufen wörtliche Versionen der Story, sie fertigten lineare Fassungen von Shakespeares Märchen an. Fool’s Paradise beschwört hingegen die Atmosphäre eines jenseitigen Königreichs, das gesegnet ist mit sinnlichen Kreaturen.

Gisela Sonnenburg: Könnte dieser Traum von Liebe heute Realität sein?

Christopher Wheeldon: Warum nicht? Wir alle träumen von einem romantischen Utopia.

Gisela Sonnenburg: Lieben Sie die Natur? Und spielt sie eine Rolle in diesem Stück?

Christopher Wheeldon: Selbstverständlich liebe ich die Natur. Als Künstler haben wir zudem den Luxus einer ganz freien Darstellung von Fantasie, Realität, utopischen Träumen, Liebe und Natur. In Fool’s Paradise versuche ich, all diese Dinge durch Bewegung zu erfassen.

Die künstlerische Bewegung als höchste aller Mitteilungsformen – dieses zu beweisen, ist Christopher Wheeldons heimliche Mission. Tanz vereint das Streben des Choreografen mit dessen Ziel. Tanz und Liebe verschmelzen, die Natur als Triebfeder ist dabei stets präsent, ohne selbst mehr als ein Teil des Ganzen zu werden. Allerdings handelt es sich keineswegs um Natur mit der Gewalttätigkeit etwa eines Sturms, eines Hagels, eines Gewitters. Die Unwetter bleiben außen vor, genau wie die negativen Empfindungen. Es ist ein Wunschtraum, der hier getanzt wird. Und Natur ist in Fool’s Paradise eben nicht so grausam-realiter, wie Friedrich Schiller sie in Über das Erhabene beschreibt: „Noch viel weiter als die sinnlich unendliche führt uns die furchtbare und zerstörende Natur, solange wir nämlich bloß freie Betrachter derselben bleiben.“

Vulgo: Schaut der Mensch nicht nur auf die lieblichen Blumen in seinem heimischen Garten, möglichst noch bei Schönwetterlage, sondern besieht er sich einen verheerenden Tsunami, einen Orkan, einen Blitzeinschlag oder einen Vulkanausbruch, so kann ihn das noch weit mehr erheben – solange er nicht das Opfer der Naturgewalt ist. Bei Schiller heißt es weiter: „Der sinnliche Mensch freilich und die Sinnlichkeit in dem vernünftigen fürchten nichts so sehr, als mit dieser Macht zu zerfallen, die über Wohlsein und Existenz zu gebieten hat.“ Der Hintergrund ist also die Angst. Die Angst des Menschen vor der Vernichtung, vor Zerstörung seiner Biologie – nicht nur durch Orkane, sondern wohl auch durch das Einfachste von der Welt, durch die Zeit. Gemeint ist also auch die Angst vor dem Altern, vor dem Tod, der so oder so unabdingbar Teil der Natur ist – und um dieser Wahrheit, um diesen Ängsten zu entfliehen, ist Fool’s Paradise als gegenwartsbezogene Enklave ohne Gestern und ohne Morgen der perfekte illusorische Fluchtpunkt. Die große Sehnsucht nach Jugend im Ballett entspricht dem vollauf!

Das spiegelt sich im Verhältnis der Liebeskonzeption zur Natur in Fool’s Paradise. Die innere Natur des Menschen korrespondiert hier darum so lieblich und schadlos mit Zitaten der äußeren Natur, die vom ebenfalls lieblichen Blütenblätterregen sowie vom sanft flutenden Bühnenlicht versinnbildlicht werden. Die Spagatsprünge der Tänzer finden insofern als glitzerndes Naturequipment ohne jede Todesandrohung statt. Und ahmen die wunderschön-eleganten Armbewegungen, vom Port de bras bis zum Cambré, nicht die aufstrebenden Wuchsformationen der Pflanzen nach? Jede Geste ist ein vegetatives Lebenszeichen! Hier ein Baum, dort eine Liane, hier eine Knospe, dort ein sich im Wind biegender Strauch. Ein Elfenhain ist diese nackte Bühne auch insofern, als ihr enger Bezug zur Natur unleugbar ist. Der Choreograf dachte indes erst angesichts des schon fertigen Balletts bewusst an William Shakespeare und seinen Sommernachtstraum. Aber es ist in jedem Fall zulässig, diesen motivischen Faden aufzugreifen und fortzuspinnen.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Die Stars Edward Watson und Melissa Hamilton tanzen hier in „Fool’s Paradise“, synchron und dennoch sehr männlich und sehr weiblich – beim Londoner Royal Ballet. Foto: Andrej Uspenski / Courtesy: ROH

So ist die Szenerie in Fool’s Paradise auch eine fremdartig-exotische Feerie des Tanzes, ohne, dass dieses der zwangsläufige Interpretationsschlüssel wäre. Aber wenn ein tanzendes Trio auftritt, so darf man spekulieren, dass es sich um abstrakte Abbilder von Titania, Oberon und Puck handelt, dem Herrscherpaar und dem Naturgeist aus Shakespeares Ein Sommernachtstraum (1605). Und sieht man auf Wheeldons Paare in Fool’s Paradise, so kann man getrost an die von einer Liebesblume verzauberten Liebespaare aus Shakespeares Komödie denken. Oder auch an die ohnehin Zauber pur verkörpernde Elfenschar. Nur tragen sie hier ein choreografisches Gewand der absoluten Gegenwart, das wie ein betörendes textiles Gespinst ihre Körper mehr zur Geltung bringt, als sie zu verhüllen.

Die Flucht in ein hemmungsloses Gefilde steigert hier den Reiz der Körper. So ist es nicht erstaunlich, dass mittendrin eine Tänzerin ihrem Partner von einer anderen Tänzerin abspenstig gemacht und zu einem gleichgeschlechtlichen Paartanz verführt wird. Folgerichtig experimentieren sofort auch zwei Herren miteinander – es ist ein Paradies des naiven Ausprobierens und bedenkenlosen Liebeshandelns, das Wheeldon kreiert hat. Dabei geht es nicht darum, dass die Person A die Person B liebt oder die Person C die Personen A und B liebt. Es geht um Liebe als paradiesisch alles umspannendes Gefühl, um Liebe als Nahrungsmittel und als Atemluft, sozusagen.

Manche Bewegungen und Posen scheinen dennoch die einschlägig bekannten Choreografien von John Neumeier (Ein Sommernachtstraum, 1977), Frederick Ashton (The Dream, 1964) und George Balanchine (A Midsummer Night’s Dream, 1962) zu zitieren, allerdings ohne sie zu kopieren oder direkt an sie anzuknüpfen. Insbesondere der sinnenhaft-erotische Elfenwald der Lust aus John Neumeiers genialer Inszenierung zu Musik von Györgi Ligeti scheint aber unwillkürlich Anstoß gegeben zu haben: Auch darin tanzen die Feen nicht in pseudoromantischen Tüllkostümen, sondern in Nacktheit imitierenden, hautengen Lyotards, mit mondlichtsilbernen Kappen über dem Haar.

Das war, als Neumeiers Ein Sommernachtstraum 1977 in Hamburg uraufgeführt wurde, eine Revolution in Sachen Elfenkult – und noch heute bezaubern Neumeiers Gestalten mit einer Frische, als wären sie erst gestern erfunden. Choreografisch sind denn auch einige Ähnlichkeiten von Fool’s Paradise mit dem dreißig Jahre zuvor entstandenen Neumeier-Ballett vorhanden, ob aus Absicht oder zufällig. Da werfen die Elfen ihre Beine aus dem Stand in die Höhe, um danach in bestimmte Posen zu steigen. Das elegante Schreiten und das Tendu, das Ausstrecken des Beines mit der Fußspitze am Boden, nehmen zudem einen besonderen Stellenwert ein. Auch die Hebung einer Person in die Horizontale – als würde sie in der Luft liegen – findet sich in beiden Balletten. Ebenso die Hebung einer Person mit durchgebogenem Rücken direkt über den Kopf des Hebenden. Und auch das sich kopfüber vollziehende Abgleiten einer Frau am Körper eines Mannes findet sich in beiden Balletten. Sich rasch bildende Grüppchen, die zügig und ohne Vorspiel Akte miteinander vollführen, sind ebenfalls in beiden Elfen-Fantasien vorhanden.

Von Frederick Ashton kommt hingegen das Knien der beiden Kavaliere in der ersten Szene in Fool’s Paradise. Und von George Balanchines weit ausgestreckten Linien ist Wheeldon sowieso beeinflusst: Man könnte ihn sogar in die Balanchine’sche Tradition einreihen, als Urenkel im Geiste sozusagen.

Die gefühlige Struktur der Choreografie von Fool’s Paradise ist allerdings original und neu – und typisch für Wheeldon und seine Ballettmachart. Wheeldon scheint bestimmte Grundgefühle zu destillieren und aus dieser Essenz ganze Ballette zu entwickeln. In Fool’s Paradise ist es so: Der sanft entfesselte Spieltrieb reüssiert als eine ideale Lebensart von jungen Erwachsenen, die sich zu den „happy few“, zu den vordergründig Sorglosen, zählen dürfen – und taucht als fast abgeklärtes, wie Wheeldon es sagt: jenseitiges Derivat von Triebhaftigkeit auf.

Was zuerst da war, Form oder Inhalt, Gefühlsderivat oder ballettöser Ausdruck, ist in der Tat schwer zu erkennen. Das starke Interesse an so engmaschiger Fügung von Gefühl zu Bewegung war es auch, das den Tänzer Christopher Wheeldon einst zum Choreografen werden ließ. Wobei sein Grundtalent bereits im Kindesalter erkennbar war; schon mit acht Jahren, erzählt er lachend, schuf er so etwas wie eine Choreografie, die von ihm und seinen kindlichen Mitstreitern bei einer Festivität in einer High School aufgeführt wurde.

Er hatte damals, als Achtjähriger, gerade erst mit dem Balletttanzen begonnen und kam dann, im Alter von elf Jahren, in der ehrenwerten Londoner Royal Ballet School in die professionelle Ausbildung. 1991 gewann er als bester Nachwuchstänzer eine Goldmedaille beim bedeutenden Nachwuchswettbewerb „Prix de Lausanne“. Er tanzte danach in der Company des Royal Ballet – und kam durch einen Zufall, als sein Fuß verletzt war, nach New York. Dort wollte er beim New York City Ballet (NYCB) nur als Gast trainieren, wurde aber vom damaligen Künstlerischen Direktor Peter Martins entdeckt. Wheeldon übersiedelte nach New York, wurde Solist beim NYCB – und begann, Stücke zu choreografieren. Martins stellte ihn jedoch vor die Wahl: entweder solle er tanzen oder choreografieren. „Du brauchst für beides hundert Prozent“, war die Begründung. Wheeldon entschied sich, mit erst 28 Jahren dem aktiven Tänzerleben Ade zu sagen, um sich seinem Werdegang als Ballettschöpfer zu widmen.

Sieben Jahre war er Resident Choreographer beim NYCB. Er arbeitete aber auch schon fürs Royal Ballet in London, fürs San Francisco Ballet, für das Bolschoi Ballett in Moskau, für das National Ballet of Canada in Toronto, für das Königliche Dänische Ballett in Kopenhagen – und er sieht sich als Weltenpendler, der von den Polen New York und London aus die verschiedenen internationalen Tanzmetropolen erobert. Jetzt ist er in Wien angekommen, mit seinem nobel-dynamischen Stil, der sonst auch durch glamouröse Gala-Auftritte seine Verbreitung findet. Beim Wiener Staatsballett trifft seine Kunst auf Tänzerinnen und Tänzer, die in verschiedensten Stilen versiert sind und dennoch ihr individuelles Profil niemals aufgeben.

Wheeldon ist ja mittlerweile einer der etabliertesten zeitgenössischen Choreografen, und entsprechend lehrfähig sind seine Arbeiten. So erhielt er schon zwei Mal – 2013 und 2015 – den wichtigsten Preis der Ballettwelt: den „Prix de Benois de la Danse“, der alljährlich in Moskau verliehen wird. Ein Allrounder ist Wheeldon ebenfalls: Er kreiert, passend für die Programmpläne großer Häuser, sowohl abendfüllende als auch kürzere Ballette, zu vorhandener oder zu extra für ihn komponierter Musik, und auch Musicals wie An American in Paris hat er schon tänzerisch illustriert.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Pas de trois made by Christopher Wheeldon – und getanzt vom Royal Ballet in London am Covent Garden. Beautiful! Foto: Andrej Uspensky / Courtesy: ROH

Seine Formensprache ist dabei prägnant. Sie enthält kaum kleine Sprünge, dafür viele gleitende und geschobene Bewegungen in rasantem Tempo; häufige Arabesken, Spagatsprünge, Bodenkontakte; furiose Hebungen in den Paartänzen, oft in origineller, innovativer, akrobatischer Art, mit Drehungen und Posen von einer gewissen Schärfe, all das auch gern in Schieflagen kombiniert.

Wheeldon wünscht sich dabei von seinen Interpreten, den Tänzern, zweierlei. Zum Einen den „Biss“ – die Knackigkeit und Entschiedenheit – den die Arbeiten von George Balanchine, dem Vater des Neoklasszismus und Gründer des New York City Ballet in der Mitte des letzten Jahrhunderts, verströmen. Zum Anderen die lyrisch-runden Armbewegungen aus der Lehre von Agrippina Vaganova, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Sankt Petersburg mit ihrer umfassenden Systematik den „Gral“ der klassischen Ballettpädagogik begründete.

Die modern-konziliante Auffassung von Beweglichkeit, die Jerome Robbins – neben Balanchine prägender Choreograf des New York City Ballet im letzten Jahrhundert – in seinen Arbeiten aufweist, habe er ohnehin immerzu im Hinterkopf, gesteht Wheeldon. Man erkennt sie an der Linienführung seiner tanzenden Körper wieder. Und wer genau hinsieht, kann bei Wheeldon auch Einflüsse von John Cranko, dem Macher des „Stuttgarter Ballettwunders“, sowie von William Forsythe, einem der wichtigsten Modernisierer des abstrakten Balletts, nicht übersehen: auf Cranko weisen etwa von den Herren gelenkte, serielle Spagatsprünge der Damen en corps in Fool’s Paradise hin; auf Forsythe verweisen einige Paartanz-Passagen in Fool’s Paradise, die von avantgardistischer Schnittigkeit und Strenge sind.

Ästhetik als Substanz, als kittende Essenz, die die Gegensätze zusammen hält. Noch einmal sei Friedrich Schiller zitiert, wieder aus Über das Erhabene: „Ohne das Schöne würde zwischen unserer Naturbestimmung und unserer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein.“

Die Dualität zwischen Natur und Vernunft, zwischen Trieb und Verstand, zwischen Gefühl und Ratio findet sich auch in Fool’s Paradise wieder. Wheeldon weiß sehr wohl um die Zerrissenheit, die die Hektik der gegenwärtigen Zeit in den Menschen verursacht. Und er lässt sie zur Ruhe kommen, in seinem Traum von der vornehm-edlen Liebestollerei, in der alle Splitteranteile der verbitterten und gebrochenen Persönlichkeiten wieder ausgeheilt sind.

LIEBE ALS PROJEKTARBEIT

Da tanzen mal vier Paare synchron dieselbe Schrittkombination, während in einer anderen Szene drei Paare zeitgleich drei verschiedene Pas de deux absolvieren. Das ist in dieser Vielfalt schon fast wieder „realistisch“! Und dann gibt es auch eine Phase der Vereinzelung, der Profilierung der Individuen in einer Art Solisten-Corps – man fühlt sich da schon fast wie in einer Soft-Variante von Le sacre du printemps, diesem Urballett der Moderne, das 1913 nach Musik von Igor Strawinsky in Paris uraufgeführt wurde.

Zentral ist in Fool’s Paradise aber kein Solo, wie in Le sacre, sondern ein Pas de deux, der von einem männlichen Erscheinen auf der Bühne eingeleitet wird. Es ist ein betörend weich gestaltetes Adagio, das sich zu einem machtvollen Allegro steigert und wieder in ein zuckerzartes Adagio übergeht. Verteilt ist dieser Paartanz auf vier Paare, die einander auf der Bühne ablösen. Es ist also gar kein traditioneller Grand Pas de deux, aber doch eine getanzte Beziehung, die etwas hermacht, die Lust macht auf Leben mit einem Partner, die von Loyalität und andauernder sinnlicher Anziehungskraft erzählt.

Die Ornamentik der Liebe ist in diesem Ballett außerdem leitmotivisch angelegt: Bestimmte Posen und Kombinationen wiederholen sich, unter stets neuen Vorzeichen, mit stetig erneuerten Formationen. Da ist interessant zu beobachten: Die Verschiedenheit der Menschen macht ihre Wertigkeit auch als Gruppe von Paaren aus.

Am Ende finden sich alle für ein Schlussbild ein, für den Bau einer Pyramide aus kunstvoll gebogenen Körpern – das mag eine Metapher für den Triumph der Liebe über alle Vorbehalte, Eingrenzungen, Beschränkungen sein. Liebe als Projektarbeit: Gemeinsam haben die Protagonisten, während sie tanzten, unmerklich eine neue Art der Liebe vorbereitet. Deren Schönheit ist hier kein Selbstzweck, sondern dient der Befreiung der Menschen von niederen Gefühlen und rückschrittlichen Verhaltensmustern.

Allerdings wird all das aus einer Art Freigeistigkeit heraus entwickelt, und diese bezieht sich auf die Arbeit mit den Körpern. Sieht man Christopher Wheeldon bei der Probenarbeit, dämmert es einem, dass er seine Ideale keineswegs aus Büchern oder Zeitungen hat. Obwohl er, als Mitglied der New Yorker Library Young Lions, aus karitativen Gründen Bibliotheken in den USA unterstützt. Aber bei seiner Ballettarbeit geht es ihm um den sinnenhaften, den sinnlichen Anteil des Wissens und der Kunst, wie ihn nur der Mensch mit sich selbst als Kunstinstrument auszudrücken vermag. Ballett inspiriert bei Wheeldon Ballett, ohne den bewussten Dialog mit dem, was wir „Realität“ nennen, zu suchen.

Und hat Wheeldon damit nicht sogar die Realität auf seiner Seite? Die Transzendenz entsteht im Ballett nun mal vor allem aus schweißtreibender Arbeit, verknüpft mit bestimmten konzentrierten Gedanken. Die Arbeit an den lebenden Skulpturen, zu denen die tanzenden Körper in Wheeldons Choreografien werden, ist dennoch eine betont körperliche, denn die Details in der anspruchsvollen Ballettarbeit sind keine Kleinigkeiten.

„Atme, wenn du auf einem Bein stehst!“ – „Dreh den Fuß, das Bein, in der Luft noch weiter auswärts!“ – „Dein Unterarm muss hier kreisen wie ein Propeller!“ – „Stellt euch euch selbst als mehr grafisch vor!“ – Diese Anweisungen Wheeldons an Tänzerinnen und Tänzer sprechen für sich. Es ist nicht die Gloriole der puren Gedankenkraft, die seine Arbeit zum Erstrahlen bringt, sondern die praktische Vorgehensweise.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Am Ende triumphiert das Ensemble aus neun Solisten mit einem „Menschenturm“ der Liebe und Zuneigung, der Individualität und doch auch des Kollektivs: Das Wiener Staatsballett in Christopher Wheeldons „Fool’s Paradise“. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Funken sprühen dabei, weil er verstanden wird. Von seinen Tänzern, von seinem Publikum. Die Form ist der Inhalt, weil der Kontext sie dazu macht. Die instrumentalisierte Naturhaftigkeit, die Wheeldons Figural Auftrieb verleiht, findet sich auch bei Friedrich Schiller, in Über das Erhabene solchermaßen formuliert: „Das höchste Ideal, wonach wir ringen, ist, mit der physischen Welt, als der Bewahrerin unserer Glückseligkeit, in gutem Vernehmen zu bleiben, ohne darum genötigt zu sein, mit der moralischen zu brechen, die unsere Würde bestimmt.“

Das Fremde, es wird sich also durch das Lieben angeeignet und so ein Teil des liebenden Selbst. Natur und Mensch, Liebe und Erhabenheit sind solchermaßen unzertrennbar verquickt – so, wie im Ballett die Körper, die Geister und die Seelen eine Einheit in Zeit und Raum bilden.
Gisela Sonnenburg

Siehe auch: das Programmheft zur Vorstellung, dem der Essay Liebe als fremde Macht von Gisela Sonnenburg entnommen ist.

Premiere ist heute, am 29. Oktober 2015, in der Wiener Staatsoper.

Weitere Vorstellungen: am 31.10.; am 3., 6. und 10. November 2015

www.wiener-staatsoper.at

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Anmerkung: Der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Österreich ist wegen der Flüchtlingstrecks derzeit unregelmäßig, und es kommt zu starken Verspätungen. Andere Garantien werden nicht übernommen. Das aus Deutschland kommende Publikum sollte also dieses Mal besser fliegen oder das Auto benutzen!

ballett journal