Mehr als nur Wiener Walzerfreuden Zwei feine Uraufführungen von Jiří Bubeníček beim „Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2016“: „Außer Rand und Band“ und „Kaiserwalzer“ – ein süffisant-beschwingter Jahresbeginn

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Otto Bubenicek fotografierte einen romantisch-gedankenvollen Moment mit der traumhaft-träumenden Primaballerina Olga Esina bei den Dreharbeiten in Schloss Schönbrunn fürs „Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2016“.

Das ist selten: gleich zwei Uraufführungen in einer Sendung im Fernsehen zu erleben. Am Neujahrstag gab es das vormittags live im ZDF, in der Wiederholung am 3. Januar 2016 zur Prime time auf 3sat, mit dem Wiener Staatsballett. Gestatten: Jiří Bubeníček, Choreograf. Der hoch begabte Tscheche, der bis November 2015 als Startänzer, zuletzt beim Semperoper Ballett in Dresden, reüssierte, hat die Seite im Ballettsaal erfolgreich gewechselt – und ist jetzt im Hauptberuf Tanzschöpfer. Mit blendenden Aussichten: Er und sein ihm als persönlicher Assistent zur Seite stehender Zwillingsbruder Otto Bubeníček sind als Team für die kommenden zwei Jahre bereits ausgebucht. Internationale Verpflichtungen warten auf die beiden: Kooperationen mit Theatern und Opernhäusern, meistens, um neue Ballette zu erschaffen, manchmal aber auch, um sich in einem Crossover-Projekt, etwa von Ljubljana aus, tourneemäßig mit einem Theaterregisseur zu arrangieren.

Zunächst aber: „Prosit Neujahr 2016!“ Das wünschten die fast nur männlich besetzten Wiener Philharmoniker (nicht zu verwechseln mit dem etwas moderneren Orchester der Wiener Staatsoper) mit ihrem Dirigenten des Tages, Mariss Jansons. Sie spielten, wie zu Neujahr üblich, im Wiener Musikverein auf, in dieser prunkbeladenen, fantastisch tunnelförmigen Stätte des Wohlstands mit ihrem feudal-großbürgerlichen Flair.

Dass der von den Wiener Blumenhändlern gespendete Blumenschmuck mit seinen vielen Rosé-, Lachs- und Pinktönen nicht wirklich gut in die vor allem orangegoldene Halle passte (kräftiges, dunkles Rot und Kornblumenblau sowie knalliges Gelb sind da die organischeren Farben), sei nachgesehen. Dass aber der Dirigent in der ersten Hälfte des Konzerts viel zu stark geschminkt war, sodass sein beim Dirigieren stets sehr aufregend zu betrachtendes Gesicht nahezu maskenhaft wirkte (oder wie mit Plastik übergossen), trübte den optischen Genuss schon eher nachhaltig.

Nach der Pause, in der die Fernsehzuschauer mit einer Collage über Salzburg und die Alpen nebst Blasmusik und Biergarten-Impressionen wie aus einem Rentnerparadies malträtiert wurden, war Mariss Jansons’ Gesicht aber deutlich natürlicher anzuschauen, sei es, weil er sich einen Teil der Maskerade abgewischt hatte, oder auch, weil der enorme Schweißausstoß bei solchen kulturellen Großunternehmungen seinen hier sehr willkommenen Tribut gefordert hatte.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Mariss Jansons, der Dirigent, ist nicht nur das Zuhören seiner Musik wert – sondern auch das Ansehen seines Gesichts beim Dirigieren. Hier spricht er im Interview in der Doku zum „Neujahrskonzert 2016“ von Michael Beyer. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wirklich: Jansons’ Mimik beim Dirigieren ist ein stummes, dennoch beredtes Konzert für sich. Schon darum sind DVDs mit ihm zu empfehlen. Dass er auch am Taktstock zu allerlei Raffinessen fähig ist und jedem noch so altbekannten Gassenhauer eine neue, mitunter fast expressiv-experimentelle Note abzugewinnen weiß, bewies er am 1.1.2016 ein weiteres Mal, spätestens bei der Zugabe „An der schönen blauen Donau“, dem „Donauwalzer“, den er zunächst haarfein zu sezieren schien, bevor er im letzten Viertel des Stücks apotheosenhaft sinfonisch aufzudrehen wusste. Ein großartiger Ohrenschmaus!

Dennoch war Mariss dieses Jahr, in dem das Wiener Neujahrskonzert übrigens zum 75. Mal gegeben wurde, nicht die Hauptattraktion. Sondern: das Ballett! Dieses nahm, mit zahlreichen sommerlichen Außendrehs, zudem einen Vorgriff auf die schönere Jahreszeit vor – es hat halt seinen Vorteil, dass Fernsehen nicht immer komplett live senden muss.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

EIn Jockey und sein Pferd – Symbiosen, die für manche zum Lebensinhalt werden. Foto vom Dreh für den „Kaiserwalzer“ von Jiri Bubenicek in Wien: Otto Bobenicek

Eine über 20-minütige, wirklich hochrangig gemachte TV-Doku von Michael Beyer hatte den Zuschauern des ORF in Österreich (sowie der Facebook-Gemeinde) bereits gebührend Appetit auf zwei neue Petitessen aus den schönen Meisterhänden von Jiří Bubeníček gemacht.

Darin erzählte Bubeníček, dass es in „Außer Rand und Band“, einer Polka von Eduard Strauss (einem Bruder von Johann Strauss Sohn) um das Geschehen bei einem Pferderennen gehe. Tatsächlich war der Drehort die alte Galopprennbahn Freudenau, in der es einstmals eine heute unter Denkmalschutz stehende „Kaiserloge“ gab. Ein idyllisches Landschaftstableau mit sommerlicher Anmutung lockte dorthin: Jockeys ritten ihre Gäule ein; grünes Gras dräute, soweit das Auge reicht – und ein wunderhübsch geschwungener steinerner Balkon lud zum Tanzen ein.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Davide Dato vom Wiener Staatsballett in „Außer Rand und Band“ von Jiri Bubenicek: ein sexy Lebensgefühl auf der Pferderennbahn wird eingefangen. Foto: Otto Bubenicek

Zwei Herren vom Wiener Staatsballett machen den Anfang. Auf besagtem Balkon zelebrieren sie in vornehmen, fliederfarbenen Gewändern (die fantasievoll historisierenden Kostüme stammen von Emma Ryott) die hektischen Bewegungen von Menschen, die scheinbar nur mit Wettscheinen wedeln, die aber gleichzeitig mitunter ihre ganze Existenz aufs Spiel setzen. Eine intensive, aufgewühlte Stimmung entsteht. Mit einer akrobatischen Körpersprache springen die jungen Leute umeinander, als stünde die letzte Chance auf einen großen Gewinn bevor.

Eine junge Dame, mit grandioser Robe und natürlich einem verzierten Hut angetan, gesellt sich zu ihnen – auch sie ist dem Wettfieber verfallen. Die Kostüme stammen, aufwändig und nostalgisch gemacht, von der durchaus historisch, aber auch fantasievoll vorgehenden Designerin Emma Ryott.

Pferdewetten sind kein leichtes Thema für ein Ballett. Aber sie finden sich hier als Symbol fürs Spiel des Lebens wieder. Motto: Welche Möglichkeiten will man nutzen? Was will man riskieren?

Auf und ab und ab und auf geht darum das Stimmungsbarometer der drei aufgekratzten Schönheiten hier, sie wirbeln und toben miteinander herum, die Dame wird hochgeworfen, geschultert und äußerst sanft wieder herab gelassen. Aber den guten Ausblick von der Herrenschulternhöhe auf die Pferderennbahn – den hat sie sichtlich noch genießen können.

Die Geigen tirilieren, das Orchester spielt einen Tusch, Tusch, Tusch.

Drinnen, auf edlen Steinfliesen, geht das Spiel weiter. Die Formation hier: drei Herren und eine Lady… aber Sinn und Zweck des Tanzens bleiben dieselben. Die Spannung steigt, das Gefühl sprudelt hoch zu blitzschnellen Hebungen – und setzt sein Ausdrucksspiel draußen, auf einer Fläche, die von Grün umgeben ist, weiter fort.

Drei Paare sind es jetzt, die die schnelle, heiße Spielerei zum Credo einer Gesellschaft erhoben haben. Die Musik lässt ihnen aber auch keine Zeit mehr zum Nachdenken! Hui, da peitschen die Polkarhythmen, treiben rasant zu neuen Tanztaten. Die Damen benutzen die Herren, die Herren nutzen die Damen, um sich zu profilieren und aufzutrumpfen. Da, der Schlussakkord naht, noch eine Pose – und vorbei! Gerade mal zwei Minuten dauerte das Vergnügen… und enthielt doch so viel Sturm und Drang!

Die nächste Runde wird sicher ein eine neue Chance bringen… das ist beim Spielen wie im Leben so – und es ist nun wirklich nicht die unpassendste Weisheit, die ein Neujahrsballett vermitteln kann.

Aber das Wichtigste hier steht uns noch bevor! Gegen Jiří Bubeníčeks sehr originelle Aufbereitung des „Kaiserwalzers“ von Johann Strauss (Sohn) ist sein „Außer Rand und Band“ nämlich wirklich nur ein Auftakt, eine Art Appetizer. Also los!

Die Dreharbeiten im Schloss Schönbrunn mussten derweil nachts stattfinden, um den Fluss der Touristenmassen tagsüber nicht zu unterbrechen. Unheimlich wirkt hier so manche Statue im dunklen Park, aber das Team – Choreograf Jiří Bubeníček, sein persönlicher Assistent Otto Bubeníček und Regisseur Michael Beyer – fand sich dank hoher Konzentration ganz gut zurecht.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Sie sind schön, verwöhnt – und gelangweilt. Fünf junge Damen vom Wiener Staatsballett spielen mit beim „Kaiserwalzer“ von Jiri Bubenicek. Die Doku zum „Neujahrskonzert 2016“ von Michael Beyer zeigt schön die Dreharbeiten. Videostill daraus: Gisela Sonnenburg

Und da sind wir auch schon in den glamourösen Schlosshallen… Fünf elegante junge Damen langweilen sich demonstrativ bei Champagner und frischem Obst. Ach, wie lässig kann doch der Müßiggang sein! Aber Abenteuerlust funkelt den Mädels in den Augen. Und horch, da ist doch was?

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Fünf kühne junge Herrn vom Wiener Staatsballett tanzen auf: Glamour und Frivolität verbinden sich in Jiri Bubeniceks Choreografie zum „Kaiserwalzer“. Foto: Otto Bubenicek

Tatsächlich: Fünf schmucke junge Herren tanzen in der Wandelhalle nebenan. Auf rotem Teppich geben sie in ihren schwarzen Frackanzügen wahre Musterbilder der romantischen Eleganz ab. Ein schöner Anblick! Und sie spielen, bei aller Erhabenheit des klassischen Balletts, mit ihren Zylinderhüten wie ein Corps Revuetänzer im Cabaret, kess wirken sie fast damit… als hätten sie heute Nacht noch viel mehr vor.

Tatsächlich ist eine junge Nacht soeben erst angebrochen. Daher ja auch der Tatendrang der ausgeruhten Damen!

Sie trauen sich jetzt kichernd hinter den Säulen hervor, bestürmen die jungen Männer – und verlocken sie, ihnen zu folgen…

In den Gemächern finden sich nun die Paare. Da blickt Michael Beyers Kamera klug und fast diskret in einen goldgerahmten Spiegel, vor dem das Kerzenlicht flackert. Ein Pärchen lernt sich im Spiegelbild gerade tanzenderweise sehr gut kennen. Hui, da stieben die Funken!

Eine Kammer weiter tanzt die Primaballerina Olga Esina!

Hui, ihr zartviolettes Kleid wird von zahlreichen leuchtend orangefarbenen Unterröcken gefüttert. Da fliegen die Fetzen, wenn sie ihre schönen Beine hochwirft! Ihr Partner Kirill Kourlaev weiß ihr aber auch mit seinem Augenspiel zu gefallen (und nicht nur ihr!)… mit Sanftheit hebt er sie, verhilft ihr zu einer akkurat verwirbelten Glücksexistenz im Dreivierteltakt! Juchei!

Da beben sogar die Kristalllüster vor Entzücken.

Die Damen aber laufen den Herrn auch mal davon, damit diese sich nicht zu sicher fühlen. Eine kleine Jagd der Jungs auf ihre Mädchen beginnt.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Eine entzückende „Beute“ für einen verliebten Herrn: Eszter Ledán vom Wiener Staatsballett darf auch a bisserl kokett sein, in Jiri Bubeniceks „Kaiserwalzer“ fürs Neujahrskonzert 2016. Foto: Otto Bubenicek

Und wenn man sich in einer der Zimmerfluchten erneut trifft, dann tanzt man. Na, was wohl: Walzer!

Dazu ein kleiner Exkurs. Der „Walzer“ schlich sich in die abendländische Kulturgeschichte ein, ohne dass man genau wüsste, woher er kam. Fakt ist, dass schon im Mittelalter Wörter wie „walzen“ verwendet wurden, um Drehbewegungen zu bezeichnen.

Friedrich Schiller dann nennt in einer Ballade von 1781 („Eberhard der Greiner“ über einen württembergischen Grafen) den Walzer als eine Art Tanz.

Der heute als „Wiener Walzer“ bekannte Dreh bildete sich in der Zeit von 1770 bis um die Jahrhundertwende von 1800 aus. Und erlebte seinen ersten Höhepunkt während des Wiener Kongresses 1814/15.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Fünf Paare vom Wiener Staatsballett in den Kostümen von Emma Ryott für Jiri Bubeniceks „Kaiserwalzer“ – in bester Stimmung! Foto: Otto Bubenicek

Politik und Tanz gingen hier eine scharfe Verbindung ein, man kann sagen: Der Gesellschaftstanz wurde politisch wirksam. Einigkeit mit Recht und Fairness? So in etwa waren wohl die Ziele damals angesiedelt, auch wenn man sich noch längst nicht traute, Frauen zum Beispiel die gleichen Rechte zu geben wie den Männern. Aber Toleranz hielt schon auch mithilfe des beiden Geschlechtern erlaubten Tanzes Einzug in den gesellschaftlichen Konsens.

Dennoch sind die traditionellen Frauenbilder auch im Bühnentanz immer noch geprägt von der nachgiebigen Lieblichkeit der Frauen und der muskelstarken Führungskraft der Herren. Nur Choreografen, die es schaffen, diese alten Muster auch mal aufzubrechen und in die Fugen der tänzerischen Verliebtheiten viel Emanzipation einzustreuen, sind es wert, als wirklich zeitgenössisch betrachtet zu werden.

Zugegeben: Da sind Walzer und gerade das Wiener Neujahrskonzert nicht unbedingt die einfachsten Themen, um dieses Ziel zu erreichen. Aber obwohl Jiří Bubeníček die traditionellen Tanzmuster mit ihren Hebungen und Führungen durch den Mann virtuos zu bedienen weiß, gelingt ihm eben auch der Widerspruch der Damenwelt. Im Kern geht es bei seinen Paartänzen um das Wohlbefinden der Frauen, und sie sind es, die – und zwar ohne aufdringlich-penetrante Dominanz – das Zepter in der Hand haben. Sie bestimmen im Grunde, wo es lang geht!

So geht es raus in den nächtlichen Park, nachdem sich im Schloss aneinander erhitzt und reichlich im Tanz aufgeheizt wurde. Oh! Der Park ist finster, es ist späte Nacht… Die Jungs haben Taschenlampen dabei, um nicht zu stolpern, und wie dubiose Freibeuter in einem Spiel, das keinen Namen kennt, leuchten sie während des Tanzens nonchalant den Weg aus.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Tanz zu zweit im Park von Schloss Schönbrunn… im „Kaiserwalzer“ von Jiri Bubenicek. Foto. Otto Bubenicek

In einer Parkallee lässt es sich dafür vorzüglich und gleichermaßen erfrischend mit den weiblichen Schönheiten tanzen. Die fünf Paare haben sich gefunden, um diese Nacht zu genießen. Und da gibt es auch noch diesen prächtigen Brunnen, der hell in Goldfarben erleuchtet ist. Nach ihm heißen Schloss und Park: Schönbrunn. Sein Wasserfall und die Silhouette erinnern indes an den Trevi-Brunnen in Rom. Wo einst Filmmeister Fellini die Aktrice Anita Ekberg das süße Leben genießen ließ. La dolce vita auch hier, in Wien!

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Sie tanzen vor dem Brunnen, der Schloss Schönbrunn seinen Namen gab… das Wiener Staatsballett in „Kaiserwalzer“ von Jiri Bubenicek. Foto: Otto Bubenicek

Doch trotz so vieler Hedonismen sind die Pas de deux im Park von Schönbrunn etwas kantig in ihren Linien. Sie verweigern den smarten, abgerundeten Schmelz der reinen Klassik, sie würzen vielmehr das neoklassische Repertoire mit Modernismen, die leicht an Jiří Kylián und andere erinnern. Natürlich ist auch die choreografische Signatur von John Neumeier, bei dem Jiří Bubeníček dreizehn Jahre lang tanzte, als prägend zu erkennen, vor allem in den Hebefiguren, in denen Neumeier ein Genie ist, würdig, jederzeit zitiert zu werden.

Der Hamburger Ballettchef, ein mächtiger Doyen in der Tanzszene wie weltweit kein zweiter, hätte seinen ehemaligen Star Jiří Bubeníček im übrigen auch zu seiner Nijinsky-Gala 2015 auf die Bühne einladen können. 2010 durften Jiří Bubeníček, sein Bruder Otto und der Neumeier-Tänzer Alexandre Riabko dem Hamburger Gala-Publikum noch ein wunderbares Tänzerständchen à trois bieten. Sie tanzten, von drei Scheinwerfern begleitet, den „Canon in D Major“ aus Jiří Bubeníčeks Stück „Le souffle de l’esprit“: Drei inspirierend flotte Jungs in knallweißen Jeans und mit nacktem Oberkörper schwangen da synchron ihre Hüften, warfen die gestreckten Beine mit Verve empor und boten eine Zielgerade an, die von Freundschaft und Loyalität, von Souveränität und Euphorie erzählte. Toll. Und die Zuschauer flippten aus vor Begeisterung, feierten frenetisch „ihren“ für die Gala von Dresden nach Hamburg kurzzeitig heim gekommenen Jiří Bubeníček. Als wäre er der neue Chef vom Ganzen!

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Jiri Bubenicek, Michael Beyer und Otto Bubenicek (von links) bei den nächtlichen Dreharbeiten im Park von Schloss Schönbrunn. Konzentriert meisterten sie die Situation. Videstill aus der vorzüglichen Doku von Michael Beyer zum „Neujahrskonzert 2016“: Gisela Sonnenburg

Und man fragte sich schon damals, wieso dieser fleißige Solitär nicht als Nachfolger von John Neumeier im Gespräch war. Aus heutiger Sicht – bei der Entwicklung, die Neumeier mit zunehmendem Alter unübersehbar nimmt – muss man feststellen: Der Übervater des zeitgenössischen Balletts John Neumeier hat wohl Angst vor „zuviel“ Erfolg eines eigenständigen jüngeren Künstlers. Jiří Bubeníček ist aber genau das: Ein erfahrener Kreativer mit starkem Willen und gefestigter Persönlichkeit, dazu mit einem hohen Selbstanspruch, was Professionalität angeht – und eigentlich kann man sich derzeit niemanden vorstellen, der geeigneter wäre, in absehbarer Zeit eine große Ballettcompagnie zu übernehmen und zu leiten.

Bis dahin wird Jiří Bubeníček weiterhin Erfahrung sammeln, seinen Horizont noch mehr erweitern – was er als freier Künstler sehr gut tun kann – und Erfolge einheimsen. Eines Tages aber, da bin ich mir sicher, wird Jiří Bubeníček eine eigene Compagnie haben, er wird Tänzerseelen und ihre Körperkunst sich entwickeln lassen und mit ihnen Glanzstücke zur Uraufführung bringen, auf die diese beiden Neujahrshappen einen sehr guten Vorgeschmack geben.

Jiřís umfassendes Verständnis für Klassik, Neoklassik, Moderne und Zeitgenössisches wird ihm stets dabei helfen, sich seinem Publikum verständlich, aber ohne es zu langweilen, zu nähern. Seine Bildung wird es ihm erlauben, neue Pfade zu betreten – so die Reihe so genannter „Filmballette“, die er in Dortmund mit „The Piano“ begann.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Im Dunkeln ist gut Munkeln… hier zwei Zeitgenossen aus Stein im Schlosspark von Schönbrunn, während der Dreharbeiten zur Doku übers „Neujahrskonzert 2016“ von Michael Beyer. Videostill: Gisela Sonnenburg

Angenehme Überraschungen gehören da sowieso dazu. Wie beim „Kaiserwalzer“ im Schlosspark von Schönbrunn. Da laufen die Paare anmutig zwischen den Bäumen hin und her, vertändeln im Scherz und mit der Gelassenheit des Übernächtigtseins die Stunden. Wie im Zeitraffer erleben wir eine kleine Gesellschaft, die sich amüsiert und aneinander festhält, weil sie nicht aufgeben will, was sie für Kultur und für Lebensart – und auch für ihre Zivilisation – hält.

Was ist falsch daran? Ich vermisse hier keinen provozierenden Performance-Act, keinen Überfall von Hooligans aus dem Gebüsch oder aus ihrem Ghetto ausgebrochene Flüchtlinge auf der Suche nach ein bisschen Geld. Hier geht es um die Leichtigkeit des Daseins, ja, aber auch um die kulturelle Wertigkeit von Dingen, die mit Sexiness, Champagner, männlicher Schönheit und weiblicher Selbstbestimmung zu tun haben. Alle Dinge, die man in eher archaischen Gesellschaften eher gar nicht würdigt.

Diese Dinge stehen auch nicht auf der Liste der abendländisch-europäischen Kultur, die von der UNESCO als schützenswert eingestuft wurden. Aber ohne sie würde all unsere Liebe zu alten Schlössern und Baudenkmälern kaum noch einen Sinn machen. Auch davon kann Ballett erzählen – so, wenn es im nächtlichen Park von Schloss Schönbrunn stattfindet.

Die Heuchelei bleibt hier mal außen vor. Hier geht es um echte Gefühle – und um das immerwährende Spiel zwischen Mann und Frau jenseits von Verehelichungen zu wirtschaftlichen oder soziokulturellen Zwecken.

Das Flirten als Akt zwischen Personen. So simpel kann Romantik sein! Die brillante Olga Esina und der souveräne Kirill Kourlaev machen’s vor, der bildschöne Davide Dato und die kesse Nina Poláková machen’s mit: So geht das mit der Liebe beim Tanzen!

Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang dauert diese eine Nacht, eine Neujahrsnacht von sommerlichem Kaliber, eine Traumnacht eben, angefüllt mit allerhand lüsternen Träumen, ebenso wie mit zünftigen Walzerklängen.

Der „Kaiserwalzer“ wurde übrigens 1889 anlässlich einer Einweihung eines Berliner Kulturtempels, nämlich eines Konzertsaals, komponiert. Johann Strauss (Sohn) betitelte sein hörbar freundschaftlich-flirtiges Stück aber zunächst „Hand in Hand“. Die Berliner wollten es dann aus Gründen der Effekthascherei („Hand in Hand“ klingt ja eher vornehm-bescheiden) lieber knallig benannt haben. So wurde der „Kaiserwalzer“ daraus, wiewohl kein Kaiser hier irgendeinen konkret-persönlichen Bezug hat. Allerdings soll es um die freundschaftliche Verbindung zwischen Wien und Berlin gegangen sein, bei dem Kulturevent damals – insofern also herrscht in der Tat hoheitlich-versöhnliche Stimmung, sozusagen Kaiserwetter, in diesem Walzer vor.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Die Rose kommt ins Spiel… Olga Esina und Kirill Kourlaev vom Wiener Staatsballett beim finalen Pas de deux in „Kaiserwalzer“ – eine nächtliche Romanze im Schlosspark von Schönbrunn, choreografiert von Jiri Bubenicek und dokumentiert von Michael Beyer in der Doku zum „Neujahrskonzert 2016“. Foto: Otto Bubenicek

Wenn jedoch die Rose als Sinnbild für Liebe und Abenteuer ins Spiel kommt, dann fliegt der Tanz der Musik fast noch davon! In sanften anmutigen Ausfallschritten biegen sich Mann und Frau im Takt ihrer Herzen, und eine Verführung, mit Rosenduft ist sie ja gut angebahnt, darf sich, Arm in Arm dargeboten, tänzerisch voll entfalten.

Jiri Bubenicek gestaltet das Neujahrskonzert 2016.

Es ist nicht nur der Duft der Rose, der hier betört. Die brillante Olga Esina und der souveräne Kirill Kourlaev in der Schlussphase vom romantischen Teil im „Kaiserwalzer“ von Jiri Bubenicek. Foto: Otto Bubenicek

Doch dann, oh weh, der Morgen graut, wird alle Liebesvielfalt ein rasch sich auflösender Spuk. Das Erwachen droht!

Und plötzlich brausen die jungen Damen munter, wenn auch leicht übernächtigt, in einem weißen Cabrio davon, nicht etwa in einer altertümlichen Pferdekutsche… und vom Schlossbalkon aus können ihnen ihre Galane nun nicht mehr das Wasser beziehungsweise den Champagner reichen.

Da knallen die Korken umsonst, die jungen Männer bleiben auf ihren vollen Flaschen und den schon gezückten Sektgläsern im Morgenrot kurzerhand sitzen bzw. mit offenen Mündern stehen.

Ciao, ihr Schönen, bis zum nächsten Mal!

Was für ein Traum. Es geht nicht um Erfüllung und Fruchtbarkeit darin. Sondern um das Spiel und um die freundschaftlichen Bande, die man freiheitlich knüpfen kann. Das ist zeitgemäß, obwohl es nicht mit der Holzhammermethode einher kommt!

Jiří Bubeníček hat seinen Ritterschlag – den es immer bedeutet, wenn ein Choreograf das „Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker“, das in rund 30 Länder fernsehmäßig übertragen wird, tänzerisch bebildern darf – vollauf bestanden. Noch einmal sei ein frohes neues Jahr gewünscht – und dass wir auch 2016 unsere Träume nicht verlieren!
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte zu den Bubeníčeks (oder auch zum Wiener Staatsballett) hier im ballett-journal.de

www.bubenicek.eu

www.wiener-staatsoper.at

ballett journal