Prosit Neujahr 2019! Beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker: Andrey Kaydanovskiy überrascht mit modernen Interpretationen von Walzer und Czardas, exzellent gewirbelt vom Wiener Staatsballett

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Mann und Frau, unverhofft auf der Bühne: so zu sehen im „Künstlerleben“ von Andrey Kaydanovskiy beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019, das vom ZDF live übertragen wurde. Videostill vom ZDF: Gisela Sonnenburg

Erst seit 1877 darf man in der Wiener Staatsoper mal einfach so das Tanzbein schwingen. Holla, und heuer ist der Wiener Opernball ebenso legendär wie das Wiener Staatsballett! Immer wieder schön: das international im Fernsehen vormittags live übertragene Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker aus dem dafür mit Blumen geschmückten Wiener Musikverein, das stets mit zwei Tanzfilmpremieren überrascht: Zu sehen sind speziell für die historischen Locations choreografierte Kurzballette. Während renommierte Dirigenten sich um die Orchesterführung mit  Walzersyndrom reißen, ist die Ballettdarbietung oft eine Chance für einen jungen Choreografen. Dieses Jahr dirigierte Christian Thielemann die Walzerflut, erwartungsgemäß mit viel Sinn für Leichtigkeit. Der absolut ernst zu nehmende Nachwuchschoreograf Andrey Kaydanovskiy begeisterte indes mit einer modernen Auffassung vom Wiener Walzer – und hatte dafür im verspielt-neoklassischen Designer Arthur Arbesser einen modebewussten Verbündeten.

Andrey Kaydanovskiy kommt aus Moskau, ist der Sohn einer Ballerina und eines Filmregisseurs. Als Balletttänzer ist er seit 2007 beim Wiener Staatsballett engagiert, derzeit als Demi-Solist. Er choreografiert aber bereits fleißig – und darf sich über Lob und Förderung auch von Igor Zelensky, Ballettdirektor vom Bayerischen Staatsballett in München, freuen.

Tatsächlich hat Kaydanovskiy unübersehbar ein sprudelndes choreografisches Talent, zudem Sinn für Raffinesse und Hintersinn – und ein ganz besonderes Gespür für räumliche Realisierungen.

Vor allem die Referenz Kaydanovskiys an die Wiener Staatsoper, die in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen feiert, ist ein gelungenes Exposé für ein neues Zeitalter. „Künstlerleben“ heißt der wirbelnde Walzer von Johann Strauss (Sohn), der dem zugrunde liegt. Für Kaydanovskiy heißt er implizit sozusagen „Tänzerleben“ – und seine köstlich quirlige Referenz ans Opernleben entbehrt nicht des Doppelsinns.

Raumgreifend und voller Humor tänzeln da Ballerinen wie Olga Esina, Alice Firenze und Nikisha Fogo in extravaganten Posen übers Parkett.

Anmutig, dennoch sehr modern – aha, das geht!

Die jungen Damen besiedeln, unterstützt von tatkräftigen Ballerinos in modern-eleganten Outfits, gleichermaßen wie im Traum die vielen Gänge und Atrien der goldüberfrachteten, ehrwürdigen Wiener Staatsoper. So kann man sich das 19. Jahrhundert auch aneignen!

Besonders schön zudem: Kamerafahrten, die entweder das Bild drehten oder zeitgleich Einblicke auf verschiedene Etagen des Hauses erlaubten, und überall wurde lässig, aber grazil getanzt. In gepunkteten Strumpfhosen ebenso wie in gestreiften Gazeröcken. In Spitzenschuhe wie auf halber Spitze, wohl wegen der lautlosen Schnelligkeit.

So wird nahezu avantgardistisch, aber nie hässlich oder nachlässig die Welt mit Künstlerblick erforscht – und natürlich auch das Miteinander, juchhei!

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Ausprobieren, was geht und was nicht – ein Paar im „Künstlerleben“ von Andrey Kaydanovskiy, getanzt vom Wiener Staatsballett. Videostill vom Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019 / ZDF: Gisela Sonnenburg

Pantomimische Bewegungen erinnerten an märchenhafte Entdeckungsreisen, in furiosem Tempo wurde scheinbar ausprobiert, was geht und was nicht.

Auch auf Sofas! Und in Nischen, die einen Guckkasteneffekt besorgen. Sehr schön war es zu sehen, wie Kaydanovskiy die Innenarchitektur der Oper zu nutzen wusste!

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Oh! Wo sind wir denn hier gelandet? Ist das schön! Das Wiener Staatsballett im „Künstlerleben“ von Andrey Kaydanovskiy live im ZDF. Videostill vom Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019: Gisela Sonnenburg

Plötzlich aber standen die Schönen da, wo man sie normalerweise sonst auch sieht, also auf der Bühne, und der Vorhang hob sich – und die Sensation war der Zuschauersaal…

Der Tanz wurde vom leichtsinnigen Selbstzweck solchermaßen zur probenartigen Voraufführung ohne Publikum.

Heiter, fast albern wirbelten die walzerseligen Selbstvergessenen da miteinander herum – am Ende ließ Choreograf Kaydanovskiy sie aber begeistert in das Parkett stürmen und von dort aus staunend auf die dann leere Bühne schauen.

Denn in jedem Künstler steckt auch ein Zuschauer!

Ha! Es wäre ja auch noch schöner, wenn Tänzer nicht wüssten, was gespielt wird und wie es ausschaut.

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Ah! Man kann vom Zuschauersaal aus ja vorzüglich auf die Bühne schauen! Auch als Künstler… Videostill vom Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019 mit dem Wiener Staatsballett: Gisela Sonnenburg

Vor dem Hintergrund, dass Balletttänzer altersbedingt mitten im Leben den Beruf wechseln müssen, hat diese überraschende Wandlung von Tanzenden zu Schauenden sogar einen philosophischen, wenn nicht gar lebenspraktischen Hintergrund.

Bravo, Andrey Kaydanovskiy!

Die zweite Einlage war dann allerdings keine so runde Sache, vielmehr eine bewusst sperrige Angelegenheit: zu einem heißblütigen Czardás – ebenfalls von Johann Strauss (Sohn) – und gefilmt im Schloss Grafenegg und in dessen Park, wurden die Tänzer in geometrische, monochrom quietschbunte, poppig-peppige Kostüme gesteckt, die aussahen wie von Miró oder auch von Vivienne Westwood inspiriert.

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Die Kamera sieht am meisten: Blick auf Ballettkünstler im Parkett am Ende vom „Künstlerleben“. Videostill vom Wiener Staatsballett / Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker: Gisela Sonnenburg

Zu derart mitreißenden, temperamentvollen, folkloristischen Klängen kann man aber doch unmöglich eine so unterkühlt wirkende, „eckige“ Garderobe tragen. Hätte Kaydanovskiy doch gebrüllt: „Weg damit, Kollege Modemacher Arbesser! Ich will hier Rüschen! Gebt mir Rüschen! Oder auch Nacktheit! Oder irgendwelche Fetzen! Aber keine Geometrie! Wir sind doch nicht bei Schlemmer!“

Aber wie das Künstlerschicksal halt so spielt… irgendwie hatte man sich von den kühnen Klamotten wohl einen besonders stylischen Eindruck versprochen.

Ballett beim Wiener Neujahrskonzert 2019

Leisten sehr gute Arbeit: Olga Esina und Jakob Feyferlik mit Choreograf Andrey Kaydanovskiy (rechts) vom Wiener Staatsballett. Foto vom ORF / Günther Pichelkostner

Mit fast gymnastischen Übungen im allgemein zeitgenössisch üblichen Freizeitballettstil versuchte Kaydanovskiy die Sache zu retten – was auch halbwegs gelang, denn immerhin übertrug sich so die gute Laune der exzellenten Tänzerinnen und Tänzer.

Aber insgesamt war diese rasant kurze Einlage der Beweis dafür, dass nicht jede Art von Kostüm mit jeder Art von Musik mal eben kombinierbar ist, zumal nicht, wenn der „plüschige“ Rahmen eines Schlossgarten-Ambientes eine gewisse Eins-zu-Eins-Wahrnehmung verlangt.

Geometrie zu Czardas-Klängen – ganz schön gewagt! Das Wiener Staatsballett im Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019, hier Davide Dato und Alice Firenze. Foto: ORF / Thomas Jantzen

Als ausgeflipptes Hyperballett in einem Sci-Fi-Set – vielleicht an Bord vom Raumschiff Orion – wäre das noch etwas ganz anderes gewesen! Aber dazu brauchte man als Zuschauer schon arg viel Fantasie…

So leuchtet beim ersten Rückblick des Jahres im Paradies der Erinnerung die gelungene Kombination aus Alt und Neu von Kaydanovskiys „Künstlerleben“ , auch und gerade weil dieses Stück gen Ende eine so überraschende, witzige Auflösung findet.

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Weiter so! Heiter bei ideellem Tiefgang!

Und natürlich: Prosit Neujahr!
Gisela Sonnenburg

Wiederholung auf 3sat am 5.1.2019, 20.15 Uhr

Und: Im Handel ist sind eine DVD und eine Blu-Ray erhältlich, die die beiden Ballettstücke – mit richtiger Tonspur, was den Czardás erheblich verbessert, denn im Fernsehen war da was verrutscht – als Bonus-Programme enthalten. Eine lohnende Investition mit nostalgischem Walzerschwungwert für den Rest des Jahres! – GS

 

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