Suizidschwan und Piratenbräute Arte experimentiert mit Ballett: Neben einer Gala vom Mariinski-Theater von 2013 gibt es auch – sogar live in neuartiger Technik – die Wiener Version von „Le Corsaire“ von Manuel Legris

Ob ein Korsar oder ein Suizidschwan - Arte bietet beides.

„Le Corsaire“ ist natürlich schon von der Figur, die sich literarisch an Lord Byron anlehnt, her immer ein Hingucker. Hier beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Man weiß nicht so recht, ob das nun gute oder böse Neuigkeiten sind: Arte zeigt zwar am 2. April 2016, und zwar von 19 Uhr an, live die neue Inszenierung von „Le Corsaire“ von Manuel Legris vom Wiener Staatsballett. Aber: Die Sache ist ein technisches Versuchskaninchen, denn Arte experimentiert mit verschiedenen Kanälen, um die technische Qualität der Übertragung in einen neuen Superlativ zu überführen. Immerhin gibt es das Stück dann im Anschluss einige Wochen lang kostenlos auf concert.arte.tv zu sehen – und dort läuft auch aktuell schon mein herzenswerter TV-Tipp dieses ausgehenden Winters, was Ballett angeht: Die „Eröffnungsgala des Mariinski-Theaters II“.

Sie ist zwar von 2013, aber das tut ihrer Qualität und Besonderheit keinen Abbruch. Man muss dazu sagen, dass sie vor allem solche Ballettfreunde gut bedient, die auch Oper und Gesang sehr zu schätzen wissen. Denn der Erweiterungsbau vom ehrwürdigen Mariinski in Sankt Petersburg ist ein modernes, großformatiges Theater, wie man es von den hochkarätigen Russen erwartet – es bezaubert mit einer wohltuend proportionierten Riesenbühne und einem selbstredend über alle Zweifel erhabenen Orchester.

Ob ein Korsar oder ein Suizidschwan - Arte bietet beides.

Valery Gergiev und seine typischen „Fingerflatterbewegungen“ beim Dirigieren: als würden seine Hände tanzen… so zu sehen bei der Gala aus dem Mariinski-Theater II auf Arte und conert.arte.tv. Videostill: Gisela Sonnenburg

Dieses spielt unter Valery Gergiev, und als Mariinsky-Intendant toppt er hier, in dieser Aufnahme von 2013, einfach alles, was man auf diesem Gebiet bis heute so kennt. Das Elixier kostbarster Orchesterbewegungen beginnt mit dem „Tanz der Ritter“ aus Sergej Prokofieffs „Romeo und Julia“ – leider ohne Ballettdarbietung, sondern als Ouvertüre gespielt. Nun kenne ich diese Musik sehr gut – aber was Gergiev hier an Trommelschlägen und Streicherakkorden auffährt, ist einfach phänomenal. Man wünscht ihn sich darum fast auch in Deutschland als Ballettdirigenten, wiewohl es aus ganz anderen als künstlerischen Gründen Vorbehalte gegen ihn gibt. Dazu später hier mehr.

In dieser Gala aber setzt Gergiev alles ein, was er als Maestro zu bieten hat. So die für ihn typischen und von der Kamera eifrig eingefangenen Fingerflatterbewegungen: Sie entlocken dem vor ihm sitzenden Klangkörper, also dem großen Orchester, eine zarte, aber gestochen saubere, zudem außerordentlich gefühlvolle Textur. Man könnte erschauern, so füllig und dennoch grazil sind diese Klänge!

Mit Gergiev als Person ist es indes so eine Sache. Seit er sich als Putin-treuer Vasall offen gegen Homosexuelle stellte und einen schlimmen Ächtungsaufruf unterschrieb, ist er international immer wieder Ziel von Gegendemos, wenn er beispielsweise in New York dirigiert. Dennoch ist unbestritten, dass er als Dirigent fast Daniel Barenboim – der nicht nur meiner Meinung nach der bedeutendste aller lebenden Dirigenten ist – das Wasser reichen kann. Gerade für Ballett (das Barenboim kaum noch dirigiert) ist Gergiev aber ein absoluter Experte, der auch populären Partituren noch überraschende Novitäten hörbarer Schönheit abgewinnt, ohne dass dieses unorganisch oder zwanghaft originell wirken würde. Seit September 2015 ist er übrigens zusätzlich zu seinem Mariinski-Job auch Chef der Münchner Philharmoniker, einem reinen Konzertorchester. Im Mai 2013, als die hier behandelte Gala aufgezeichnet wurde, war das bereits entschieden. 2014 barmte Gergiev dann auf politischen Druck aus München darum, verstanden zu werden: Er sei Russe, in seiner Kultur würden so manche Tabus gelten, die aufzuheben es noch viele Jahre brauchen würde. Nun ja: Wenn alle so handeln wie er, gibt es niemals liberale Fortschritte. So darf man getrost jeden Mitläufer aus jedem Land auf den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant verweisen – und ihm Mut zusprechen.

Ein kleiner Einschub sei erlaubt: Künstler sind nun mal menschlich nicht immer Vorbilder, oft sogar sind sie das genaue Gegenteil – damit muss man sich früh abfinden, wenn man sich mit Kunst und Kultur beschäftigt. Man denke nur an den wirklich unanständigen Verschleiß von Frauen, den viele große Kulturschaffende wie etwa Bertolt Brecht sich leisteten und leisten; und nicht nur Möchte-gern-Großmannsüchtige aus dem biederbürgerlichen Milieu schieben heutzutage ihre langjährigen Partnerinnen allzu leichten Herzens ab, wenn diese sich nicht genügend liften und aufspritzen lassen – und sie gründen, während ihre einstige bessere Hälfte in die Wechseljahre kommt und die erwachsen gewordenen Kinder ausziehen, mit einer neuen Partnerin, die altersmäßig oder vom Aussehen her ihre Tochter sein könnte, einfach eine zweite Familie. Als sei dieser Planet Erde nicht ohnehin schon überbevölkert von federlosen zweibeinigen Chauvinisten…

Ob ein Korsar oder ein Suizidschwan - Arte bietet beides.

Die „weißen Schatten“ aus dem Ballett „La Bayadère“ auf der großen Bühne des Mariinski-Theaters II: zu bestaunen in der Eröffnungsgala auf Arte. Videostill: Gisela Sonnenburg

Zurück zum Ballett im Fernsehen. Die Gala aus dem Mariinski bietet nach dem Rittertanz eine wundervoll lyrische Gergiev-Interpretation des berühmten Aufzugs vom „Schattenballett“ aus „La Bayadère“ von Ludwig Minkus. So fein perlen hier die vielen Klänge, als seien sie nur von spinnwebartig im Hintergrund wirkenden Fäden der Motivik zusammen gehalten. Doch, Valery Gergiev gelang mal wieder ein atemberaubender Coup damit!

Dazu dann die nahezu vollendet aufmarschierenden Tutu-Mädchen vom weltberühmten Mariinski-Ballett zu sehen, ist ein weiteres großes Glück; im prallen Serpentinenschwall präsentieren sie sich ungekünstelt und dennoch mit hoch künstlerischer Perfektionshaltung. Obwohl hier nur der Einzug der „weißen Schatten“ gezeigt wird (und nicht der ganze „weiße Akt“ aus der „Bayadère“), berückt die Sache doch ungemein.

In dem dann folgenden superben Pas de deux „Leda und der Schwan“ von Roland Petit – in dem hier vor allem die heutige Wiener Primaballerina Olga Esina brilliert – zeigt sich ein deutlich moderneres Flair. Hier wirkt Petipa allerdings fast neoklassizistisch; die Ballettmeister haben ihn offenbar nah an George Balanchine gerückt. Da gab es seither auch schon andere, mehr romantisch-psychologische Interpretationen dieses Gala-Stücks, etwa 2014 von Vladimir Malakhov und Nadja Saidakova beim Staatsballett Berlin. Zwei Jahre ist das erst her – aber es könnten auch vier oder fünf Jahre sein, in gefühlter Hinsicht ist die Ballettzeit in Berlin seither unmäßig verronnen.

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„Leda und der Schwan“, ein elegisch-elegantes Pas de deux von Roland Petit, hier auf der Eröffnungsgala im Mariinski-Theater II in Sankt Petersburg. Zu sehen auf Arte und concert.arte.tv! Videostill: Gisela Sonnenburg

Dafür wird im zweiten Mariinski dem klassischen „Sterbenden Schwan“ in der Interpretation von Ekaterina Kondaurova eine sehr neue, betont akrobatisch-dynamische Note verliehen. Das Rührstück typischer Gala-Programme erhält somit den Anstrich eines fatalistischen „modernen“ Sterbens – fast ist es, als wolle dieser Schwan dem Leben entrinnen. Vielleicht ist er unglücklich verliebt und entsagt darum jeder Lebensfreude von sich aus? Zumindest ist das hier die hübscheste Darstellung einer Todessehnsucht, die man sich vorstellen kann. Es handelt sich also vermutlich wirklich um einen Suizid-Schwan – sehr mutig!

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Der „Sterbende Schwan“, von Ekaterina Kondaurova wie mit Todessehnsucht ganz neu interpretiert – auch Gergiev applaudiert ihr! Zu sehen auf Arte… Videostill: Gisela Sonnenburg

Soweit die köstlichen Ballett-Stücke der Gala. Mitreißend sind aber auch die Opernbestandteile dieses Programms.

Allen voran der Mikhail-Petrenko-Chor mit einem bekannten russischen Volkslied: „Hey, Ukhnem!“ („Ey, hauruck!“) singt da der Vorsänger mit einem machtvollen Bassbariton, der einem direkt ins Blut geht und einen erzittern lässt vor Freude! So etwas können wohl nur die Russen, denkt man da unwillkürlich, und ob das so stimmt oder nicht, ist jetzt mal egal – es ist ein Genuss ohnegleichen, diesen Männergesang zu hören, der ohne überschnappendes Vibrato und ohne forcierte Stärke einher kommt.

Und dann erst der Chor dazu! Lauter satte Männerstimmen, von Gergiev absolut in Harmonie und auf Linie gebracht. Ach, welch eine Wonne!

Langsam schwellen Melodie und Rhythmik an, das Orchester intoniert dazu helle Liedfragmente, während der Vorsänger weiterhin stimmliche Kräfte der Tiefe in sich mobilisiert. „Wir singen der Sonne unser Lied“, heißt es da, während die Wolga als „Mutterstrom“, als „tief und breit“ und offenbar unendlich schön beschworen wird.

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Der Mikhail-Petrenko-Chor beschwört die Wolga, in einem alten russischen Volkslied – was für eine Gesangskunst! Zu hören mit Arte… Videostill: Gisela Sonnenburg

„Aj-da, aj-da-da-dajda!“ Und: „Noch einmal, ja noch einmal!“ Am Ende ist die „Hauruck“-Melodie dann aber ein so virtuos-zartes Klanggebilde, aus der Sängerkehle kommend wie ein allerletzter Atem, dass man das Lied durchaus als Allegorie auf das Leben insgesamt, inklusive eines Akt des Sterbens interpretieren kann. Huch, schon wieder ein luxuriöser Tod… aber ist er nicht auch ein wichtiges Thema in unserer Altersgesellschaft?

Nach so viel Tiefsinn heischender Dramatik läuft das normal Tragische denn auch nachgerade flott über die Bühne: René Pape schmettert Charles Gounods „Faust“, o làlà, die französische Sprache hat eben auch ihre ganz eigenen schimmernden Facetten als Opernsprache.

Und Plácido Domingo, der hier mit einer Arie aus Wagners „Walküre“ gar nicht alt, sondern sehr stark wirkt, muss man gar nicht erst anpreisen; er sorgt ohnehin für Ovationen, sicherlich auch beim geneigten Fernsehzuschauer oder Internetnutzer.

Anna Netrebko ist dann ein weiteres Highlight (mit Mozarts „Reich mir die Hand, mein Leben“): Fast ekstatisch ist ihr Gesang, zugleich aber kontrolliert und leicht wie der Ruf eines die Lüfte beherrschenden Vogels.

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Anna Netrebko herself – hier mit Mozart im sängerischen Gepäck und bei bester Stimmung und Stimmlage. Zu besichtigen auf concert.arte.tv und Arte. Videostill: Gisela Sonnenburg

Keine ganze Stunde dauert diese Gala, aber sie ist ein intensives, von keinem Moderatorengesabbel durchsetztes Konzentrat hoher und höchster Opern- und Ballettkünste. Computertechnisch eingesetzte Videospielereien zu Beginn wären zwar definitiv verzichtbar, aber: Wer richtig gern ganz früh am Morgen aufsteht, der kann dieses Gala-Wunder noch zwei Mal im April auf Arte in seinem Fernseher erleben. Ansonsten erwartet uns auf arte.concert.tv dieser Augen- und Ohrenschmaus bei freier Zeitwahl: um wieder und wieder genossen zu werden – und auch, um wieder und wieder Gergievs Persönlichkeit zu bedenken, mit einem angemessenen schönen Schauer.

Die zweite Delikatesse, die Arte uns aktuell besorgt, ist, wie schon gesagt, das gleich in doppelter Hinsicht als ballettöses Versuchskaninchen angekündigte Piratenballett „Le Corsaire“. Hierin hat der Wiener Ballettdirektor Manuel Legris versucht, aus sich und aus dem Vollen zu schöpfen: in nahezu überbordender, für meinen Geschmack stilistisch etwas zu wahllos abgemischter Farbenpracht (durch Kostüme von Luisa Spinatelli) kommt die altbekannte Geschichte mit einigen Raffungen und Vereinfachungen einher.

Ob dieses Werk von Legris mit der meiner Meinung nach absolut fantastischen Aufbereitung des Stücks in München – beim Wien nahezu benachbarten Bayerischen Staatsballett durch Ivan Liška – nun viel Ähnlichkeit hat oder nicht? Das kann ich leider derzeit nicht sagen, denn ich kenne die Wiener Fassung nur rudimentär und auszugsweise. Immerhin behauptet Legris, er habe seine ganz eigene Version erstellt und sei dabei unbeeinflusst von anderen gewesen. Das klingt etwas dilettantisch, denn wenigstens kennen sollte man andere Versionen, bevor man so ein Mammutwerk der Klassik in Angriff nimmt. Aber Legris will wohl betont haben, dass er zumindest nicht allzu sehr bei anderen abgeschaut habe.

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Ein Pascha und viele Haremsdamen… so sieht es aus in der Piratenklamotte „Le Corsaire“, die man nicht allzu ernst nehmen darf: Es handelt sich um romantischen Klamauk… zu sehen mit dem Wiener Staatsballettt auf Arte und danach auf concert.arte.tv. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

In Paris, wo Legris lange Zeit Tänzer und Étoile war, stand „Le Corsaire“ jedoch während all dieser Jahre nicht auf dem Spielplan. Auch die anderen international bekannten Versionen – siehe den Hauptbeitrag zu „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett hier im ballett-journal.de – haben Legris angeblich nicht entscheidend inspiriert. Sondern er hält sich strikt an die Tradition von Marius Petipa, insoweit sie Legris überliefert und plausibel erscheint. Hilfe von einem rekonstruierenden Experten hatte er dabei anscheinend nicht. Wissenschaftlich ging Legris also nicht gerade vor, das muss er auch nicht unbedingt, denn die Kunst ist ja frei. Aber ob das entstandene Gemisch aus Alt und Neu nun restlos zu überzeugen weiß, wird wohl jeder Zuschauer für sich entscheiden müssen. Von vornherein steht das nicht unbedingt fest.

Der Wiener „Standard“ alias sein Kritiker Helmut Ploebst befand sogar, dass das Frauen- und Männerbild hier bei Legris gar zu simpel, sogar regelrecht „sexistisch“ geraten sei; die neckische Überdrehtheit und die sanfte Clownerie der Inszenierung von Liškas Münchner Version hat Legris’ Fassung demnach eher nicht.

Ob ein Korsar oder ein Suizidschwan - Arte bietet beides.

Wieviel Ähnlichkeit die Inszenierung aus Wien mit der in München hat? Man wird es sehen! Auf Arte und dann auf concert.arte.tv. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Vielleicht aber begeistern die Wiener Ballerinen und Ballerini ja derart, dass man dennoch kaum die Finger vom Stück lassen möchte. Die schöne Maria Yakovleva als Médora, der unbeugsame Robert Gabdullin als Conrad und die edle Liudmila Konovalova als Gulnare sowie der ausdrucksstarke Kirill Kourlaev als Lanquedem und der tolle Davide Dato als Birbanto sollten in jedem Fall schon mal für Zunder sorgen!

Jede Menge vielfache Pirouetten der Piraten und ihrer Bräute (auch in der Spitzenschuh-bewehrten Damenwelt) sowie  natürlich etliche Meter hohe und weite, typisch „russische“ Sprünge der seeräubernden Herren erfreuen in „Le Corsaire“ normalerweise ja jedes klassisch ausgerichtete Ballettfanherz.

Ob die tänzerische Technik aber durch die von Arte versprochene, neuartige HD-Technik weniger technisch, dafür auch künstlerisch inspirierend wirkt, sei dahin gestellt. Man darf aber gespannt sein.
Gisela Sonnenburg

„Le Corsaire“ live aus der Wiener Oper auf Arte (mit Receiver), ansonsten auf concert.arte,tv: am 2. April 2016, ab 19 Uhr (bis 21.35 Uhr inklusive zwei Theater-Pausen); danach auf concert.arte.tv 

„Le Corsaire“ in der Münchner Version: leider nie im Fernsehen, aber noch einmal live im Nationaltheater, und zwar am 9. April 2016, während der BallettFestwoche! (Mehr dazu hier: www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-le-corsaire/)

Eröffnungsgala des Mariinski-Theaters II auf Arte: am 7. April 2016, 5 Uhr, sowie am 11. April 2016, 5.15 Uhr – sowie schon aktuell zu jeder Tages- und Nachtzeit auf concert.arte.tv

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