Freude schöner Tänzerfunken Arte erhebt den Nikolaustag zum Tanztag – und sendet einen Tag und eine Nacht lang Ballett und Tanz bis zum Abwinken

Arte erhebt den Nikolaustag zum Tag des Balletts.

Das Béjart Ballet Lausanne und das Tokyo Ballet tanzten im November 2014 Maurice Béjarts „Die neunte Symphonie“ – arte zeigt die Aufzeichnung zum Nikolaustag 2015. Also, eigentlich in der Nikolausnacht… Foto / Videostill vom Werbetrailer von arte: Gisela Sonnenburg

Das Konzept leuchtet nicht wirklich ein. Wer mag schon den ganzen Tag und die halbe Nacht vor der Glotze verbringen? So beknackt sind nicht mal wir Ballettfans. Dennoch versucht arte mal was Neues in diese Richtung und bombardiert das Publikum am Nikolaustag, der in diesem Jahr der zweite Adventssonntag ist, mit Tanz und Ballett satt. Es beginnt am Vormittag und endet spät nachts – Highlights sind „Don Quichotte“ in der Inszenierung von Rudolf Nurejew (in einer Aufzeichnung von 2012 aus der Pariser Oper) um die Mittagszeit sowie die nächtliche Ausstrahlung der taufrischen Aufzeichnung von Maurice Béjarts „Die neunte Symphonie“, getanzt vom Béjart Ballet Lausanne und dem Tokyo Ballet.

Spätaufsteher verpassen also nicht viel, sondern schwingen sich ausgeschlafen und nach einem guten Frühstück um 13.45 Uhr vor den Fernseher, um „Don Quichotte“ mit Dorothée Gilbert und Stéphane Bullion in den Hauptrollen zu sehen. Gilbert hat die Keckheit und die Sprungfreudigkeit der Kitri mit französischem Charme nahezu für sich gepachtet, und Bullion ist ein hübscher, drahtig-muskulöser, auch virtuoser Basil. Rudolf Nurejew hatte das komödiantische Handlungsballett „Don Quichotte“ vom Leningrader Kirov-Ballett mit in den Westen gebracht und erst 1981 an der Wiener Staatsoper und später in Paris für die Tänzer der dortigen Oper eingerichtet. Die lustig-hintergründige Rolle des Basil hatte er selbst schon als 21-Jähriger in der damaligen Sowjetunion getanzt, sie gehörte zu seinem fixen Kernrepertoire als Tänzer wie sonst nur noch „Le Corsaire“.

Dieser familienfreundlichen Klamotte mit der freundlichen Musik von Ludwig Minkus folgt auf arte, nach einigen Pop-Filmen wie „Flashdance“ (für 80er-Jahre-Nostalgiker) zur Primetime und einem eher überflüssigen Pseudoerotik-Beitrag über das Pariser Varieté „Crazy Horse“ um 21.45 Uhr, um 23 Uhr das unbedingt sehenswerte große Béjart-Spektakel.

„Freude schöner Götterfunken“ beginnt der Chor in Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie, und eben dazu fiel dem Meister des frühen modernen Balletts, Maurice Béjart (1927 – 2007), wirklich viel ein. Den Titel „Die neunte Symphonie“ übernahm man, ohne den Zusatz, dass es sich um ein Werk in d-Moll handelt. Ist doch die Aussage des Werks rundum zuversichtlich, wenn auch so euphorisch, dass man an seinem utopischen Gehalt gar nicht zweifeln kann.

Arte erhebt den Nikolaustag zum Tag des Balletts.

Die Kulturen verschmelzen hier, in Tanz, in Menschenfreundlichkeit, in Liebe – arte sendet „Die neunte Symphonie“ von Maurice Béjart. Foto / Videostill vom Werbetrailer von arte: Gisela Sonnenburg

Gleich zwei Compagnien braucht man heute, um Béjarts choreografischen Fantasien umzusetzen: Das Béjart Ballet Lausanne und das Tokyo Ballet, beide in der Tanzsprache von Béjart versiert, vollbringen es gemeinsam, gleichermaßen das Stück aufzuführen und von einer Zeit zu träumen, in der man – wie Béjart – Ballett nicht als Nobelhampelei für die Neureichen sah, mit sehr teuren Eintrittsgeldern, viel akrobatischem Brimborium und nur wenig Pressearbeit – sondern in der man das moderne Ballett als Event für alle ansah. Béjart hatte keine Angst vor dem Proletariat, sondern wollte so viele Menschen, wir nur irgend möglich, beglücken.

So stehen nicht nur viele Tänzerinnen und Tänzer hier bereit, sondern auch die Atmosphäre im Publikum sollte sich an der lockeren Stimmung von Sportveranstaltungen orientieren.

Entsprechend sieht der Tanzboden hier nicht wirklich typisch für Ballett aus: Er erinnert an den Boden von Basketball-Spielen. Ballett als spielerische Auseinandersetzung mit Maurice Béjarts Lebensthema, der Menschlichkeit und der freien Liebe, erhält so einen ganz neuen Akzent: Und es stimmt ja, dass man für ernsthafte Beziehungen genauso Übung, aber auch einen Sinn für Fairness braucht, wie im Sport.

Dazu donnern die populären Klänge und Akkorde aus Beethovens Feder, 1824 komponiert. Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ steigert textlich mit, auf die absolute Versöhnung und eine Art Weltfrieden abzielend: „Alle Menschen werden Brüder…“ Und hoffentlich nicht wieder Kain und Abel.

Wer am Nikolaustag also lange aufbleibt, dem lockt mit dieser Show eine wirkliche Belohnung dafür.

Und ein weiterer Lohn winkt denen, die es noch länger vorm Fernseher aushalten: die erneute Ausstrahlung vom „Forellenquintett“ von Martin Schläpfer mit seinem Ballett am Rhein wird auf jeden Fall tiefsinnig gesonnene Gemüter erfreuen.

Arte erhebt den Nikolaustag zum Tag des Balletts.

Akrobatisch, elegant, charmant: Bogdan Nicula im „Forellenquintett“ von Martin Schläpfer. Foto: Gert Weigelt

Das sinnlich-flippige tänzerische Treiben zur Schubert’schen Musik im vermeintlichen Fischteich ist eine der genialsten Arbeiten des Ballettchefs Schläpfer – und die gelungene Verfilmung mutet zudem wie ein Denkmal für den in diesem Jahr verstorbenen Tanzstar Bogdan Nicula an.

Wer noch mehr an einem Tag an Kultur aufnehmen kann, geht vorher noch ins Kino: In einigen Lichtspielen läuft ab 16 Uhr die Live-Übertragung von „Die Kameliendame“ von John Neumeier aus dem Bolschoi-Theater in Moskau. Einen Appetithappen darauf genossen die Hamburger Besucher der letzten Nijinsky-Gala bereits im Sommer, auch dort tanzte die jetzige Moskauer Besetzung mit Superstar Svetlana Zakharova und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett in den Hauptrollen (siehe Bericht im ballett-journal.de unter „Hamburg Ballett“). Allerdings verpasst man dann den Bericht in mehreren Folgen über die „Tanzschüler der Pariser Oper“, den arte nachmittags zum wiederholten Male sendet.

Rein zeitlich ist hingegen folgendes Programm möglich: Man gönnt sich erst Nurejews „Don Quichotte“ auf der heimischen Mattscheibe, um dann ins Kino zur „Kameliendame“ zu strömen und sich nächtens, nach einer kleinen Verschnaufpause, an Béjarts „Neunter“ sowie an Schläpfers „Forellenquintett“ zu laben. Das dürfte einem gefühlten, recht wilden Ballettfilm-Festival gleichkommen.

Nur in Hamburg wird da mal wieder eine Extra-Wurst gebraten. Weil nämlich um 18 Uhr dort die Uraufführung von Neumeiers jüngster Schöpfung („Duse“) startet, wähnt man die Hamburger Ballettfans zu dieser Zeit offenbar im Opernhaus. Darum wird das Kino-Bolschoi-Kameliendamen-Event an zwei Terminen im Januar (am 13. und am 17. Januar 2016) dort nachzuholen sein, natürlich nicht live dann, sondern als Aufzeichnung.

Arte erhebt den Nikolaustag zum Tag des Balletts.

Atemberaubend schön und traurig zugleich, eine fatale Liebe, die dem Tod geweiht ist: Svetlana Zakharova und Edvin Revazov im „Black Pas de deux“ aus John Neumeiers „Die Kameliendame“ auf der Nijinsky-Gala XLI. Foto: Holger Badekow

Zurück zum Nikolaustag. Wer sich den Stress des Pendelns zwischen Heimkino und Stadtkino sparen will oder wem es einfach auch zuviel ist, so viel verschiedenartiges Ballett an einem Tag anzusehen, muss sich entscheiden. Eine kleine Hilfe dabei: Viele arte-Sendungen lassen sich auch später online auf concertarte.tv anschauen. Aber das ist dann Computer watching (auf dem meist kleineren Bildschirm) und kein Fernsehen mit großem Monitor. Noch eine Entscheidungshilfe: Das Kino-Event ist mit bis zu 25 Euro nicht ganz preisgünstig.

Also: Ballettfreund(in), entscheide dich!

Arte erhebt den Nikolaustag zum Tag des Balletts.

Ein Spektakel im positiven Sinn: „Die neunte Symphonie“ von Maurice Béjart, getanzt vom Béjart Ballet Lausanne und dem Tokyo Ballet. Foto / Videostill vom Werbetrailer von arte: Gisela Sonnenburg

Fakt ist: Einen bundesweit so ballettösen Niklaustag gab es vermutlich noch nie! Der Schiller’sche Beethoven-Chortext ist jedenfalls solchermaßen glatt abzuwandeln, in „Freude schöner Tänzerfunken“ – denn die stieben bei soviel Ballett-im-zweidimensionalen-Format ganz bestimmt, so oder so.
Gisela Sonnenburg

P.S. Ein Nachtrag: In der gezeigten Aufzeichnung von „Don Quichotte“ tanzt nicht, wie ursprünglich und auch im obigen Artikel fälschlich angekündigt, Stéphane Bullion, sondern der womöglich noch rasantere Karl Paquette den Basil. Als Kitri blieb die fantastische Dorothée Gilbert auf dem Besetzungszettel. Für Bullion ist das insofern ein Tit-for-tat gewesen, als er in der DVD-Aufzeichnung von John Neumeiers „Die Kameliendame“ aus Paris vom Juli 2008 (Copyright-Datierung: 2009) den Armand tanzt, obwohl eigentlich Hervé Moreau dafür vorgesehen war. Moreau fiel damals verletzungsbedingt kurzfristig aus. Ob eine Verletzung 2012 für die Besetzung mit Karl Paquette als Basil sorgte, wissen nur die Sterne in Paris…

Sonntag, 6.12., arte… oder danach auf concertarte.tv im Internet

www.arte.tv

www.concertarte.tv

www.tanzimkino.de

 

ballett journal