Der fulminante Neuanfang Neustart ins Corona-Zeitalter: Standing Ovations für das Stuttgarter Ballett und „Response I“. Mit der ersten Premiere nach dem Lockdown sowie mit einer Doppelvorstellung am Sonntag setzt die renommierte Truppe Maßstäbe

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Jason Reilly berückt total in „Bolero“ von Maurice Béjart – in „Response I“ beim Stuttgarter Ballett. Damit ist das Ballett wieder da, mit vollendet lohnenswerten Vorstellungen, aufgetaucht aus der Corona-Zwangspause. Wunderbar! Foto: Stuttgarter Ballett

Es ist mal wieder ausverkauft. Wie so oft beim Stuttgarter Ballett! Aber dieses Mal ist alles anders. Auf der Bühne wie im Zuschauerraum spielt Vorsicht eine Hauptrolle: „Abstände wahren“ lautet das Zauberwort. Für die ersten Vorstellungen nach dem Corona-Lockdown im März betritt man das Haus mit Mund-Nasen-Bedeckung. Zusammen mit dem Ticket erhält man an der Kasse einen Bogen Papier. Darin stehen die eigenen Daten. Den Bogen Papier gibt man dann am Einlass ab. So wird kontrolliert, wer drin ist. Es sind ja nicht viele. In den ruhigen Foyers stehen wenige Stühle. Der Zuschauersaal trägt Trauer, denkt man dann: Nur jede zweite ist Reihe nutzbar, und zwischen den Besuchern, die einzeln oder zu zweit sitzen, sind jeweils drei Stühle mit schwarzem Tuch abgedeckt. Die ersten fünf Reihen bleiben unbenutzt. Wir sollten im übrigen lernen, das zu mögen, denn es wird womöglich ein Jahr oder länger so sein. Sicherheit geht vor.Und Kunst bekommt einen neuen Rahmen. Ein Gefühl wie bei einer Avantgarde-Performance schleicht sich ein. Alles ist so surreal. Nur wenige Menschen füllen das Haus. Kein Gedränge, kein Geschiebe. Aber man ist im Theater, im gediegenen, festlichen, durchaus sicheren Opernhaus! Langsam löst sich die Spannung, Freude kommt auf: Endlich, nach Monaten riecht man wieder dieses anregende Gemisch aus Bühnenstaub und edlem, alten Holz. Inspiration liegt in der Luft. Die Leute benehmen sich brav, freundlich, manche sogar etwas gezwungen. Doch das gibt sich, durch die Vorstellung, denn die ist absolut hinreißend. „Response I“ („Antwort I“)  heißt zurecht so: Es ist eine Antwort auf Corona, und es ist eine gelungene Mischung aus brandneuen und berühmten Stücken Tanzbrillanz. Damit ist bewiesen: Ballett unter den Bedingungen des Corona-Infektionsschutzes funktioniert! Das Stuttgarter Ballett setzt Maßstäbe.

Und wenn am Ende der knapp zweistündigen Show der Weltstar und Kammertänzer Friedemann Vogel –  alternierend Jason Reilly, der ebenfalls Kammertänzer ist – im „Bolero“ von Maurice Béjart wild auf dem Tisch tanzt, flankiert von acht statt von 40 vorzüglichen Jungs wie beim Béjart Ballet Lausanne, dann springen trotzdem die Funken. Und wie!

Und man weiß: Jetzt erlebt man gerade einen ganz großen Abend! Wie könnte man nur weiterleben, ohne ihn gehabt zu haben?!

Das Stuttgarter Ballett zeigt eine Corona-Gala

Friedemann Vogel tanzt den fetzigen „Bolero“ von Maurice Béjart besonders gern, auch beim Stuttgarter Ballett. In der „Response I“-Premiere am Samstag ebenso wie nachmittags am Tag drauf! Wow! Foto: Stuttgarter Ballett

Marcia Haydée, die große Stuttgarter Dame des Balletts, war angereist, um „Bolero“ in diese vorzügliche Form zu bringen. Laut Weltstar Friedemann Vogel, der in 20 Stunden zwei Vorstellungen von „Bolero“ meistert, gibt sie den Tänzern „viel Stärke“, und er meint die psychologisch-emotionale Kraft. Prompt sagt er im Anschluss an seine gestrige  Sonntagsvorstellung: „Ich könnte noch öfter!“

Das wäre auch toll. Aber dann würde man Jason Reilly, der am Sonntagabend für Standing Ovations sorgte, verpassen. Und das wäre gar nicht gut. Reilly, vom Typ her dunkler und muskulöser, wilder und widersprüchlicher als Vogel, der ganz den lyrisch-dynamischen Danseur noble verkörpert, ist eine Sensation in „Bolero“. Wie Vogel hat er die Partie bereits früher getanzt und seinen eigenen Zugang zu den legendären Gesten und Schrittmustern gefunden. Aber unter dem Druck der aktuellen Lage entfaltet die animalische Schönheit Reillys einen besonderen Reiz.

Dabei beginnt das Programm mit ganz anderen Dingen.

Der insgesamt absolut fulminante Neuanfang beginnt mit einem neuen Stück des Tänzers Louis Stiens, der bereits seit mehr als zehn Jahren choreografiert. „Petals“ („Blütenblätter“) heißt das Werk nach Klavierstücken von Domenico Scarlatti und Francois Couperin. Pianist Alastair Bannerman spielt aus dem sonst leeren Orchestergraben exquisit, pointiert, konzise.

Die Choreografie erzählt in collagenhaften Szenen eine Geschichte. Zwei Paare repräsentieren darin zwei verschiedene Welten, eine normal-reale und eine fantasievoll-moderne. Trotz der großen Unterschiede streben sie aufeinander zu, wollen sich vereinen. Hauptperson ist eine Lady: Ihr Traum scheint hier getanzt zu werden.

Sie, die zu Beginn einen Stuhl mit einem meisterhaften Herrenspagat in die Luft kopfüber in Besitz nimmt, lässt die anderen Drei erst sich selbst tänzerisch vorstellen, um am Ende mit allen synchron zu tanzen. Ihr Partner, der einen rosafarbenen Pyjama trägt, während sie in ein grünblaues Kleid mit Cocktail-Anmutung gewandet ist, schiebt ihr schließlich den Stuhl zum Sitzen hin – und lässt sie allein. Vielleicht trägt er den Pyjama, weil sie träumt und ihn zuletzt im Schlafanzug gesehen hat. Das erträumte Pärchen aus der Fantasiewelt aber bleibt mit eleganten, geschlängelten Gleitbewegungen und raffinierten modernen Pirouetten in Erinnerung.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Elisa Ghisalberti, die fabelhaft die Hauptrolle in „Petals“ von Louis Stiens tanzt, in Aktion. „Response I“ macht halt Spaß! Foto: Stuttgarter Ballett

Agnes Su und Angelina Zuccarini, Shaked Heller und Martí Fernández Paixà tanzten in der Premiere, am Sonntagabend dann Elisa Ghisalberti, Rocio Aleman, Alessandro Giaquinto und Satchel Tanner. Das Stuttgarter Ballett hat so viele Talente wie Namen – unmöglich, alle in ihren individuellen Qualitäten auf einmal zu würdigen. Aber es lohnt sich in jedem Fall, sich beide Besetzungen anzusehen, sogar dann, wenn man – wie Hunderte von Ballettfans am Premierenabend – kein Ticket fürs Opernhaus hat, sondern im Auto am Kulturwasen sozusagen Ballettautokino mit Live-Übertragung anschaut.

Der Herr, den ich dazu sprach, hatte seine Gattin und die beiden Kinder – zehnjährige Zwillinge – mit dazu ins Auto geladen, und er bestätigt, dass auch neues Ballett keineswegs zu anstrengend oder zu feierlich ist, um tatsächlich jede Generation zu begeistern.

Die im Opernhaus Versammelten genossen derweil das schon fast nostalgisch anmutende Gefühl, wieder im bevorzugten Kunsttempel zu sein.

Apropos Nostalgie: Mit der ehemaligen Glanznummer auf Tourneen von Anna Pawlowa, also mit „Der sterbende Schwan“, erreicht „Response I“ einen frühen ersten Höhepunkt. Das Damensolo von Mikhail Fokine, 1911 kreiert, wird hier vor einer Vollmond-mit-See-Kulisse getanzt, und während das Premierenpublikum sich an der äußerst eleganten, feminin-geschmeidigen Anna Osadcenko erfreuen durfte, verlieh am Sonntagabend Ami Morita dieser berühmten Partie und auch ihrer Karriere einen neuen Glanz. Schade, dass sie Stuttgart im Sommer verlässt und als Primaballerina zum Estnischen Nationalballett geht.

Morita, mit dem Rücken zum Publikum hereintrippelnd, tanzt einen leidenden Schwan, und das Geglitzer auf ihrem Kostüm, das auf Höhe der unteren Rippenbögen einen Punkt wie ein Einschussloch zeigt, kann nicht davon ablenken, dass dieser Vogel im Begriff ist, sein Leben zu beenden. Nur: Ami Morita tanzt ihn so, als wisse er zunächst noch nicht, wie tief die beigefügte Wunde ist, wie nah der Schwan bereits dem Jenseits ist.

Hoffnung mischt sich hier mit Leiden: im Blick, in der konzisen, betont reduzierten Armarbeit und in den heftig trippelnden, nachgerade trippelnderweise aufstampfenden Spitzenschuhfüßen.

Die Hüften bleiben hier nicht einfach nur ruhig, sondern scheinen den Kampf ums Überleben als Zentrum zu steuern.

Lange kämpft und hofft dieser Schwan, auch, als ihn die Schmerzen schon gen Boden in den Halbspagat zwingen, das linke Bein nach hinten ausgestreckt, das rechte vorn eingebogen.

Erneut schöpft dieses zauberhafte Wesen Kraft und Mut – und hebt sich federleicht empor, um erneut mit fließenden Bewegungen zu barmen und zu ringen.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

„Der sterbende Schwan“ von Mikhail Fokine, hier mit Ami Morita in einer besonderen Interpretation, ist ein Highlight in „Response I“ – alternierend tanzt Anna Osadcenko, die ebenfalls mit ihrer Kunst zu ergreifen weiß. Foto: Stuttgarter Ballett

Doch dann, dann weiß diese Schwanenfrau ganz plötzlich: Bald ist es aus. Sie muss die Kugel in sich gespürt haben, nicht mehr nur diffusen Schmerz. Sie ruckelt sich mit aller Kraft noch einmal aus dem Brustkorb heraus nach oben, dann knickt sie ein, faltet sich unendlich graziös ein letztes Mal am Boden ein, legt das zarte Köpfchen auf die Arme – und verscheidet.

Das Ganze ist so rührend und ergreifend, dass einem die Tränen kommen können. Man kann den „sterbenden Schwan“ schon hundert Mal gesehen haben – er flattert doch jedes Mal einzigartig und jedes Mal erbaulich schön.

Valery Laenko am Klavier und Guillaume Artus am Cello unterstützen diesen Eindruck mit der zart-schmelzenden Musik von Camille Saint-Saens.

Der große Applaus scheint Ami Morita, die seit 2018/2019 Erste Solistin in Stuttgart ist, fast zu überraschen. Wieder und wieder muss sie sich verbeugen und einen majestätischen Knicks machen, aus der charmanten Pose des Tendu en arrière heraus. Bravo! Wirklich schade, dass sie geht.

Vom ursprünglichen Plan, die drei Uraufführungen des Abends zu Beginn hintereinander weg zu zeigen, war Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich dankenswerterweise abgerückt. Sonst wäre die Stimmung womöglich abgesackt.

Man darf aber zudem nicht vergessen, dass es hier nicht nur um die Leistungen der Künstler geht. Auch backstage, von den Garderoben bis zu den Seitengassen, müssen die Corona-Schutzmaßnahmen eingehalten werden, was eine Herausforderung ist. Die Bühnentechnik ist davon ebenso betroffen wie das Orchester. Normal ist da nichts mehr in Corona-Zeiten!

Insofern kommen einfachen Illustrationen auf der Bühne schon besondere Bedeutungen zu.

Im nächsten Tanzstück bildet das Orchester – jawohl: ein 15-köpfiges Orchester – den Bühnenhintergrund. Wehmütige Gefühle angesichts des so oft leeren Orchestergrabens werden damit hervorragend kompensiert. „Lachrimae“ heißt die Komposition von Bryce Dessner, die auf eine Elektrifizierung der klassischen Instrumente setzt.

Drei Ballerinen und zwei Ballerinos tanzen das Stück namens „Empty Hands“ („Leere Hände“) von Fabio Adorisio: Sie bewegen sich umeinander und aufeinander zu, voneinander weg und manchmal sogar beinahe gegeneinander.

Die Tänzer sind in waschblaue moderne Kostüme gekleidet, ihnen ist das „Blau“ aus dem Untertitel des Programms gewidmet: „Something old, something new, something classic, something blue“ heißt der komplettierte Titel von „Response I“.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Hyo-Jung Kang in ihrem ausdrucksstarken Bewegungsfluss in „Empty Hands“ von Fabio Adorisio. Ihr Tanz ist ein Highlight in diesem Stück wie auch im gesamten Abend „Response I“. Foto: Stuttgarter Ballett

Einzelne KörperkünstlerInnen – allen voran Hyo-Jung Kang, die hier ungeheuer expressiv agiert – können erstaunlich viel aus den sportiv-gymnastisch angelegten Bewegungslinien von Adorisio machen. Aber der Inhalt der Choreografie fehlt einfach. Wirklich trefflich ist nur das Schlussbild: Ein männlicher Tänzer hält seine Handflächen dem Publikum entgegen, wie bittend und barmend. Die soziale Ungerechtigkeit als großes Thema der Kunst, wie sie hier gemeint sein könnte, ließ sich zuvor im Stück allerdings kaum erahnen. Vielleicht überarbeitet der junge Choreograf, der im Hauptberuf Tänzer beim Stuttgarter Ballett ist, sein Stück nochmal?

„Solo“ heißt dann ein Meisterwerk, das keine Nachbesserung benötigt. Es wurde 1997 vom holländischen Choreografen Hans van Manen für drei Tänzer ersonnen: Drei tollkühne Jungs haben hierin abwechselnd Soli, stellen verschiedene Charaktere dar. Virtuos sind alle drei. Besonders ausdrucksstark bei hoher Präzision: der Brasilianer Adhonay Soares da Silva. Er springt trotz oder wegen eines starken Körperbaus in samtene Landungen, pirouettiert mit sinnlicher Kraft und verleiht jeder Arabeske die Anmutung eines Ausrufes. Oh! Ah! So soll es sein!

Aber auch Fabio Adorisio (der eben noch Choreograf des Abends war) und Matteo Miccini holen aus ihren Parts viel heraus. Elegant-elegisch der Eine, witzig-spritzig der Andere. Insgesamt ist diese Petitesse ein Feuerwerk für bravouröse Ballerinos, und die „Partita für Solovioline Nr. 1 in b-Moll“ von Johann Sebastian Bach, die dazu ertönt, erhält durch den furiosen Tanz die Anmutung einer Antizipation der viel später entstandenen Stradivari-Stücke.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Adhonay Soares da Silva hat eine neue Paraderolle: in „Solo“ von Hans van Manen. Höchstes Niveau in Stuttgart eines jungen Nachwuchsstars. Foto: Stuttgarter Ballett

Damit ist der Boden bester Tanzlaune bereitet für die dritte und letzte Uraufführung von „Response I“. „Everybody needs Some/Body“ heißt das Stück von Roman Novitzky, der nicht nur Erster Solist, sondern auch versierter Fotograf vom Stuttgarter Ballett ist.

Die Musik von Max Richter reflektiert und modernisiert, zerhackt und zitiert den „Winter“ und den „Frühling“ aus den sattsam bekannten „Vier Jahreszeiten“ des Barocktitanen Antonio Vivaldi. Eine Verbindung zum szenischen Geschehen erschließt sich mir aber selbst im Gespräch mit einem Fan des Stücks nicht.

Immerhin ist deutlich, dass die sechs Schneiderbüsten auf Rollen, die dem Stück ihren Pfiff verleihen, ein Zitat, eine Anspielung oder schlicht eine Anleihe auf ein bekanntes Stück von Jiri Kyliàn sind, auf „La petite Mort“ („Der kleine Tod“).

Bei Kyliàn sind es barock gebogene Drahtskulpturen, die als Tanzpartner wie als schelmisches Versteck dienen, hier sind es simple Damenbüsten, auf denen Kleidungsstücke gefertigt werden sollten.

Drei weibliche und drei männliche Tänzer agieren hier mal munter, mal ratlos mit ihren puppenartigen Rollgefährten. Sketch-Stimmung kommt allerdings nicht auf, und als alle bis auf eine Tänzerin mal eben so zu Boden gehen, scheint das eine Übung aus der Sporthalle zu sein. Die Musik – von Jewgeni Schuk am Sonntagabend an der Violine auch noch eher kratzig-quiekend dargeboten – scheint außer einer taktgebenden Funktion hier völlig beliebig gewählt.

Allerdings zeigen sich vereinzelt komplizierte technische Fähigkeiten der Tänzer, und ein Paar darf (weil es auch privat zusammen lebt) akrobatisch-verschroben der Liebe und dem manchmal zweifelhaften Glück zu zweit frönen.

Die Figurinen, die sich dabei ergeben, sind durchaus spektakulär! Aber es fehlt die inhaltliche Verbindung, der dramaturgische Kontext. Schon einfach nur das Haustiersyndrom anhand der Rollbüsten darzustellen, könnte bereits viel Humor hervorbringen. Aber die meisten Bewegungen wirken unmotiviert. Weder die Musik noch sonst ein Bühnenereignis kann dafür der Anlass sein. Willkür pur oder pure Turnerei?

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Jeder braucht jemanden oder zumindest einen Körper: Das bedeutet in etwa der Titel von „Everybody needs Some/Body“, einem Stück von Roman Novitzky beim Stuttgarter Ballett. Hier auf dem Foto tanzen es Daiana Ruiz und Henrik Erikson. Foto: Stuttgarter Ballett

Und während die Arbeit von Jiri Kyliàn von Erotik sozusagen durchtränkt ist, blitzt hier bestenfalls punktuell so etwas wie Sinnlichkeit auf. Trotzdem gibt es Menschen, die Novitzkys Stücke schätzen – als witzigen Zeitvertreib.

Das vorletzte Stück ist erheiternd leicht, es ist Videokunst, gefertigt aus Selfie- und Zoom-Aufnahmen der Tänzer und Ballettmeister aus der Zeit des großen Lockdown.

Auf den für Umbauten geschlossenen Vorhang projiziert, wirken sie so schelmisch wie charmant. Im Rückblick hat man gut lachen, aber in der Tat waren die Mitglieder vom Stuttgarter Ballett in ihren Küchen und Wohnzimmer, auf ihren Balkonen und Terrassen, an ihren Regalen, unter ihren Sofas und auf ihren Dächern so kreativ, dass es Spaß macht, diese Collage in Schwarzweiß sowie im Zeitraffer vorbeiflimmern zu sehen und ab und an ein Highlight aufzuschnappen.

Da wechselt die Ballerina im hoheitlichen Sitz auf den Schultern ihres Partners die Glühbirne. Wow! Wie praktisch Ballett im Haushalt ist! Solidarität beweist die Überlassung einer Rolle Toilettenpapier, die vom oberen Balkon zum unteren mit einem Faden gehievt wird. Schließlich springt Friedemann Vogel eine Tour en l’air auf seinem Wohnzimmerteppich – und landet formvollendet im Kniefall. Voilà!

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Und jetzt zur größten Kraftanstrengung des Programms, zum unvergleichlichen „Bolero“ von Maurice Béjart, den dieser 1961 kreierte – und der im Laufe der Zeit zu einer Art Meilenstein der Persönlichkeit für Tänzerinnen wie Tänzer gleichermaßen wurde.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Marcia Haydée (rechts), Friedemann Vogel (mittig) und Tamas Detrich (links) arbeiteten gemeinsam am „Bolero“ von Béjart in der neuen Version. Tiptop! Foto: Facebook

Der Hauptpart, „Die Melodie“ genannt, tanzt auf einem großen Podest. Auf weiter entfernt an den drei Rändern stehenden Stühlen warten männliche Tänzer, bis ihr Einsatz gefragt ist. In anderen Vorstellungen, die ich schon bejubelte, wie beim Gastspiel des Béjart Ballet Lausanne in Berlin 2014, waren es 40 Jungs. Im Hier und Jetzt des Corona-Zeitalters sind es beim Stuttgarter Ballett acht – aber sie sind so geschickt im Raum verteilt, dass man meinen könnte, es sei so von Anfang an gewollt.

Wenn sie auf den Stühlen sitzen, stehen zwischen ihnen unbesetzte Stühle – das erinnert an die Situation des Publikums. Das Kostüm ist übrigens für alle Männer gleich: nackter Oberkörper zu  schwarzen Leggings.

Die Aufmerksamkeit liegt aber erstmal ganz beim Solisten in der Mitte auf dem Tisch.

Aufrecht stehend, ist er zunächst ein Teil der Dunkelheit. Nur seine rechte Hand, sein rechter Arm werden vom Lichtkegel erfasst und scheinen darin zu leuchten. Harmlos, sanft, süßlich beginnt die Melodie des „Bolero“ von Maurice Ravel, dieser bekannte Ohrwurm – und der Tänzer zeigt dazu die prägnanten, urtümlich anmutenden Bewegungen.

Friedemann Vogel ist hier ganz bei sich, ein Mensch wie aus dem Paradies, ein schön proportionierter Held, von unnachahmlicher Eleganz und Leichtigkeit. Er verführt scheinbar mühelos, bringt nicht nur das Publikum in Wallungen, sondern animiert allein durch sein tänzerisches Dasein auch die anderen Männer, sich in Bewegung zu setzen.

Ganz anders Jason Reilly. Durch unzählige Liegestütze hat er während der Corona-Krise an Muskeln nochmals zugelegt, sein Hals, seine Schultern, seine Arme, sein Rücken, seine ganze Vorderseite erinnern im ausgeleuchteten Zustand auf der Bühne an einen Bodybuilder.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Jason Reilly als „Die Melodie“ in „Bolero“ von Maurice Béjart – kraftvoll wie ein Stier, aber sanft wie ein Baum im Wind. Foto: Stuttgarter Ballett

Wie ein Stier, wie eine heilige Bestie schiebt er sich über den großen Tisch, der hier als Tanzplattform dient. Die Ohrwurm-Melodie von Maurice Ravel verkörpernd, tanzt er zunächst nur mit dem rechten Arm, dann mit dem linken, schließlich mit beiden.

Dann mit den Beinen, mit dem Kopf, mit dem hochmuskulösen Körper. Die privaten Tatoos des Kammertänzers stören dabei nicht, schließlich ist dieser Tanz ein sich steigernder Rausch. Die männlichen Kollegen, die den Rhythmus verkörpern und den Vortänzer umgarnen, müssen sich anstrengen, um den Kreis energetisch geschlossen zu halten, wenn sie tanzen. Sie sind ja nur zu acht. Aber: Dank geschickter Aufstellung vermisst man nichts. Geballte Manpower, auch geballte Emotion erreicht uns. Toll.

Dass die Musik zum „Bolero“ vom Band kommt, ist ein Wermutstropfen, lässt sich aber ertragen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die verwöhnten Ohren künftig nicht immer alles live serviert bekommen können. In Corona-Zeiten hat die Sicherheit Vorrang – und auch künstlerisch ist nicht jede Abänderung gleich gut.

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Blick auf die Bühne beim Schlussapplaus für“Response I“: Die „Bolero“-Tänzer im glitzernden Konfettiregen nach der letzten Vorstellung der Saison. Auf in die Ferien! Foto: Gisela Sonnenburg

Dass Gil Roman aus Lausanne sein Yes zu dieser vorzüglich bearbeiteten choreografischen „Bolero“-Version gab, ist indes dankenswert. Da freut einen das Konfetti, das nach der letzten Vorstellung dieser Saison (ha! Es gab sie! Im Juli 2020!) auf die Künstler rieselt, noch einmal mehr.

Solchermaßen wünscht man dem Stuttgarter Ballett erholsame Ferien – und einen ebenso fantastischen Start in die kommende Saison, wie es ihn jetzt in die Corona-Ära hingelegt hat.
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

"Response I" ist mutig und führt in die neue Zeit der Corona-Schutzregeln

Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich – hier mit Gattin Marion Jäger – schenkte sich die „Response I“-Premiere gewissermaßen selbst, denn er beging am Premierensamstag seinen 61. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch also gleich in zweifacher Hinsicht! Foto: Gisela Sonnenburg

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