Unterschwellige Spannungen „Kammerballette“: mit dem gleichnamigen Stück von Hans van Manen, mit „Arena“ von Glen Tetley und mit „Neurons“ von Katarzyna Kozielska beim Stuttgarter Ballett

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Ein Blick auf die Website vom Stuttgarter Ballett zeigt das Het Nationale Ballett in dem Stück „Kammerballett“ von Hans van Manen. Er choreografierte das Stück 1995; es thematisiert Beziehungen von vier Männern und vier Frauen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Bei Wikipedia ist die „Kammermusik“ bestens bekannt. Ursprünglich bezeichnete der Begriff angeblich die profane Musik fürs Wohnzimmer, für die „Kammer“ – im Gegensatz zur sakralen Kirchenmusik. Dann wurde, im Laufe der Jahrhunderte, daraus ein Gegenbegriff zur großen Orchesterbesetzung: Heute bezeichnet die „Kammermusik“ die kleine musikalische Garnitur, das Konzert im kleinen Rahmen, mit nur wenigen Musikern – und eben nicht das große Orchesterwerk mit Dutzenden von Mitwirkenden. Das Stichwort „Kammerballett“ allerdings fehlt bei Wikipedia (noch) – dabei benannte der niederländische Choreograf Hans van Manen schon 1995 ein Episodenballett für vier Paare eben so: „Kammerballett“.

Jetzt wird dieses Stück in Stuttgart gezeigt, erstmals – und es gibt dem dreiteiligen Programm „Kammerballette“, das es eröffnet, auch den Titel.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Hans van Manen hat eine hohe Denkerstirn – und ist auch in vorgerücktem Alter ein immer noch aktiver Choreograf.Foto: freie Bearbeitung

Stuttgarts Ballettintendant Reid Anderson will damit in seiner Jubiläumsspielzeit – er „regiert“ seit zwanzig Jahren das Stuttgarter Ballett – den einstigen Avantgardisten und heutigen Klassiker der Moderne van Manen dem Publikum wieder näher bringen. Zu Musik von Kara Karayev (aufgeregt-dramatisch), John Cage (experimentell-statisch) und Domenico Scarlatti (heiter-gelassener Barock) bieten im „Kammerballett“ vier Paare sprich acht Individuen eine locker komponierte Collage aus Soli und Ensembles, die zwischen zwei Reihen aus Bänken stattfinden. Die Bänke werden in den Tanz mit einbezogen, dienen aber auch zum Warten und Ausruhen bis zum nächsten Auftritt. Spielerisch wird Synchronizität vorgeführt, Beziehungen entwickeln sich, gern auch mal bodennah, bis sie, auf dem Höhepunkt ihrer Spannung, sich wieder lösen.

Hans van Manen, Jahrgang 1932, war Mitbegründer des Nederlands Dans Theater (NDT) in Den Haag und von 1961 bis 1970 auch dessen künstlerischer Leiter. Dann wechselte er als Chefchoreograf zum Het Nationale Ballet in Amsterdan, wo er auf Tänzer mit einem stärkeren Klassikschwerpunkt beim Training traf. Das Pendeln zwischen verschiedenen modernen Techniken auf klassischer Grundlage ist bei van Manens Arbeiten auffallend; obwohl er die kurze abstrakte Form bedient, gibt es sehr oft so etwas wie eine innere Handlung. Manchmal sogar, wie in „The old Man and Me“, ein richtig neckisches Geschichtchen.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Hans van Manen „spielt mit Tänzern wie mit Billardkugeln“, stellte mal ein Kritiker fest. Dabei zeige er aber zugleich die „Inhumanität“ dieses Tuns. Macht doch neugierig! Foto: freie Beatbeitung

Zuletzte kreierte van Manen für den Choreografiekollegen Martin Schläpfer „Alltag“ beim Ballett am Rhein; zu Stuttgart aber hat er, noch aus der Frühzeit der NDT-Furore im 20. Jahrhundert, eine besondere Beziehung. Hier traf sozusagen ein Experimentalphysiker der Choreografie auf die solideste Qualität, die er sich nur wünschen konnte.

Kritikerstimmen zu van Manen aus dieser Zeit haben ihn gut erfasst: „Van Manen ist, er weiß es möglicherweise selbst noch nicht, unterwegs zu neuen Küsten.“ Dieses Zitat stammt aus den 70ern; mittlerweile kennt Hans van Manen seinen eigenen metaphorischen Reiseweg als Künstler aber vermutlich ganz gut.

Eine andere Beschreibung passt uneingeschränkt noch heute auf ihn: „Van Manen spielt mit Tänzern wie mit Billardkugeln – und demonstriert gleichzeitig die Inhumanität solchen Spiels.“ Denn auch die tänzerischen Flirts zwischen Mann und Frau, die van Manen kreiert, haben Momente von Grausamkeit, Ignoranz, seelischer Verletzung. Trotz all ihrer athletischen Verspieltheit!

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Unterm Strich mischen sich sowohl in van Manens Gesicht als auch in seinen Balletten die Heiterkeit und die Melancholie… Eindeutigkeit ist da ausgeschlossen. Foto: Freie Bearbeitung

Schließlich bleibt unterm Strich zu fast allen seinen Balletten festzustellen: „Unter dem Lächeln versteckt sich ein Weinen.“ Da ändert auch die runde Anzahl von acht Tänzern, die sich aus vier Mädchen und vier Jungen zusammen setzt, nichts daran…

Das zweite Stück – meiner Ansicht nach der Höhepunkt des Abends – kommt von Glen Tetley. Er wurde 1926 in Cleveland, USA, geboren – und kam erst im Alter von 19 Jahren zum Tanz. Heute würde man ihm darum vermutlich keine Profikarriere im Ballett zugestehen! Wie gut, dass man zu seiner Zeit nicht so sehr auf die Technik und einen ihr frühzeitig unterjochten Körper achtete, sondern vor allem Dinge wie Ausstrahlung, Spiel, Fantasie hochhielt. Und von denen hatte Glenford Andrew, wie er mit ganzen Vornamen hieß, sehr viel zu bieten.

Er ist ein Ausnahmetalent gewesen, mit einem Ausnahmewerdegang. Sein Medizinstudium in New York ließ er nämlich flugs fallen, nachdem er eine Vorstellung vom American Ballet Theatre (ABT) gesehen hatte.

Die Tanzlust packte ihn, mit voller Wucht. Er begann bei einer russischen Exilantin namens Helena Platova, landete früh beim prominenten Antony Tudor und erlebte dann auch den großen „Mister B“, George Balanchine, als seinen Lehrer. Allerdings zog es Tetley schon bald zur Moderne, und Hanya Holm, eine Mary-Wigman-Schülerin, wurde nicht nur seine Lehrerin und Mentorin, sondern er wurde auch ihr Assistent.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Auch Glen Tetley hatte eine hohe Denkerstirn – und begann das Tanzen erst mit 19 Jahren. Dann aber richtig! Foto: Freie Bearbeitung

Das klassische Ballett erkannte Tetley als apollinisch, den modernen Tanz hingegen als dionysisch. Dieses Gegensatzpaar (apollinisch nach dem griechischen Gott der schönen Künste, Apoll, und dionysisch nach dem Gott Dionysos, dem Mann des Rauschs) stammt ja von dem Philosophen Friedrich Nietzsche. Es ehrt Tetley, diesen klugen, auch theoretisch bewanderten Kopf, dass er solchermaßen die Philosophie auf die Tanzgeschichte anwandte. Modernes Tanzen hieß für ihn: raus aus den Regeln und Formalien, rein in die freie Welt des Ursprungs. Für den Choreografen Tetley waren diese Dichotomien später wichtig.

Doch zunächst lebte er vom Tanzen. Er brachte es bis zum Principal, tanzte beim ABT und bei Jerome Robbins. Einen Ausflug in ein Engagement bei Martha Graham musste er zuvor hingegen bald abbrechen, weil Graham ihre Tänzer nicht bezahlen konnte.

1962 entstand die erste erfolgreiche Choreografie von Glen Tetley: „Pierrot Lunaire“ nach Musik von Arnold Schönberg. Rudolf Nurejev tanzte das Stück ein Jahr später – und machte den traurig-klamaukigen Käfigtanz im Mondlicht weltberühmt.

Der „Pierrot“ wurde in New York bei Tetleys eigener Compagnie uraufgeführt, die er indes, obwohl sie bis 1969 bestand, wie einst Martha Graham nicht so richtig bezahlen konnte. Dennoch war Tetley ein Glückskind: Man rief ihn nach Den Haag, wo er von 1962 bis 1970 als künstlerischer Co-Direktor neben Hans van Manen (siehe oben) wirkte.

Sein Ballett „Voluntaries“, das bis heute das international am meisten akzeptierte und wohl auch am häufigsten aufgeführte ist, führte zu einem Angebot aus Stuttgart. Das Stuttgarter Ballett hatte 1973 mit John Cranko seinen Kopf verloren und suchte nach einer neuen Führung. Die vertraute man Tetley 1974 an. Er blieb indes nur zwei Spielzeiten, zu erdrückend kamen ihm die Anforderungen des Publikums an das Erbe von Cranko vor. Marcia Haydée, die Cranko als seine hauptsächliche Muse und Ballerina viel näher gewesen war, übernahm dann von Tetley das Ruder.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Mit „Pierrot Lunaire“ wurde Tetley berühmt, dank „Voluntaries“ holte man ihn nach Stuttgart. Jetzt kehrt ein anderes seiner Werke in der schwäbischen Metropole wieder ein. Foto: Freie Bearbeitung

Tetley blieb dann zunächst freier Choreograf, als solcher Stuttgart auch weiterhin verbunden, bis er 1987 für zwei Jahre als künstlerischer Direktor nach Toronto ging. Seine letzte Arbeit leistete er 1999 beim Houston Ballet; er starb 2007 im Ruhestand, mit 80 Jahren. Übrigens hatte er über vierzig Jahre mit seinem Partner und Assistenten Scott Douglas gelebt und gearbeitet, bis zu dessen Tod 1996.

Das jetzt in Stuttgart zu sehende Stück „Arena“ entstand 1969, und das Stuttgarter Ballett tanzte es im darauf folgenden Jahr in New York, beim Gastspiel. Ein Triumph des Avantgardistischen war das damals! Der elektronische, schräge Sound von Morton Subotnick (mit dem Tetley mehrere Ballette entwickelte) sorgte bereits für einen außerordentlich fortschrittlich-modernistischen Eindruck.

Sechs Männer in kurzen Hosen tanzen und werfen hier mit Stühlen, es ist ein Ballett für Feinmotoriker, und dass Subotnicks Musik „The Wild Bulls“, die wilden Bullen, heißt, passt zur Optik. Wildheit und Aggression bestimmen es.

Glen Tetley stellte selbst dazu fest: „Es enthält Bewegungen, die von einem Moment auf den anderen in Gewalt umschlagen können.“ Und: „Ich kann diese Art von Spannung in den Straßen von New York spüren.“ Das moderne Lebensgefühl als stetiger Kampf, in dem jeder gegen jeden steht, Macht und Unterdrückung als ständig schwelende Kräfte – wie die Gladiatoren im späten Rom in der „Arena“, nach der das Werk ja schließlich auch benannt ist.

Tetley selbst war übrigens ein sehr kultivierter Mann, er ähnelte im Gesicht und von der Figur her George Balanchine, war aber zudem auch noch sehr beredet. Ein Wortjongleur, wie sie unter Tanzprofis selten sind!

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Ein kultivierter, wortgewandter Mann, nicht nur ein dance maniac: Glen Tetley verband Kopf und Gefühl musterhaft in seinen Arbeiten, auch sein Gesicht spiegelt diese Harmonie. Foto: Freie Bearbeitung

Seine choreografischen Anstrengungen reflektierte er selbstkritisch und fasste zusammen: „Ein Grund, weshalb ich an eine Ehe zwischen modernem und klassischem Tanz glaube, ist die Tatsache, dass der moderne Tanz auf vorklassischen Tanzquellen basiert.“ Das Apollinische und das Dionysische in ständiger Wechselwirkung!

Tetley war nämlich von indianischen Riten fasziniert und hielt Tanzen für ein quasi-religiöses Bedürfnis nach schamanistischer Befriedigung. Man wolle mit etwas verbunden sein, wenn man tanze, stellte er fest.

Diese „urmenschliche“ Auffassung von Tanz verband Tetley mit hoch modernem Kulturgut. Zwölftonmusik konnte er gut in seinen Ansatz integrieren; er vertanzte Stockhausen, Henze und eben Schönberg. Als Enkel eines Sektengründers einer baptistischen Abspaltung hatte er indes zum Christentum kein ungebrochenes Verhältnis.

Die Spurensuche im Innern und in der Ursprünglichkeit des Menschen war für Tetley vorrangig.

Der britische Choreografiekollege Christopher Bruce würdigte Glen Tetley auch noch ganz anders, Bruce bewunderte die Energie von Tetley, sich immer wieder neuen Themen zu stellen: „Seine Ethik war, sich immer weiter zu entwickeln, um stets neue Dinge herauszufinden.“ Tetley selbst definierte seine Arbeit hingegen als eine des ständigen Auslotens: „Es gibt ein bestimmtes Verhältnis zwischen Flug und Schwerkraft. Ein höchst variables Verhältnis, in dem man immer und ewig zirkulieren kann.“

Tetley, van Manen – mit zwei solchen Kolossen der jüngeren Ballettgeschichte vorneweg hat es die junge Nachwuchschoreografin Katarzyna Kozielska mit ihrer abschließenden Uraufführung nicht wirklich einfach. Aber die Stuttgarter Tänzerin ist selbstbewusst und kann ja auch bereits auf einige Publikumserfolge zurückblicken.

Kozielska ist Polin und erhielt in der John Cranko Schule ihren letzten Schliff. 2000 machte sie dort ihren Abschluss. Heute ist sie Halbsolistin. Marco Goecke kreierte so Einiges mit ihr – und seit 2011 fällt sie bereits mit eigenen Choreografien auf.

„Der richtige Ort“, „Blender“, „Finger“ (ein Pas de deux), eine John-Cage-Hommage, ein Stück namens „Symph“ (2013) und „A. Memory“ (2014) sind bisher entstanden.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Charmanter Blick, aber auch viel Strenge drin – und auch eine Denkerstirn: die junge Choreografin Katarzyna Kozielska weiß, was sie will. Foto: Stuttgarter Ballett / freie Bearbeitung

Ihre neueste Kreation nennt Kozielska „Neurons“, Neuronen. Die Hirnforschung hat es ihr als zwar wenig musisches, aber offenbar für sie sehr inspirierendes Thema angetan. Sie ließ sogar in einem Labor ihre Gehirnströme messen – mit welchem Ergebnis, ist derweil noch nicht bekannt.

Kozielskas Musikgeschmack riet ihr, für das neue Stück Klänge von John Adams und Max Richter auszuwählen – das sind nicht die schlechtesten zeitgenössischen Komponisten für Ballett.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Sie ließ ihre Hirnströme messen – und beschäftigte sich mit Biologie: Katarzyna Kozielska. Foto: Stuttgarter Ballett / Freie Bearbeitung

Der 1947 in den USA geborene Adams zählt zu den Vertretern der Minimal Music bzw. des Postminimalismus. Der Brite Max Richter, geboren 1966 in Hameln, schreibt dagegen impressionistisch-schillernde, cineastisch-imposante Musiken, die möglicherweise die neurale Vernetzung der elektrisch gepulsten Hirnzellen optimal akustisch illustriert.

Schnelle Drehungen, klassische Posen, noch schnelleres Kreiseln auf dem Platz, noch eine klassische Pose – so wirkt die Choreografie, wenn man sich an den Werbetrailer des Stuttgarter Balletts für sie hält.

Kammerballette sind Ballette im Kleinen.

Bei den Proben zur neuen Uraufführung „Neurons“: Blick in den Werbetrailer des Stuttgarter Balletts. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das starke Gefühl für Spannung und Spannungen, das vor allem das Werk von Glen Tetley prägt, kann solchermaßen als thematische Verklammerung für das gesamte Programm für „Kammerballett“ gelten. Klingt, nun ja, spannend!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Ein Interview mit der Tetley-Choreologin Bronwen Curry gibt es hier:

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-bronwen-curry-arena/

Und zur Premierenrezension geht es hier:

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-kammerballette-kurzkritik/

www.stuttgarter-ballett.de

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