Die Ballettwelt ist im Wandel Marco Goecke wird ab 2018 nicht mehr Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett sein. Dafür kommt endlich eine Cranko-DVD der renommierten Compagnie. Interview mit Ballettintendant Reid Anderson

Reid Anderson im Interview

Ballettintendant Reid Anderson weiß, was er tut, denn Profi-Ballett ist kein Kinderzirkus. Aber für kommende Saison sind auch einige positive Überraschungen versprochen. Foto: Roman Novitzky

Wums! Schon längere Zeit rumorte es beim Stuttgarter Ballett bezüglich der beiden Hauschoreografen. Demis Volpi, seit 2013 Hauschoreograf, erhielt bereits von Ballettintendant Reid Anderson die Absage bezüglich einer Vertragsverlängerung über diese Saison hinaus. Jetzt wurde bekannt, dass auch Marco Goecke, der zweite aktuelle Hauschoreograf vom Stuttgarter Ballett, gehen muss: Er wird seinen seit 2005 bestehenden Vertrag ab 2018 nicht mehr haben. Auch das ist Demokratie – und Freiheit der Kunst. Zu diesen und anderen kniffligen Dingen äußert sich Reid Anderson mit großer Klarheit, aber ohne Denunziation im anschließenden Interview.

Ballett-Journal: Gestern gab Tamas Detrich, Ihr designierter Nachfolger als Stuttgarter Ballettintendant ab September 2018, bekannt, dass er Marco Goecke als Hauschoreograf nicht weiter unter Vertrag halten wird. Wie stehen Sie dazu?
Reid Anderson: Einen Hauschoreografen zu ernennen, ist eine sehr persönliche Entscheidung für einen Ballettintendanten. Ich kann Tamas Detrichs Entscheidung nachvollziehen. Auch ich musste zu Anfang meiner Intendanz schwierige Entscheidungen treffen.

Ballett-Journal: Die jüngste anberaumte Uraufführung, „Kafka“ von Marco Goecke, sagten Sie mutigerweise rundum ab. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Reid Anderson: Ausschlaggebend war ein Brief: Ein Arzt hatte Marco Goecke für fünf Wochen krank geschrieben. So etwas ist mir noch nie passiert. Das bedeutete, dass Marco sein Stück nicht bis zum Uraufführungstermin am 30. Juni 2017 fertig machen könnte. Das stellte zunächst mal ein Riesenproblem für uns dar. Ich habe dann versucht zu sehen, ob man die Sache retten kann. Aber da war nichts zu machen. Marco hatte bis dahin nur für eine Handvoll Tänzer choreografiert, über die Zeitspanne von etwa einer halben Stunde. Es sollte aber abendfüllend werden. Ich habe ihm vorgeschlagen, vielleicht eine Art „Making of“ oder ein „Work in progress“ oder einen „Teil 1“ zu machen. Doch es stellte sich heraus: Das wäre schon vom Orchester her nicht möglich gewesen. Die Orchestermusik von Johannes Maria Staud, ein Auftragswerk für diesen Abend, ist zwar fertig. Aber gerade deshalb kann man nicht einfach eine halbe Sache daraus machen.

Reid Anderson im Interview

Feste muss man feiern, wie sie fallen, beim Stuttgarter Ballett gern bunt und mit Herz: Hier ist Reid Anderson im Kreis seiner Compagnie zu sehen, beim Schlussapplaus nach der Gala des Stuttgarter Balletts am 24. Juli 2016. Foto: Stuttgarter Ballett

Ballett-Journal: Haben Sie denn mit Marco Goecke überhaupt ausführlich darüber sprechen können?
Reid Anderson: Wir haben gemailt und gesimst. Und ich habe ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen. Wir waren also in Kontakt. Nur ging es ihm anscheinend sehr schlecht. Er hatte sich zurück gezogen. Ich gehe davon aus, dass er es sich nicht leicht macht.

Ballett-Journal: Ich würde gern etwas fragen, was eine Spekulation ist. Kann es sein, dass ihn das Thema, der Dichter Franz Kafka, in der intensiven Beschäftigung extrem deprimiert hat? Es gibt kaum Hoffnung in Kafkas Werk.
Reid Anderson: Das weiß ich nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt. Es kann sein oder nicht. Ich habe darüber nichts gehört und nichts davon gespürt. Marco hat sich ja öfters mit komplizierten Themen beschäftigt, und „Nijinski“, seine Arbeit vom letzten Jahr, ist auch kein leichtes Thema.

Ballett-Journal: Bei dem Jahrhunderttänzer Nijinsky (www.ballett-journal.de/gauthier-dance-company-nijinski/) gibt es immerhin den Tanz als großes Überthema, das über die Tragik hinaus weist. So etwas gibt es bei Kafka nicht. „Der Prozess“ zum Beispiel malt schwarz auf schwarz, wie ungerecht das Leben und die Justiz sind. Das kann einen schon depressiv machen, und Marco Goecke hat früher selbst offen davon berichtet, dass er in dieser Hinsicht Probleme hat, die er auch therapeutisch bekämpft.
Reid Anderson: Ich kann dazu nichts sagen, denn ich weiß nicht einmal, woran er jetzt erkrankt ist. Darüber muss ja auch nicht gesprochen werden, denn es war aufgrund der Krankschreibung zu akzeptieren, dass er voraussichtlich für einen längeren Zeitraum krank sein würde.

Ballett-Journal: Vergleichbares haben Sie am Theater, im Ballettbetrieb, in den letzten viereinhalb Jahrzehnten noch nie erlebt?
Reid Anderson: Nein, und ich nehme die Sache deshalb auch sehr ernst.

Reid Anderson im Interview

Reid Anderson bei der Probe mit dem Stuttgarter Ballett: versiert, standsicher, führungsstark. Für diese Tugenden steht auch sein Nachfolger Tamas Detrich, der als Tänzer und Ballettmeister schon viel beim Stuttgarter Ballett geleistet hat. Foto: Roman Novitzky

Ballett-Journal: Sie haben den Spielplan gerettet, indem Sie unter anderem wunderbare Vorstellungen von „Romeo und Julia“ in der Choreografie von John Cranko angesetzt haben: in aufregenden Besetzungen, wie etwa die junge Hyo-Jung Kang und den erfahrenen Jason Reilly oder die furiose Alicia Amatriain und den Megastar Friedemann Vogel in den Titelrollen. Welche Beziehung haben Sie selbst zu diesem Meisterwerk der Tanzkunst?
Reid Anderson: „Romeo und Julia“ von Cranko ist ein Geniestreich! Natürlich musste ich außerdem ein Stück finden, das von der Besetzung und der Probensituation her mit unserem Uraufführungsplan vergleichbar ist. Für „Kafka“ waren fast alle unsere Tänzer von Marco Goecke vorgesehen. Manche zwar in der zweiten Besetzung, aber insgesamt sollten praktisch alle damit bei Proben und Aufführungen beschäftigt sein. Als klar war, dass diese Sache nicht stattfinden könnte, brauchte ich ein Stück, das ebenfalls nahezu all unsere Tänzer zum Einsatz bringen kann. So ist es mit „Romeo und Julia“ – und das betrifft auch die Rollen der Solisten und Ersten Solisten. Sie alle sollten – manche in größeren, manche in kleineren – Rollen in „Kafka“ tanzen. Jetzt tun sie es in „Romeo und Julia“. Außerdem ist das Stück sehr beliebt, bei den Künstlern wie beim Publikum, und wir sagen hier immer: „Romeo und Julia“ ist „Romeo und Julia“ ist „Romeo und Julia“.

Ballett-Journal: Wird an noch etwas anderem gearbeitet?
Reid Anderson: Wir arbeiten außerdem schon an dem neuen Programm für die nächste Spielzeit, das „CRANKO PUR“ heißen wird. Denn für John Cranko steht am 15. August 2017 der 90. Geburtstag an. Da wird es verschiedene Choreografien von ihm in verschiedenen Interpretationen durch Tänzerinnen und Tänzer zu erleben geben.

Ballett-Journal: Sie haben großartige Solistinnen und Solisten, keine Frage. Aber bei den Herren gibt es seit einigen Jahren einen ominösen Schwund an Startänzern, die an andere Häuser, und zwar ins Ausland, wechseln: Evan McKie, Marijn Rademaker, Alexander Jones, Daniel Camargo, neuerdings auch Constantine Allen und Pablo von Sternenfels. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Reid Anderson: Die Ballettwelt hat sich geändert. Viele Tänzer wollen nicht mehr ihre ganze Karriere bei einer Compagnie verbringen. So auch diese.

Ballett-Journal: Und überlegen Sie, entgegen der Tradition beim Stuttgarter Ballett, als Ersatz auch mal den einen oder anderen Principal von außerhalb zu engagieren, der nicht auf der John Cranko Schule war?
Reid Anderson: Das werde ich nicht tun, das habe ich absolut nicht vor.

Ballett-Journal: Ist es denn heute schwieriger oder sogar leichter als etwa vor zehn, zwanzig Jahren, hoch begabte Ballettstudenten für die Schule zu bekommen?
Reid Anderson: Es ist leichter geworden, viel leichter! Deshalb kommen aktuell Zweidrittel der Compagnie aus unserer eigenen Schule.

Ballett-Journal: Ich wollte Sie schon lange noch etwas ganz anderes fragen. Warum gibt es fast keine DVDs mit John-Cranko-Stücken im Handel?
Reid Anderson: Da werden welche kommen! Wahrscheinlich schon nächste Spielzeit. Sie müssen nur etwas Geduld haben. Wir hatten tatsächlich keine Angebote für Aufzeichnungen, aber jetzt tut sich da etwas.

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Ballett-Journal: Spannend! Und denken Sie manchmal außerdem an die Zeit des Intendantenwechsels 2018/19? Besprechen Sie mit Ihrem avisierten Nachfolger Tamas Detrich, auf was es danach ankommen wird?
Reid Anderson: Das müssen wir nicht vorab besprechen. Ich werde die Dinge in seine Hand legen, und es ist dann seine Zukunft. Er wird eines Tages sagen, dass das Stuttgarter Ballett sein Baby ist.

Ballett-Journal: Was werden Sie machen, wo werden Sie leben?
Reid Anderson: Ich werde in Stuttgart wohnen bleiben. Stuttgart ist mein Zuhause.

Ballett-Journal: Sehr gut. Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!
Text und Interview: Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.stuttgarter-ballett.de

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