Was für ein Leben zwischen Ballettstudio und Bühne, Studio und Zuschauersaal, Ballettsaal und nochmals Ballettsaal: Georgette Tsinguirides, 87, hat sicher mehr Beine und Arme in der choreografischen Sprache von John Cranko, dem Übervater des Stuttgarter Balletts, geschult als irgendjemand sonst. Ihr Lebenslauf und ihr Lebenswerk sind geprägt von dem Genie, dem sie erst als Tänzerin, dann als Choreologin sowie als Ballettmeisterin zur Seite stand. Bis heute coacht Georgette nicht nur in Stuttgart, sondern in aller Welt – und ihre faszinierende Art, mit jungen Leuten umzugehen, brachte ihr vielleicht noch mehr Ruhm und Ehrerbietung ein als ihre immense Leistung, die Ballette von John Cranko in der kniffligen Methode der Beneshment Movement Notation zu Papier zu bringen.
Sie war, nachdem Cranko sie 1965 nach London zur Schulung in Choreologie geschickt hatte, die erste Ballettaufzeichnerin Deutschlands; und auch heute, da häufig zusätzlich zur mündlich-körperlichen Überlieferung nach Videoaufnahmen gearbeitet wird, sind ihre Notationen unersetzlich. Sie zeigen die Choreografie so nackt, wie Cranko sie sich dachte, ohne Fehlerchen oder Mängel, ohne ein Zuviel oder Zuwenig im Ausdruck. Georgette Tsinguirides steht für die reine Lehre – und ist zudem eine Zeitzeugin jener Ära, die sie noch heute so lebendig vermittelt, als sei Cranko nicht schon 1973, sondern gerade erst gestern verstorben.
Zu ihrem 70. Dienstjubiläum beim Stuttgarter Ballett, dem sie blutjung als Gruppentänzerin beitrat, nachdem die Deutsch-Griechin in Stuttgart auch ihren Ballettunterricht erhalten hatte, legt Georgette ihre Biografie vor. Geschrieben wurde diese von Susanne Wiedmann, einer versierten schwäbischen Kulturjournalistin, die leider im ersten Teil ihres über 200 Seiten starken Bandes einen gravierenden Fehler macht: Sie schildert die Kindheit von Georgette Tsinguirides im Dritten Reich, ohne auch nur andeutungsweise die damaligen politischen Verhältnisse zu benennen. Es gibt also keine Nazis, keinen Hitler, keinen Goebbels, keine SS, keine KZs, keine Gestapo und gar keine Verfolgung und Vernichtung von Juden, Kommunisten, Homosexuellen und anderen – und nicht einmal das Wort „Drittes Reich“ fällt.
Es ist halt einfach irgendein Deutschland, das da mehr oder weniger verniedlicht geschildert wird, und dass eine weibliche Verwandte einst Hofdame war, soll wohl die heutigen Sponsoren des Balletts in Baden-Württemberg mit Adelsklimbim erfreuen, es wird jedenfalls immer wieder betont. Ansonsten aber bleibt das Zeitkolorit ausgespart, jüdische Kinder kamen wohl sowieso nicht als Spielgefährten für das 1928 in Stuttgart geborene Mädchen Georgette in Frage.
Fakt ist: Es hat schon einen sehr schlimmen Beigeschmack, sich so blind für die Geschichte zu stellen. Sogar, als Georgettes Vater auf Saloniki von den Nazis verhaftet wird, werden diese neutralistisch nur als „die Detuschen“ bezeichnet. Und man hat den Eindruck, dass es eigentlich egal war, wer da wen warum bekriegt hat. Sogar, als Georgette kurzzeitig in einer „Metallfabrik“ arbeiten musste, wird nicht gefragt, ob es sich dabei um eine Waffenfabrik oder ähnliches handelte.
Letztlich belasten sich Menschen, die über prekäre Punkte schweigen, vor allem selbst dadurch.
Nur die Bomben im Zweiten Weltkrieg – die bösen Bomben der bösen Alliierten, so kommt es hier leider rüber – werden dann noch erwähnt. Man hätte sonst fast vermuten können, Georgette Tsinguirides sei eine Fiktion, in einem nicht real existierenden Land aufgewachsen. Aber selbst wenn sie als Kind und Jugendliche von der gesellschaftlichen Wirklichkeit stark abgeschirmt gewesen sein sollte, so hätten hier doch einige Fragen der Buchautorin und auch ein Gespräch mit Georgette über das Thema und den Umgang damit aufklären müssen. Ein Minimum an Verantwortung hat man nämlich auch als so genannte Kulturschaffende, und das betrifft sowohl die Autorin Wiedmann als auch die Ballettmeisterin Tsinguirides als auch den Verlag Klöpfer & Meyer, der das Buch in die Welt setzte.
Es spricht für sich und für die mangelhafte Qualität der nicht wenigen bisherigen mir bekannten Rezensionen dieses Buches in den großen Zeitungen (und auch in den Fach-Medien), dass niemand dort diesen groben, eigentlich unübersehbaren Fehler der kompletten Ausklammerung der Nazi-Zeit nannte. Schlecht bezahlte Autoren kleben da wohl fast wörtlich an den Buchzeilen und schreiben dort regelrecht ab, nur um das eigene Gehirn möglichst wenig zu beanspruchen.
Von diesem einen Fehlverhalten Wiedmanns und Tsinguirides’ abgesehen, ist das Buch denn auch tatsächlich eine gelungene Beschreibung des Werdegangs einer Künstlerin, die sich nicht von Anfang an für unersetzlich hielt, die es aber im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wie kaum eine zweite wurde.
Ihr Vater war Zigarettenfabrikant (in Deutschland) und Radioproduzent (in Griechenland). Er lebte sein Leben, pendelnd zwischen den Staaten, zunehmend fern der von ihm gegründeten Familie in Stuttgart, und wichtiger war wohl der Einfluss der mütterlichen Verwandtschaft auf Georgette. Als sie 1945 ihr erstes Engagement antrat, kannte sie nicht nur klassisches Ballett, sondern auch die Bewegungslehre von Hella Heim, einer Ausdruckstänzerin. Ballett hingegen sei „moralisch bedenklich“, das war damals die weit verbreitete gesellschaftliche Ansicht. Das hatte Georgette mitbekommen. Woher diese Abwertung der harmonischsten aller Körperkünste kam, wollte sie offenbar nicht erforschen. Denn dann wäre sie ganz direkt nicht nur auf die Historie der Bühne als damalige Verwandte der Prostitution, sondern auch auf die Nazis als Täter mit diskriminierenden Worten gekommen. Und noch heute prägt der nationalsozialistische Hass auf den „schwulen“ und „dekadenten“ Balletttanz das Verhältnis der Deutschen zu dieser Kunst.
Da hatten es die Ausdruckstänzer schon einfacher. Ihre sportive, dynamische Herangehensweise deckte sich teilweise mit dem gymnastischen Verständnis von Tanz, das die Nazis progagierten. Weshalb auch eine Gret Palucca vor den NS-Spitzenpolitikern buckelte – und sich mit deren Gunst schmückte.
Aber all das fand in diesem Band keinen Platz. Hier geht es nur um die kontextlosen Schritte von Georgette Tsinguirides: sozusagen aus ihrem Bett heraus in den Ballettsaal, dann raus auf die Bühne – und spätabends zurück ins Bett.
Erstaunlich, dass das Buch sich dennoch nicht nur langweilig liest! Das liegt indes an der charismatischen Persönlichkeit von John Cranko, die den spannendsten Teil des Buches abdeckt. Mit Crankos Erscheinen 1960 als Gastchoreograf in Stuttgart nahm Georgettes bis dahin etwas vor sich hin dümpelnde Karriere (in der nur ein Erfolg heraus stach: 1955 in einem Turandot-Ballett mit Heinz Clauss) endlich den entscheidenden Aufschwung. Zunächst fand der indes nur in ihrer Seele statt: Der neue, temperamentvolle Chef beflügelte und inspirierte sie, sodass sie endlich auch mal anderes als über die selbstgestrickten Trikots berichtet.
Sorgsam wird also erzählt, dass Cranko ganze vier Tage Bedenkzeit brauchte, um das Angebot, neuer Stuttgarter Ballettdirektor zu werden, anzunehmen. Zunächst kündigte er dort keinem einzigen Tänzer, keiner einzigen Tänzerin – aber bald kam die heroische Marcia Haydée dazu, zunächst als „Chortänzerin“. Und sie übernahm Soloparts, ausgerechnet von Georgette, die dadurch nun nicht gerade aufstieg. Dennoch wurden die beiden Frauen bald Freundinnen (was sie bis heute sind), und überhaupt waren alle wohl beim Ballett wie elektrisiert vom neuen Boss Cranko. Dass es keine Mittagspausen gab und außerdem geprobt wurde, wann, wie und wie lange der Herr Direktor es wollte, nahmen angeblich alle ohne zu murren hin. Die 60er Jahre waren noch eine Zeit der theatralen Diktatoren, sozusagen – Crankos Tablettensucht und sein Umgang mit Alkohol taten ein übriges. Es ist ausdrücklich lobenswert, dass diese dunklen Aspekte seiner Persönlichkeit im Buch nicht verschwiegen werden, wenn sie auch nicht den Hauptteil ausmachen (was nachgerade lächerlich wäre).
1962 gelang der Compagnie jedenfalls mit „Romeo und Julia“ – in dem Georgette Tsinguirides noch viel später als ältere Dame eine Zigeunerin tanzte – der durchschlagende Erfolg. Das Stuttgarter Ballettwunder war eröffnet!
Dass Cranko sein Deutsch übers Kreuzworträsellösen lernte, und zwar gut und schnell, und dass er den anspruchsvollen linken Dichter Thomas Mann (mit seinen Bandwurmsätzen) las und dadurch nach nur einem Jahr sehr gut Deutsch verstand – man wusste es vorher nicht, oder? Dass er sich dafür rausnahm, zu von ihm angesetzten Proben nach Gutdünken zu spät zu kommen, nur, weil er die Nacht zuvor gezecht oder gepoppt hatte – verziehen ihm anscheinend alle. Insgesamt schuf John Cranko, das wird hier plastisch geschildert, das Flair einer Großfamilie, und zwar mit sich als Patriarchen, und das wirkte auf seine „Schäfchen“ offenbar motivierend.
Wir sprechen ja von Vor-68er-Zeiten – und wir sprechen von Ballett. Und bekanntlich ist die Bereitschaft, Vorgesetzte zu vergöttern, in dieser Branche bis heute besonders groß. Cranko und seine Kunst profitierten aber zweifelsohne nicht zum Nachteil der Menschheit davon.
Als es in Stuttgart dann um Crankos Frühwerk „The Lady and the Fool“ von 1954 geht, darf Georgette dieses Stück allein in Kapstadt einstudieren. Sie war Cranko nämlich schon aufgefallen, weil sie so gut darin war und ist, ihr Wissen und Können an andere Tänzer weiterzugeben.
Da es damals noch keine Videos gab, war Georgette zunächst aber ziemlich nervös, wie sie überhaupt ohne Chef coachen sollte. Aber sie entwickelte ihre eigene Methode, sich das ganze Ballett, die ganze Choreografie von „The Lady“, zu notieren. Redlich, wie die Tsinguirides ist, erzählt sie sogar auch, dass es ihr vor Ort enorm half, dass einer der Solisten in Kapstadt die „Lady“ schon mal getanzt hatte und noch Einiges von der Choreo wusste. Typisch Frau. Ein Mann hätte hier sicher seine Eigenleistung, ohne Anleitung des Choreografen selbständig zu coachen, sehr unterstrichen. Das psychologische Moment ist dabei entscheidend: Frauen trauen sich eher gar nichts zu, Männer hingegen gern auch mal alles. Und damit ist gar nichts über ihre tatsächlichen Fähigkeiten oder Inkompetenzen ausgesagt.
Georgette jedenfalls bestand die Feuerprobe. Cranko ließ sie nach diesem Startschuss immer öfter assistieren und für ihn arbeiten, sie wurde sein wandelndes Gedächtnis. Und nachdem sein Freund und Kollege Kenneth MacMillan ihm von dem neuartigen Choreologie-Verfahren von Rudolf Benesh erzählte, das dieser und seine Frau Joan in London lehrten – da schickte Cranko die Tsinguirides mit einem Stipendium des British Council einfach hin, nach England: um diese Methode für Stuttgart zu erlernen. Immerhin schon 37 Jahre alt war Georgette damals, und das war in den 60er Jahren kein junges Alter mehr für eine Arbeitnehmerin. Genau 50 Jahre ist das nun her…
In diesem ersten Vollzeitkursus, den die Beneshs abhielten, wurde Georgette Tsinguirides ein eifriges, wohl auch streitbares Mitglied – und alsbald die erste Choreologin Deutschlands.
Der Rest ist Geschichte. Die Tsinguirides wurde ein heimlicher Star des Stuttgarter Balletts und zudem eine Zeitzeugin, die mit Cranko, Béjart, MacMillan arbeitete. Privat hatte Georgette mit zwei gescheiterten Ehen zwar nicht viel Glück, aber beruflich stand ihre Mission fest. Sogar nachts arbeitete sie daran, die Ballette von John Cranko in wissenschaftlich korrekter Notation festzuhalten. Ein Verdienst, den die Kulturmenschheit ihr für immer danken wird!
Viele historische Fotos und andere Abbildungen, etwa ein Notationsauszug von „Onegin“, illustrieren Leben und Werdegang dieser außergewöhnlichen Frau, wobei auch die Druckqualitäten sowohl des Schriftbilds als auch der Fotos schicht in Ordnung sind. Heutzutage ist das schon fast eine Seltenheit. Es freut mich, dass gerade Georgette Tsinguirides es in dieser Hinsicht so gut getroffen hat.
Und wenn Tänzer wie Maria Eichwald und Marijn Rademaker sie heute innig loben, weil sie so einfühlsam und zielsicher Rollen einstudieren kann, wenn sie heute in ihrer Loge im Stuttgarter Opernhaus sitzt, um den Vorstellungen zu folgen, und wenn sie heute in der Pause ihr Glas Champagner (niemals Sekt!) süffelt, dann ist Georgette Tsinguirides zudem ein Original, das als Mensch und als Künstlerin jeden Tag mehr gewonnen hat und gewinnt und einfach dazu gehört. Gerade, weil sie bescheiden blieb. Übrigens macht sie jeden Morgen noch ihre Ballettübungen, so, wie man diese mit fast 88 eben machen kann. Wirklich toll.
Gisela Sonnenburg
Susanne Wiedmann: „Georgette Tsinguirides. Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“, Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2016, 25 Euro