Ein goldener Geburtstag Georgette Tsinguirides, Choreologin von John Cranko und langjährige Ballettmeisterin beim Stuttgarter Ballett, wird 90!

Georgette Tsinguirides feiert ihren 90. Geburtstag

Georgette Tsinguirides mit 85 Jahren in einer Hebung im Ballettsaal – mit den Jungs vom Stuttgarter Ballett. Sie lebe hoch, sie lebe drei Mal hoch! Faksimile: Gisela Sonnenburg / aus dem Buch „Georgette Tsinguirides – Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“ von Susanne Wiedmann

Sie ist eine wandelnde Legende, eine wichtige Zeitzeugin der Ära John Cranko aus nächster Nähe, und ihre vitale Erscheinung sowie ihre Antriebskraft lassen keineswegs vermuten, dass sie schon fast ein Jahrhundert auf diesem Erdball weilt. Georgette Tsinguirides, Tänzerin, Choreologin und Ballettmeisterin a. D., schwäbelt mit freundlicher Melodie, holt tief Luft, wenn ihr etwas wichtig ist – und wird heute, am 27. Februar 2018, glückliche 90 Jahre alt. Wir gratulieren herzlichst! Im folgenden Interview, fürs Ballett-Journal vor wenigen Tagen mit ihr geführt, erinnert sie sich an die tanzbewegte Vergangenheit ihrer Berufsjahre, erzählt aber auch von ihrer Gegenwart sowie von ihren Hoffnungen für die Zukunft. Grundlage des Gesprächs ist die umfassende, dennoch handliche, spannend geschriebene Biografie „Georgette Tsinguirides – Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“, die Susanne Wiedmann verfasste. Leben und Wirken der Jubilarin sind darin beschrieben: von der entbehrungsreichen Kindheit über die ersten Tanzjahre am Theater bis zur Entfaltung als unentbehrliche Mitarbeiterin beim Stuttgarter Ballett. Und wie sieht die nächste Zukunft für sie aus?

Ballett-Journal: Am 27. Februar 2018 werden Sie 90, liebe Georgette. Eigentlich ja kein Alter für eine Frau wie Sie. Trotzdem ist es ein besonderer Tag. Wie werden Sie ihn feiern?

Georgette Tsinguirides: Am liebsten wäre ich in den Süden gefahren und hätte überhaupt nicht gefeiert. Aber ich glaube, wenn die Null hinter der Neun ist, muss man irgendetwas machen. Das Stuttgarter Ballett hat mich am Nachmittag in den Ballettsaal einbestellt, da wird man mich mit etwas Schönem überraschen. Am Abend feiere ich dann mit Freunden.

Ballett-Journal: Über 70 Jahre Berufserfahrung beim Ballett liegen hinter Ihnen, beim Stuttgarter Ballett. Was war das Bemerkenswerteste, das Ihnen in dieser Zeit widerfuhr?

Georgette Tsinguirides: Man hat mich das so oft gefragt. Aber ich habe immer gesagt: Das Wichtigste ist, dass man nicht stehen bleiben darf, man muss weitergehen. Nur so kann man an die nächste Generation weitergeben, was man selbst erhalten und erlebt hat. Dadurch, dass ich mit John Cranko die ganzen zwölf Jahre seines Wirkens in Stuttgart, von 1961 bis 1973, gearbeitet und seine Ballette aufgezeichnet habe, ist es nahe liegend, das weiterzugeben, was er mir gegeben hat.

Ballett-Journal: Ihr Leben galt John Cranko und seinem Werk. Wann wussten Sie, dass er ein Genie ist?

Georgette Tsinguirides: Das ist für mich schwierig zu beantworten. Man trifft einen Menschen zum ersten Mal – und es ist etwas da, die Chemie stimmt, und es ist wunderbar. Nicht nur seine künstlerische Seite, sondern auch seine ganze menschliche Art war so unglaublich stark und so echt, mit viel Humor. Ob er ein Genie war? Ja, natürlich, es gibt diese außergewöhnlichen Menschen, und er war einer von ihnen. Aber er war andererseits auch wieder ganz einfach, lebte sozusagen nah am Boden. Und er war wie ein Freund zu uns. Er war nicht nur Ballettdirektor und Choreograf. Er war ein wunderbarer Mensch.

Georgette Tsinguirides feiert ihren 90. Geburtstag

Das so genannte „Nasenfoto“ von Sabine Toepffer zeigt Georgette Tsinguirides im Profil – und John Cranko auch. Die Ähnlichkeit ihrer Nasen überrascht jeden Betrachter. Das Buch „Georgette Tsinguirides – Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“ (dem das Fasksimile von Gisela Sonnenburg hier entstammt) kennt aber noch viel mehr Verbindendes zwischen der Choreologin und ihrem Meister.

Ballett-Journal: Ihre Zeit mit John Cranko markiert den Neuanfang der Westdeutschen, sich mit Ballett zu beschäftigen. Sie kennen John Neumeier und William Forsythe, Jiri Kylián und Uwe Scholz aus dieser Ära und haben zusehen können, wie sich das Interesse für Ballett hier zu Lande neu formiert. Was ist es für ein Gefühl, Teil so einer evolutionären Bewegung zu sein?

Georgette Tsinguirides: Man denkt nicht so sehr darüber nach. Aber Sie sind gut informiert.

Ballett-Journal: Sie haben immer so viel gearbeitet, dass die Ballette an sich wichtiger waren. Haben Sie ein Lieblingsballett?

Georgette Tsinguirides: Das sind diese zwei Ballette: „Brouillards“, das Claude-Debussy-Ballett von John Cranko von 1970, und Crankos „Opus 1“, zur Passacaglia von Anton von Webern, von 1965. Cranko hat, auch in den abstrakten Arbeiten, den Menschen in den Vordergrund gestellt – das sagen wir auch immer den Tänzern. Deshalb haben seine Ballette auch so viel ausgesagt. Denn neben der schwierigen Technik war die Aussage immer sehr stark. Dadurch wirken die Ballette heute noch. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Das strahlt aus, das geht über die Bühne, zum Publikum.

Ballett-Journal: Sie verkörpern nachgerade den Beginn der Choreologie in Deutschland. Cranko schickte sie nach London, um die Benesh Movement Notation zu erlernen. Damit wurden Sie zur Bewahrerin seiner choreografischen Schätze. Sie haben dann aber auch erlebt, wie die Aufzeichnung mit Video nach und nach die Choreologie ergänzte. Warum ist es dennoch so wichtig, die Aufzeichnung im Partiturformat zu haben?

Georgette Tsinguirides: Wir leben in einer Zeit mit Videos, Smartphones und Computern, und ich finde Aufzeichnungen mit Videos an sich auch sehr schön. Man kann sie zeigen, um die Atmosphäre zu zeigen und das, was sich auf der Bühne so tut. Aber für die Details braucht man die Notations, die präzise bis in die Fingerspitzen sind. Zumal die Videos aus dem Ballettsaal meistens spiegelverkehrt sind, weil sie das Geschehen der Spiegelwand aufzeichnen. Bei den aufgezeichneten Aufführungen ist dann manchmal etwas anders, als es eigentlich sein sollte. Ein Tänzer kann ein bisschen zu spät sein oder zu früh. Da ist vielleicht ein Tänzer verletzt, und es wurde darum etwas umgestellt.

Georgette Tsinguirides feiert ihren 90. Geburtstag

Manchmal muss auf der Probe einfach nur gelacht werden – zur Entspannung. Georgette Tsinguirides und Elisa Badenes im Ballettsaal beim Stuttgarter Ballett – so zu sehen im Band „Georgette Tsinguirides – Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“ von Susanne Wiedmann. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Prinzipiell ist eine Bühnenvorführung auch immer zugleich eine Interpretation, also subjektiv, während die objektive Choreografie nur in der Notation vorhanden ist. Aber auch die Vermittlung an die Tänzer ist wichtig, das Coachen oder Stagen.

Georgette Tsinguirides: Es ist wichtig, dass die Technik stimmt. Das ist die eine Seite: Dass die Choreografie authentisch ist und erhalten bleibt. Die andere Seite ist, dass ich mich auf die Tänzer einstelle. Die Stücke sind ja für bestimmte Tänzer gemacht, für Marcia Haydée oder für Egon Madsen. Man darf aber nicht versuchen, eine Kopie vom Original zu wollen. Das habe ich zu Beginn mal geglaubt, aber das ist falsch. Man muss sich auf den Tänzer, der vor einem steht, einstellen. Er steht für eine andere Generation, hat eine andere Persönlichkeit. Man muss ihm das nahe bringen, was der Choreograf aussagen will, und dann muss man mit dem arbeiten, was vom Tänzer kommt. Und da darf es dann auch mal sein, dass man zehn Minuten nur lacht. Denn die Arbeit eines Tänzers ist so hart, so anstrengend, dass man auch mal locker lassen muss. Außerdem darf man nicht doktrinär sein, nie! Man muss die Tänzer lieben.

Ballett-Journal: Als Sie 1935 als Kind mit dem Balletttanz begannen, galt Ballett – es war ja mitten im Dritten Reich – als anrüchig. Die Nazis förderten den modernen Tanz, aber nicht das Ballett.

Georgette Tsinguirides: Man wusste damals zu wenig über klassisches Ballett. Man wusste mehr über den modernen Tanz, der von Dresden aus durch Gret Palucca bekannt geworden war. Das galt als etabliert und war mehr verständlich. Aber das klassische Ballett war in Deutschland zu wenig bekannt.

Ballett-Journal: Das begann erst mit John Cranko in Stuttgart, also ab 1961, sich zu ändern. Das letzte Werk von Cranko, „Spuren“, zu dem Adagio der Zehnten Sinfonie von Gustav Mahler, widmete sich dann einem sehr ernsten Thema, nämlich der Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern der Nazis.

Georgette Tsinguirides: Das ist ein sehr heikles Thema. Das geht ein bisschen in die Politik. Aber der Grundkonflikt war immer der zwischen dem Guten und dem Bösen. Das Böse spielt immer im Leben mit, man kann es nicht umgehen. Also muss man mit ihm in irgendeiner Form zurecht kommen. Cranko hat das sehr drastisch gezeigt: diese Szenen in den Lagern. Er hat aber auch den wunderbaren Gedanken gehabt, dass es am Ende für die beiden Liebenden im Stück Licht, also Hoffnung, gibt. Die Liebe ist am Ende stärker als das Böse. Das ist gemeint: Man darf nicht verzweifeln. Am Ende kommt immer von irgendwoher wieder ein Licht. Aber: Das Stück ist nicht ganz aufgezeichnet. Es wurde uraufgeführt, aber später als Aufführungsserie abgebrochen. Cranko hat es überarbeitet und wollte es wieder zeigen, aber da fehlte die Zeit, es technisch einzurichten. Und dann ist er überraschend gestorben. Ich habe Aufzeichnungen, sie sind noch nicht aufgearbeitet. Ich habe das noch bei mir im Hinterkopf, dass ich das noch schaffe, um es zu hinterlassen.

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Ballett-Journal: Das wäre bestimmt sehr spannend. Reid Anderson will aber auch noch ein Geschenk machen, und zwar sprach er von einer DVD, die in dieser Saison erscheinen solle. Wissen Sie da Näheres?

Georgette Tsinguirides: Ich weiß, dass Crankos „Romeo und Julia“ und sein „Onegin“ beim Stuttgarter Ballett aufgezeichnet wurden. Auf der Bühne und im Ballettsaal. Aber wann da was genau erscheinen wird – keine Ahnung.

Ballett-Journal: Sie haben an Dutzenden von renommierten Häusern in der ganzen Welt gearbeitet, um Choreografien von Cranko einzustudieren. Gibt es einen Moment, in dem Sie gemerkt haben, wie wichtig Ihre Arbeit ist?

Georgette Tsinguirides: Selbst ist man ja nie so wichtig, es ist immer eine Art Teamarbeit. Man ist nie allein, und man bekommt auch die Ehrungen eigentlich nicht für sich, sondern für alle, die mitgearbeitet haben. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Natürlich ist es jedes Mal ein Highlight-Erlebnis, wenn man arbeitet, und dann kommt die Premiere – und man denkt sich: Das hast du tatsächlich mitgemacht, das ist ja ein Wunder! Ich bin froh, wenn ich dann denke: John (Cranko) wäre damit zufrieden. Dann weiß ich, es ist gut.

Georgette Tsinguirides feiert ihren 90. Geburtstag

Wie und mit welchem Einsatz Georgette Tsinguirides probt – und darum von Tanzstars wie Maria Eichwald und Friedemann Vogel vergöttert wird – lässt sich im Band von Susanne Wiedmann nachlesen und auch anschauen. Faksimile aus dem Buch: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Seit letztem Jahr sind Sie im Ruhestand. Aber Sie sehen das Stuttgarter Ballett noch?

Georgette Tsinguirides: Natürlich schaue ich immer wieder rein. Ich gehe zu jeder Premiere, zu jeder Wiederaufnahme. Es sind ja meine Tänzer! Und sie vermissen mich. Aber ich ziehe mich aus dem Ballettsaalgeschehen zurück, denn jetzt muss man den Jüngeren den Vortritt lassen. Sie müssen ihre Erfahrungen machen und auch einbringen.

Ballett-Journal: Trainieren Sie noch selbst?

Georgette Tsinguirides: Ja, ich mache meine Dehnungen und meine Up-and-downs und so weiter. Mein Body ist noch ganz in Ordnung!

Ballett-Journal: Vorbildhaft! Machen Sie sich dennoch manchmal Sorgen um die Zukunft des Balletts? Dass das Spielerische und Ausdrucksvolle vergessen wird und es international nur noch um technische Höchstleistungen geht?

Georgette Tsinguirides: Man muss natürlich mit der Zeit gehen. Man darf nicht zurückdenken, man muss vordenken. Das Stuttgarter Ballett darf auch kein Museum werden. Es muss neue Ballette geben. Und seit Crankos Zeiten hat es sich ergeben, dass immer mal wieder ein Choreograf wichtig wird, der in Stuttgart begonnen hat, Stücke zu kreieren. Die jungen Choreografen müssen sich arrangieren und ihren Weg finden, und man muss ihnen dazu die Zeit lassen. Beides zusammen wird die Zukunft sein. Ohne die großen Klassiker und ohne Cranko wird es kein Repertoire geben, aber es muss auch Neues dazu kommen.

Es ist zwar in Deutschland noch ungewöhnlich, für journalistische Projekte zu spenden, aber wenn man die Medienlandschaft um das Ballett-Journal ergänzt sehen möchte, bleibt keine andere Möglichkeit. Im Impressum erfahren Sie mehr. Danke.

Ballett-Journal: Was haben Sie für ein Gefühl mit Tamas Detrich, der das Stuttgarter Ballett bald übernehmen wird?

Georgette Tsinguirides: Tamas ist ein Superjunge! Ich kenne ihn, seit er noch ein Teenager war und zu uns kam, um bei uns zu studieren. Er hat es wirklich von der Pieke auf gelernt – und war immer ein unglaublicher Arbeiter. Ich wünsche ihm das Allerbeste! Und bin natürlich froh, dass jemand aus unseren Reihen, der auch die Ära Marcia Haydée mitbekommen hat, das Ruder übernimmt, jemand, der die Cranko-Rollen selbst getanzt hat und hier eine wunderbare Entwicklung genommen hat. Das Stuttgarter Ballett ist ja nicht gerade unbekannt, und es wird nicht leicht sein, es zu übernehmen. Der Anfang kann schwierig werden. Aber ich traue es Tamas zu, er hat den Instinkt und auch den Humor, den es braucht. Und: Er hat viel Erfahrung gesammelt in all den Jahren. Das wird gut werden.

Ballett-Journal: Vielen Dank für das schöne Gespräch!
Text und Interview: Gisela Sonnenburg

Susanne Wiedmann: „Georgette Tsinguirides. Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“, Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2016, 25 Euro

www.stuttgarter-ballett.de

 

 

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