Ein Ballett im Schwebezustand Welch seltsamer Rekord: 40 Minuten tatenlose Pause im sonst aufregenden Online-Stream „Beethoven-Ballette“ vom Stuttgarter Ballett. Typisch für die Automarke, die den Stream präsentiert?

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

David Moore und Anna Osadcenko – ein wunderbares Team im „Adagio Hammerklavier“ von Hans van Manen beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Man weiß nicht, was sich Tamas Detrich dabei denkt. Der Mann ist Intendant vom Stuttgarter Ballett, wo er früher Starballerino und danach langjähriger Ballettmeister und stellvertretender Intendant war – und er sollte eigentlich wissen, dass das Publikum lange  Pausen, in denen es keine Möglichkeit gibt, mit dem Sektglas in der Hand durch das Theater zu flanieren, nicht wirklich schätzt. Trotzdem lässt Detrich es zu, dass das neue Programm vom Stuttgarter Ballett – als Online-Premiere am Gründonnerstagabend aus dem Stuttgarter Schauspielhaus live gesendet und danach noch einige Tage online stehend – zwei Mal von jeweils 20 Minuten Pause unterbrochen wird. Der Vorschlag seines Hauses dazu mutet etwas lapidar an: Man soll sich doch bitte die passenden Online-Trailer (nochmals) angucken oder im Online-Programmheft, das nicht downzuloaden ist, aber ein schikanös kleines  Schriftbild hat, blättern. Hm. Natürlich verpufft die gute Stimmung dabei. Und sie war gut, jedenfalls in der ersten Pause, nach dem fulminanten „Adagio Hammerklavier“ für drei Paare von Hans van Manen. Mit exquisiten Posen, langen Ausfallschritten und intensiven Blickwechseln gehören die Pas de deux darin zum Besten, was die Ballettwelt zu bieten hat. Nicht umsonst ist das Stück weltweit begehrt, hoch gerühmt, sozusagen ein Garant für Erfolg. Vorausgesetzt, es wird angemessen hochkarätig interpretiert. Und da sind Anna Osadcenko mit David Moore, Miriam Kacerova mit Roman Novitzky und Elisa Badenes mit Jason Reilly einfach unschlagbar toll.

Es ist eine Wohltat, endlich mal wieder eine aktuelle Besetzung eines so unter die Haut gehenden, dennoch kühl-eleganten Stücks zu sehen.

Kreiert 1973, bildet das „Adagio Hammerklavier“ einen Katechismus der Liebe, und zwar multipliziert mal drei, denn es sind drei Paare, die der Beziehungspflege hier tänzerisch frönen.

Lange Linien, tiefe Blicke. Schöne Nähe – und auch aufregende Distanzen.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Jason Reilly innig mit Elisa Badenes – im „Adagio Hammerklavier“ einer von vielen ergreifenden Momenten. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Die Miniaturen hier bieten alles, was das Mann-Frau-Spiel so fesselnd macht. Und zwar in ästhetischem Hochformat, ohne Kompromisse, ohne Einbrüche. Anders als etwa bei Jerome Robbins liegt auch nicht die Trennung ständig in der Luft. Eher geht es um das Aushalten der Liebe, die manchmal auch etwas Beschwerendes hat.

Das „Adagio Hammerklavier“ ist zweifelsohne ein Werk für die Ewigkeit, und Hans van Manen, sein Schöpfer, kann ebenso stolz darauf sein wie alle Tänzer*innen, die es je tanzen durften.

Übrigens fällt auch die hohe Musikalität van Manens hier ins Gewicht. Kaum eine Passage virtuoser Läufe lässt er ungehört, kaum einen Stimmungswechsel verpasst er.

Und das, obwohl weite Teile hier wie in Zeitlupe, so somnambul und emotional entrückt, auf die Bühne gebracht werden.

Vielleicht gehören die sechs Menschen, die hier alles zeigen, was sie an zarten Gefühlen zu geben haben, zu einer Gemeinschaft der Zukunft – es wäre schön, wenn diese Hoffnung bestünde.

Der Eindruck des absoluten Perfektionismus im schwebenden Zustand jedenfalls bleibt. Nachhaltig!

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Drei Paare voll Demut vor der Liebe: Das Stuttgarter Ballett mit „Adagio Hammerklavier“ von Hans Van Manen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Eher gegenwärtig-experimentell als so rundum vollkommen mutet dagegen die Uraufführung im Mittelteil der Triple Bill an: „Einssein“ von Mauro Bigonzetti. Der Titel bezieht sich auf das Einssein mit der Musik beim Tanz – allerdings ignoriert Bigonzettis Choreografie die Beethoven’schen Klänge oft demonstrativ. Das harmonische Ineinandergreifen von Körper, Geist und Seele – es will oder soll ihm hier nicht so recht gelingen. Möglicherweise ist das sein Konzept: Eigentlich alles zu sprengen, was er einmal für richtig befunden hat.

Getanzt von den Damen Elisa Badenes, Hyo-Jung Kang, Macenzie Brown und Vittoria Girelli sowie von den Herren Friedemann Vogel, Adhonay Soares da Silva, Matteo Miccini und Alessandro Giaquinto, entfächert sich hier eine Melange aus typischen Bigonzetti-Motiven und leicht imitiert wirkenden Einflüssen von Marco Goecke.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Sehenswert hoch zehn: Wie Friedemann Vogel ein Stück Ballett (nämlich „Einssein“ von Mauro Bigonzetti) einfach rettet… im Pas de deux mit Elisa Badenes in den „Beethoven-Balletten“ beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wenn Friedemann Vogel in einem Solo aus zappelnden Gymnastikbewegungen gar enttäuscht, so ist doch nicht zu vergessen, dass er zuvor und danach in zwei Pas de deux das ganze etwas unentschieden wirkende Stück sozusagen wundersam errettet.

Denn wie Friedemann da seine Partnerin Elisa Badenes greift, hält, lenkt, sie in der Luft, im Stand und am Boden beherrscht, ohne sie zu bedrängen, ist meisterhaft. Die Leichtfüßigkeit des Starballerinos ist zudem so augenfällig, als habe es nie Probleme wegen der Corona-Schutzmaßnahmen und etwa ausbleibender Trainingssituationen gegeben. Absolut bewunderungswürdig!

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Die Hände des Pianisten Andrej Jussow beim Stuttgarter Ballett in den „Beethoven-Balletten“. Videostill: Gisela Sonnenburg

Und auch Pianist Andrej Jussow gibt sein Bestes. Fraglos hörenswert. Auch er zeigt – wie die Tänze an diesem Abend – wie vielgestaltig die Musiken von Ludwig van Beethoven heute sein können.

Früher war das anders: Man spielte Beethoven stets etwas steif, fast hart, denn das war die frühere Auffassung von der Wiener Klassik. Heute erkennt man in Beethoven aber den direkten Vorläufer der Romantiker, und so darf Vieles plätschern und wirbeln, zerzaust und fließend wirken, was man früher strikt und streng dargeboten hätte.

Auch Pianist Andrej Jussow gibt sein Bestes. Fraglos hörenswert. Auch er zeigt – wie die Tänze an diesem Abend – wie vielgestaltig die Musiken von Ludwig van Beethoven heute sein können. Früher war das anders: Man spielte Beethoven stets etwas steif, fast hart, denn das war die frühere Auffassung von der Wiener Klassik. Heute erkennt man in Beethoven aber den direkten Vorläufer der Romantiker, und so darf ruhig Vieles plätschern und wirbeln, zerzaust und fließend wirken, was man früher strikt und streng dargeboten hätte. Nur so ist auch zu erklären, dass der amerikanische Großmeister der Neoklassik, der russischstämmige George Balanchine, davon ausging, dass Beethoven – zumindest für ihn – nicht zu vertanzen, nicht tanzbar sei. John Neumeier bewies bereits 2012 mit einer Arbeit für das Bundesjugendballett grandios das Gegenteil, und seit seinem „Beethoven-Projekt“ von 2018 ist auch das abendfüllende Beethoven-Ballett geboren. Die kürzeren Stücke, die Hans van Manen und andere seit den 70er-Jahren kreierten, stehen da aber durchaus in einer traditionellen Reihe mit Neumeier. Wobei auch der Einfluss von Maurice Béjart auf Hans van Manen deutlich zu erkennen ist, gerade anhand der beiden in Stuttgart jetzt gezeigten Werke.

Elisa Badenes und Jason Reilly: Mann und Frau im tänzerischen Gespräch trotz der Distanz zwischen ihnen. In Corona-Zeiten wie den unsrigen doppelt interessant. So zu sehen online in den „Beethoven-Balletten“ , im „Adagio Hammerklavier“ beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Nur so ist auch zu erklären, dass der amerikanische Großmeister der Neoklassik, der russischstämmige George Balanchine, davon ausging, dass Beethoven – zumindest für ihn – nicht zu vertanzen, nicht tanzbar sei.

John Neumeier bewies bereits 2012 mit einer Arbeit für das Bundesjugendballett grandios das Gegenteil, und seit seinem „Beethoven-Projekt“ von 2018 ist auch das abendfüllende Beethoven-Ballett geboren.

Die kürzeren Stücke, die Hans van Manen und andere seit den 70er-Jahren kreierten, stehen da aber durchaus in einer traditionellen Reihe mit Neumeier.

Wobei auch der Einfluss von Maurice Béjart auf Hans van Manen deutlich zu erkennen ist, gerade anhand der beiden in Stuttgart jetzt gezeigten Werke.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Hyo-Jung Kang in ihrer masochistisch angehauchten Partie in „Einssein“ von Mauro Bigonzetti beim Stuttgarter Ballett. Oh! Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Viel Grandezza kommt von Tänzer*innen. Auch Hyo-Jung Kang und der für meinen Geschmack leider zu sehr abgemagerte Adhonay Soares da Silva bieten Bemerkenswertes. Es ist, als herrsche in dieser Beziehung das Prinzip der subtilen Gewaltausübung vor. Häusliche Gewalt mag als typisches Corona-Thema hier die Inspiration gewesen sein.

Die Dame leidet, der Mann spielt den lüsternen Macho. Herabsetzung und Dominanz sind hier die Themen – und die Frau zieht, wie nicht ganz selten im wahren Leben auch, den Kürzeren.

Die beiden weiteren Paare bilden interessante Neuentdeckungen beim Stuttgarter Ballett, allerdings ohne, dass man nun vor Begeisterung aufspringen müsste. Schließlich weiß man, dass es in der Truppe, die derzeit vor dem sie sponsernden Autobauer allzu stark in die Knie geht und sich für dessen Werbung benutzen statt angemessen diskret unterstützen lässt, viele rasante Talente gibt.

 

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Friedemann Vogel und Elisa Badenes am Flügel: in den „Beethoven-Balletten“ beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Darum wundert man sich auch über das jüngste Förderprojekt, das das Stuttgarter Ballett (Spitzname: „Porsche Ballett“) freudestrahlend verkündet: Die Ferry Porsche Stiftung, die nach einem Sprössling des Firmengründers benannt ist, spendet 100 000 Euro für das Eleven-Programm vom Stuttgarter Ballett.

Wie die nicht geringe Summe verbraucht werden soll, ist allerdings seltsam bzw. wird seltsam begründet: Einige Absolventen, die man sonst nicht ins Ballett hätte engagieren können, sollen ein Jahr lang Teil der Compagnie werden, also mit Arbeitsvertrag ausgestattet werden und ein Gehalt empfangen. Das ist schön für die Berufsanfänger, zumal in Corona-Tanzen weder das Vortanzen noch das Engagiertwerden auf dem immer enger werdenden internationalen Arbeitsmarkt gut zu handeln sind.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Bei aller Schönheit: Männer im Mieder, aber ohne feminine Aneignung – so verkommt das Kostüm zur Verkostümierung. Zu sehen in „Einssein“ von Mauro Bigonzetti mit dem Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Ob Pandemie-Zeiten aber nun der richtige Zeitpunkt sind, um ein ohnehin nicht gerade kleines Ballettensemble nochmals zu vergrößern, ist die Frage. Angeblich geht es Tamas Detrich darum, dass die jungen Leute möglichst viel Bühnenerfahrung sammeln können. Sie sollen mit dem Stuttgarter Ballett auftreten.

Nun wissen wir aber alle, dass mit so richtig vielen Auftritten so richtig vieler Tänzer*innen in naher Zukunft nicht zu rechnen ist.

Und wenn man für einen Live-Stream einen derartigen Aufstand macht wie jetzt für die „Beethoven-Ballette“, werden wohl auch die spärlichen Online-Neuproduktionen zahlenmäßig nicht wirklich boomen.

Sorgen um die John Cranko Schule beim Stuttgarter Ballett macht man sich zudem nicht nur wegen der Absolventen. Sondern vor allem deshalb, weil im letzten Jahr trotz gut gelaunter Einweihung eines nagelneuen Schulgebäudes keine einzige Schülerin, kein einziger Schüler neu aufgenommen wurde. Wegen Corona. So weit hat sich bislang keine andere Profi-Ausbildungsstätte für Ballett in Europa unterkriegen lassen. Sollte man da nicht für die kommenden Jahrgänge was tun und nicht für diejenigen, die ihre „Luxus-Ausbildung“ dann schon hinter sich haben?

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Hyo-Jung Kang und Adhonay Soares da Silva in einem glücklichen Moment… zu sehen in den „Beethoven-Balletten“ beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Irgendwie liegt Porsche dieses Jahr doch ganz verdammt daneben, was sein „Engagement“ fürs Stuttgarter Ballett sprich seine versuchte Image-Politur damit angeht. Da ärgert einen das am Ende des Beethoven-Streams auftrumpfende, durchaus sexistisch anmutende Plattballett-Foto mit Auto schon gar nicht mehr. Hilflos wirkt hier die Bemühung, die Erotik einer scheinbar viel Haut zeigenden Ballerina und auch ihre demonstrierte Sprungkraft in den Dienst der Werbung für ein umweltschädliches Produkt zu stellen.

Macht Porsche derzeit überhaupt noch große Sprünge?

Dazu wundert es einen, warum auch die schon genannte, kaum zu fassende Seltsamkeit in diesem Programm so gelassen hingenommen wird: Zwischen den einzelnen Ballettstücken befinden sich wirklich jeweils Pausen von vollen 20 Minuten.

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Happiness after sex: Friedemann Vogel und Elisa Badenes sind ein ziemlich dynamisches Paar in „Einssein“ von Mauro Bigonzetti. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Ganz so, als befände man sich im Theater und würde dort die Toiletten aufsuchen, mit Freunden ein Schwätzchen halten und die Frisur neu richten. Aber man sitzt faktisch daheim, meist allein oder im ganz trauten Kreis – und das ist die kalkulierbare Realität.

Das Beste, was im Vorfeld der Premiere vom Stuttgarter Ballett kam, haben die meisten zu diesem Zeitpunkt wohl auch schon gehört. Es ist das kurze, aber sehr feine und intensive Interview, das Friedemann Vogel dem Sender swr gab. Darin macht er jungen Leuten, die es beruflich zum Tanz zieht, Mut: Sie sollen nur nicht vorschnell aufgeben, denn das Wichtigste ist der eigene Wille. Toll. Es steht natürlich auch auf der Website vom Stuttgarter Ballett.

Aber sonst? Absurd. Es ist absurd, vor dem Computer-Bildschirm zu sitzen und zwei Mal 20 Minuten lang gähnende blaue Leere gezeigt zu bekommen. Nutzt man die Zeit für etwas Anderes, schaltet der Computer automatisch auf Ruhezustand. Tippt man immer mal wieder auf die Tasten, lädt er trotzdem nicht neu, wenn es wieder losgeht. Ein optimales Streaming sieht in dieser Hinsicht doch etwas anders aus.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Liebesglück zwischen den Elementen: Friedemann Vogel mit Elisa Badenes in „Einssein“ in den „Beethoven-Balletten“. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Vielleicht will man mit den absurden Pausen andeuten, dass man sich nicht daran gewöhnen solle, dass die Programmabläufe nun zügiger sind, weil sie im Internet stattfinden. Dennoch wird man den dumpfen Verdacht nicht los, dass es hier nur um schnöde Umbaupausen geht, vielleicht wird auch die Bühne noch gründlich desinfiziert – und man hält das Publikum aus reiner Gewohnheit eben 20 Minuten hin.

Sowohl das Bigzonzetti-Stück als auch die „Große Fuge“ am Schluss leiden unter dieser wenig amüsanten Leerzeit. Das ist nicht der Schwebezustand, den man mit Ballett anstrebt!

Die „Große Fuge“ von 1971 ist jedenfalls ein weiteres Glanzstück von Hans van Manen, ohne allerdings die gediegene choreografische Perfektion des „Adagio Hammerklavier“ zu erreichen oder auch nur erreichen zu wollen.

Dafür gibt es hier Humor, und der ist im modernen Ballett ja nun leider eine Seltenheit, sodass man sich erst recht über die Stückauswahl freut.

Schon die Kostüme von Kristopher Millar und das Licht von Carlo Cerri – der aktuell auch mit Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund arbeitet – beinhalten kleine Pointen, überraschende Wendungen, lustige Momente.

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Interessante Kringel statt Krönchen im Haar: Das Outfit passt zur surrealen Stimmung und Choreografie in der „Großen Fuge“ von Hans van Manen. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

So tragen die Damen kringelige Gestecke in individuellen Farben am Hinterkopf. Wie muntere Parodien auf die Kronen und Diademe, die George Balanchine seinen Ballerinen oftmals angediehen ließ.

Die Herren gehen dafür im Wickelrock voran, ein dunkelviolettes Pflaumenschwarz ist der extravaganter Farbton. Ein breiter schwarzer Gürtel mit großer Schnalle verbleibt auch noch an Hüften, wenn die Jungs ihre Röcke abwerfen wie Ballast. Um in sportiv-verspielten Pas de deux zu ganzen Mannsbildern zu reifen.

Aber das tun sie erst, nachdem sie weidlich als Männergruppe und in Soli brilliert haben. Wirklich androgyn waren sie zuvor im tänzerischen Verhalten zwar nicht. Aber sie hatten die Scheu von ganz jungen Männern, sich den Frauen auszuliefern und die ihnen somit aufoktroyierte Rolle als starkes Geschlecht auszufüllen.

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Ein schöner, schmerzlicher Blick – in Hans van Manens „Großer Fuge“ in den „Beethoven-Balletten“ beim Stuttgarter Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Hübsch sind diese Wandlungen zu sehen, und wenn die Damen, am Boden liegend, in die Gürtel der Jungs greifen, um sich über den Boden schleifen zu lassen, dann entbehrt das nicht des trockenen, fast sarkastischen Humors.

Rocio Aleman, Agnes Su, Veronika Verterich, Alicia Garcia Torronteras, Ciro Ernesto Mansilla, Timoor Afshar, Martí Fernández Paixà und vor allem Clemens Fröhlich tanzen hier wunderbar stark und elegant, hingebungsvoll und dynamisch zugleich.

Clemens Fröhlich ist für mich die absolute Überraschung des Abends – soviel Power, Lust und Partnerfähigkeit ist selbst bei weltgewandten Truppen wie dem Stuttgarter Ballett nicht immer anzutreffen. Und die Choreografie von van Manen bietet diesem Brillanztänzer eine optimale Fläche, um alle moderne Power zu zeigen.

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Verdiente Freude: Clemens Fröhlich (links) und das Stuttgarter Ballett nach der „Großen Fuge“ beim kärglichen Applaus, der dennoch hier etwas Besonderes ist. Videostill: Gisela Sonnenburg

Mauro Bigonzetti enttäuschte da im Vergleich zu van Manen ein bisschen. Denn trotz einfallsreicher Positionierung von Tänzern auf dem Flügel, der somit zur Tanzfläche mutierte, fehlt doch das Konzept einer inhaltlichen Bewegung, die mit der äußeren korrespondiert.

Spannungen in der Gruppe, in den Soli, in den Pas de deux, in der Kleingruppe – all das ist teilweise interessant anzusehen. Aber es ergeben sich immer nur Bruchstücke einer Beziehung, ohne, dass ein Ganzes entsteht. Immerhin: Alle sind glücklich, dass überhaupt etwas Neues passiert, und diesen Schwung kann niemand der Aufführung absprechen.

Ein wenig Applaus erhalten sie denn auch alle, die tapferen Künstler*innen hier, und zawr von den anderen für den Stream unverzichtbaren Mitarbeiter*innen. Und auch Blumen werden – von höflichen Maskierten – überreicht. Aber die Atmosphäre ist selbstverständlich eine andere als bei normalen Live-Abenden.

Eine Ansprache von Tamas Detrich ans Publikum hätte durchaus etwas mehr menschliche Wärme dort hineintragen können. Aber Detrich hat ohnehin eine etwas merkwürdige Auffassung von seiner Aufgabe als Ballettchef. So erklärt er in dem „Backstage“-Trailer zu den „Beethoven-Balletten“, dass es ihm darum gehe, dass die Tänzer*innen wieder Bühnenpraxis hätten. Immer nur zu trainieren und zu proben, das sei nicht befriedigend, man brauche die Bühne und den Kontakt zum Publikum.

"Beethoven-Ballette" beim Stuttgarter Ballett

Alle Tänzer*innen der „Großen Fuge“ von Hans van Manen beisammen: so zu sehen in den „Beethoven-Balletten“ im Stream. Videostill: Gisela Sonnenburg

Bei Aufführungen geht es aber nicht nur um die Bedürfnisse der Künstler*innen. Es geht sehr wohl auch um die des Publikums! Und das würde nun gern öfter solche Streams sehen, ob kurze oder lange, am besten aber ohne langwierige Pausen.

Das Prinzip der Aufzeichnung dürfte in Stuttgart ja nicht neu sein. Vielleicht überlegt sich Detrich, ob er es schafft, nächstes Mal vorab aufzunehmen und die Pausen dann – wenn sie denn notwendig sind – für das Streaming herauszuschneiden.

Die Videoproduktion unter Andreas Roloff mit einer subtilen, trefflichen Kameraführung durch Dora Detrich macht diese drei Stücke mit Stuttgarter Tanz jedenfalls gewissermaßen unsterblich. Da hat mal was richtig geklappt, und man wünscht sich die Aufnahme (bitte ohne Pausen!) als DVD oder BluRay, um sie auch auf dem größeren Monitor und auch noch nächstes Jahr zu genießen. Falls noch jemand ans Stuttgarter Ballett spenden möchte: Das wäre doch eine Idee!
Gisela Sonnenburg

Und wen es interessiert: Allein die Fotos anzufertigen, hat runde 5 Stunden hochkonzentrierte Arbeitszeit gekostet, und insgesamt kommt mein Beitrag dieses Mal auf über 12 Stunden Arbeit. Hätten Sie’s gewusst? Zeit zu spenden? Aber bitte:

 

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Die „Beethoven-Ballette“ stehen noch bis Ostermontag, den 5.4.21, 22 Uhr, online.

www.stuttgarter-ballett.de

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