Mit Blut, Schweiß und Tränen Von der Oper „Medea“ von Luigi Cherubini in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin bis zum Film „Ich, Daniel Blake“ von Ken Loach in der 3sat Mediathek: Anregungen fürs Ballett

"Medea" in der Regie von Andrea Breth

Médée, grandios gesungen und verkörpert von Sonya Yoncheva, streitet mit Jason, überzeugend von Francesco Demuro gesungen und gespielt, doch sie wird nur noch Rache nehmen können. So zu sehen in „Medea“ von Luigi Cherubini in der Regie von Andrea Breth in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Videostill vom Trailer der Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Recht haben und Recht bekommen sind meist zweierlei. In der Oper „Medea“ („Médée“) von Luigi Cherubini wird, der antiken griechischen Sage gemäß, aus der liebenden Ehefrau und zweimaligen Mutter Medea durch die große Ungerechtigkeit, die ihr durch den eigenen Gatten sowie durch eine grausame Gesellschaft widerfährt, ein Ausbund an Rachsucht. Sonya Yoncheva singt und spielt die Partie der Verstoßenen in der Regie von Andrea Breth an der Berliner Staatsoper Unter den Linden derart eindringlich und psychologisch plausibel, stimmlich wie darstellerisch unter die Haut gehend, dass man versucht ist, sie zur neuen Maria Callas auszurufen! Anders als einst die Callas brilliert Yoncheva aber nicht in der italienischen Version der Oper mit zahlreichen eher langweiligen Rezitativen. Sondern in der dramatisch wirkungsvollen ursprünglichen, französischsprachigen Fassung der Uraufführung von 1797: Starke Dialoge ergänzen darin das gesungene Spiel. Starke Dialoge gibt es aber auch im Spielfilm von 2016, den Ken Loach zum Thema Entmenschlichung durch den Staat drehte, wofür er die Goldene Palme in Cannes erhielt: „Ich, Daniel Blake“ zeigt den Passionsweg des herzkranken 59-jährigen Daniel, der in Großbritannien verzweifelt um seine Würde und seine Ansprüche kämpft. Auf seinem Armutsbegräbnis wird er selbst zitiert: „Ich bin ein Mensch und kein Hund.“ Aber aus dem Filmplot könnte man auch ein Ballett machen.

Der Film steht noch bis zum Samstag, 22. Februar 2020 in der Mediathek auf www.3sat.de– die Oper ist am Freitag, dem 21. Februar 2020 wieder in Berlin in der Staatsoper Unter den Linden zu sehen (zum letzten Mal in dieser Spielzeit).

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

„Ich, Daniel Blake“ von Ken Loach: Dave Johns spielt den sympathischen Verlierer Daniel, den die staatlichen Behörden in den Tod treiben. Videostill von der 3sat Mediathek: Gisela Sonnenburg

Während Daniel Blake (hervorragend anrührend und unspektakulär zugleich von Dave Johns gespielt) in seiner Beziehung zu einer alleinstehenden Mutter von zwei Kindern – offenbar einem Prototyp des männlichen Blicks auf Frauen – einen letzten Rest zivilisatorischer Hoffnung hat, muss Medea auf der Opernbühne (Bühnenbild: Martin Zehetgruber) sich in puncto Menschlichkeit schwer enttäuscht sehen.

Einst kämpfte sie für ihre Liebe zu Jason (dessen Name auf französisch sehr schön leidenschaftlich „Schasóhng“ ausgesprochen wird). Sie half ihm, das sagenumwobene Goldene Vlies zu ergaunern, ein Tierfell mit mythischen Kräften, dem allerlei Wert zugesprochen wird.

Nun verfügt aber auch Medea selbst – im Gegensatz zu Daniel Blake – über magische Kräfte. Sie ist der Typ Hexe, der für seine Fähigkeiten nicht anerkannt, sondern wie aus Zufall verstoßen wird.

Seine brennende Aktualität hat Medeas Schicksal darin, dass mit ihr eine ältere Frau und Mutter zu Gunsten einer naiven jungen Frau verlassen wird.

Das Patriarchat erweist sich einmal mehr als kriminelles System, in dem sich die Männer nehmen, was sie wollen – Sex, Macht, Ruhm – während die Frauen als hündisches Anhängsel austauschbar sind.

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

Eine Frau wehrt sich gegen das grausame Schicksal – mit noch größerer Grausamkeit: Sonya Yoncheva ist als „Medea“ in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin auch stimmlich eine Heldin. Videostill vom Trailer der Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Dieses Spiel macht Medea nicht mit. Edelmütigerweise ist auch ihre Rivalin Dircé – Slávka Zámecníková singt und spielt sie vorzüglich, hat aber von der Partitur her leider nur eine einzige grandios-virtuose Arie, da ist Cherubini doch ein dramaturgischer Mangel unterlaufen – nicht wirklich einverstanden mit den kaputten Spielregeln der Männer.

Tatkräftige Solidarität oder gar eine Frauenrebellion gibt es in der Oper dennoch nicht. Wir haben es zwar mit einem Werk zu tun, das in revolutionären Zeiten in Paris uraufgeführt wurde, aber die Rechte der Frauen beschränkten sich auch damals darauf, die Männer in ihren Interessen zu unterstützen.

Auch bei Ken Loach geht es nicht um die Emanzipation der Frauen. Im Gegenteil: Im unsympathischen Behördensystem gibt es nicht selten Frauen mit ein wenig Macht – eine wird sogar am Ende auf Daniels Trauerfeier erscheinen.

Er stirbt kurz vor seinem vorläufigen Ziel – der Anerkennung als Arbeitsloser statt als Sozialhilfeempfänger – im Waschraum an einem Herzinfarkt. Seine Erkrankung am Herzen hatte ihn sozial abrutschen lassen, und die Demütigungen und ungerechten Verteilkämpfe, die er danach erleben musste, trieben ihn immer weiter in die Enge.

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

Regisseur Ken Loach enthüllt den Behördenstaat als Killer: Dave Johns in „Ich, Daniel Blake“, noch bis zum 22. Februar 2020 in der 3sat Mediathek zu sehen. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Medea hingegen nutzt List und Tücke, um wenigstens ihrer Rache freien Lauf zu lassen.

Jason und sie hatten sich nach der Errungenschaft des Goldenen Vlies auf der Flucht verloren. Die gemeinsamen beiden Söhne waren beim Vater geblieben.

Am Hofe von Kreon treffen Jason und Medea wieder aufeinander. Aber ach, oje: Jason hat seine Seele und seinen Schwanz bereits an Kreons Tochter Dircé vergeben (und an einige andere wie sein Kindermädchen, das hier aber keine weiteren Ansprüche stellt).

Dabei ist Kreon (Créon heißt er im Französischen) nur scharf auf das Goldene Vlies.

In Andrea Breths überwiegend sehr schlüssigen, mitreißenden Inszenierung ist das begehrte Vlies ein schmuddelig-brauner Widderkopf mit dazugehörigem Fell, das von einzelnen Goldsträhnen durchwirkt ist. Wirklich kostbar wirkt es nicht – seine Macht erhält es durch die Tatsache, dass es angebetet wird. Und zwar von Kreons ganzem Hof, also dem mal wieder superbe singenden Staatsopernchor (Einstudierung: Martin Wright).

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Ich, Daniel Blake“ – im Original „I, Daniel Blake“ – revoltiert der Held gegen das System. Er sprüht die Filmtitelzeile auf die Fassade des Sozialamts, zusammen mit der Aufforderung, wenigstens die „beschissene“ Musik der Telefonwarteschleife zu verbessern. Dafür erhält er Zuspruch von der Öffentlichkeit, die Bevölkerung – darunter ein paar idiotisch kostümierte weibliche „Häschen“, die ihre rosa Hasenohren vermutlich nicht nur aus Spaß tragen – jubelt ihm zu. Und es finden sich Leidensgenossen, die ihn zu seinem Mut gratulieren.

Aber natürlich wird Daniel alsbald verhaftet, und sogar die ihm halbwegs wohlgesonnene Sozialarbeiterin, die genau weiß „Gute Leute landen auf der Straße – und verlieren alles“, ist von der Aktion entsetzt.

Aber Daniel Blake hält durch, bis zuletzt, bis ihn kurz vor dem vermeintlichen Ziel der tödliche Herzinfarkt ereilt. Zurück bleibt Katie, die ihre beiden Kinder mehr schlecht als recht durchbringt und die sich, um ihnen auch mal frisches Obst kaufen zu können, sogar prostituiert. Ihr und ihren Kindern konnte Daniel helfen: mit Menschlichkeit, mit Geschichtenerzählen, mit Zuwendung.

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

Kreons Hof logiert in einem Kellerlager: Jason und Medea treffen sich dort wieder. So in Andrea Breths Inszenierung von „Medea“ in Berlin an der Staatsoper Unter den Linden. Videostill vom Trailer der Staatsoper: Gisela Sonnenburg

All diese social skills darf Medea nicht ausleben. Sie soll Kreons Reich verlassen, ihr Mann und ihre Kinder wurden ihr genommen, damit Jason mit Dircé eine neue Familie gründen kann.

Listig bedingt sich Medea einen Tag Bleiberecht aus. Und sorgt für ein Inferno, indem sie ihre beiden Söhne umbringt, den Palast in Flammen setzt und schließlich sich selbst bei einer herzerweichenden Arie erdolcht.

Breth lässt das Amazon-ähnliche Kellerlager, in dem Kreons Hof lebt, durch brennende Behältnisse in Flammen stehen – und Dircé, der Medea ein todbringendes, vergiftetes Gewand als Hochzeitsgeschenk geschickt hatte, läuft als brennende Säule im feuerfesten Anzug über die Bühne.

Jason, noch ganz getroffen vom grausamen Verlust seiner jungen Braut, kniet über den Leichen der Kinder, ohne sie zu erkennen. Erst nach und nach erlaubt die Regisseurin ihm, den Tod der beiden wahrzunehmen – etwas unplausibel wirkt das, weil er im Text noch nach ihnen sucht.

Die zweisprachige Übertitelung (Deutsch und Englisch) ist übrigens gelungen und sehr hilfreich gerade in dieser Oper, in der es eben um mehr als um pure Emotionen geht.

Doch es bleibt ein Abend der Frauen, was die stimmliche Kraft angeht: Francesco Demuro und Iain Paterson (Créon) erfüllen zwar ihr Soll, Demuro noch stärker als Paterson, aber die überwältigende Wirkung der Oper geht von den beiden Frauen Sonya Yoncheva als Médée und auch von Slávka Zámecníková als Dircé aus. Nur Marina Prudenskaya als Néris, also als treu folgende Dienerin von Medée, kam mit der Regie nicht zurecht und verharrt nicht nur szenisch im Nonnenkostüm, sondern langweilt auch stimmlich.

Die famos von der jungen Oksana Lyniv– endlich mal eine ganz hervorragende Frau als große Hoffnung am Dirigentenpult – geleitete Staatskapelle Berlin wird ihrem weltweit überragenden Ruf mal wieder gerecht.

Dieses Orchester lebt, es spielt mit Herz und Handwerk, und es soll Menschen geben, die nur wegen der Staatskapelle in die Oper kommen.

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

Über ihnen wäre Raum für eine tänzerische Begleitung der dramatischen Oper: Sonya Yoncheva und Francesco Demuro in „Medea“ von Luigi Cherubini in der Staatsoper Unter den Linden. Videostill vom Trailer der Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Mir hingegen kommt der Gedanke, dass man zusätzlich zum Operngeschehen auch eine tänzerische Ebene hätte einführen können.

Ballettopern gibt es viel zu wenig – gerade die stilisierte Ästhetik der Körper kann den ausdrucksstarken Klängen eine sinnstiftende Ergänzung verleihen. Und oberhalb des Bühnenbodens, unterhalb des Schnürbodens, wäre genügend Platz für ein transparentes Plateau, auf dem das Staatsballett Berlin hätte tanzen können. Besetzungen für die Titelrolle als Tanzfigur hätte es zur Genüge anzubieten.

In Breths Inszenierung liegt nun alle Last der optischen Kraft auf den Schultern der Sängerin der Médée.

Sonya Yoncheva macht das nichts, im Gegenteil: Mit Genuss beherrscht sie die Bühne und das Geschehen, und ihrer klaren, aber immer leidenschaftlichen Stimme scheint es ein Leichtes, entsprechend musikalisch zu illustrieren. Dabei strotzt die Partitur nur so vor Finessen und Schwierigkeiten – die so schön bewältigt zu hören, ein Erlebnis ist.

Doch auch die Beste kann über ein verrottetes Gesellschaftssystem nicht siegen. Am Ende entleibt Medea sich mit dem schwertartigen Messer, das in ihrer Hand aufblitzt – da steht sie schon vor dem gefallenen roten Vorhang, ist nicht nur Médée, sondern vor allem eine Frau, die an den falschen Spielregeln einer falschen Männergesellschaft stirbt.

"Ich, Daniel Blake" online - und "Medea" in der Regie von Andrea Breth

Sonya Yoncheva verkörpert „Medea“ bis in die Haarspitzen. So zu sehen in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Videostill vom Trailer der Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Blut, Tränen und Schweiß bilden den Kampf der Aufrechten gegen das satte, gierige System, das den Hals nicht voll bekommt und dabei das Edle und Wahrhaftige opfert. Daniel und Medea haben das gemeinsam; beide scheitern in tödlicher Weise an der Ungerechtigkeit.

Und beide sind von der heutigen Realität gar nicht mal so weit entfernt. Das ist das Ergreifende, das ist das Bedeutsame ihrer hohen Kunst.
Gisela Sonnenburg

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