Tschaikowsky im Arbeiterbezirk Die Staatskapelle Berlin tourt in Corona-Besetzung durch Berliner Hinterhöfe: endlich wieder Kontakt mit dem Publikum

Hofkonzerte der früheren Hofkapelle Berlin

Violine und Harfe in seltenem Umfeld: in einem Berliner Hinterhof während der Corona-Krise im Juni 2020 bei einem „Hofkonzert“. Videostill vom Trailer der Staatskapelle Berlin: Gisela Sonnenburg

Opern- und Konzertfans sind bekanntlich ebenso auf Entzug wie die Ballettgemeinde. Aber auch den Musikern fehlt der Live-Auftritt in Corona-Zeiten. Die Staatskapelle Berlin hat sich dagegen etwas ausgedacht: Im laufenden Monat Juni 2020 hat sie acht Auftritte mit anspruchsvoller klassischer Konzertmusik außerhalb des Opernhauses, nämlich in Berliner Hinterhöfen. „Hofkonzerte“ heißen diese etwa halbstündigen Events, die – damit nicht zuviel Publikum aufläuft – sozusagen konspirativ geplant werden. Vorangegangen war ein Aufruf der Staatsoper Unter den Linden an Berliner Hausgemeinschaften, sich mit einem Foto ihres Hinterhofs als Gastgeber zu bewerben. Fast 70 Gemeinschaften hofften auf ein Konzert. Das Los entschied – und nun tourt die weltberühmte Staatskapelle, die zudem gerade ihren 450. Geburtstag feiert, in Miniaturbesetzung durch die Bezirke der Hauptstadt.

Werke des Romantikers Anton Dvorak und des Barockmannes  Philipp Telemann sind zu hören, aber auch der Tangokönig Astor Piazzolla und der komplizierte Brite Benjamin Britten bekommen ihr Anrecht auf Aufmerksamkeit. Mal kommen Streicher, mal Klarinetten, mal gemischtes Blech. Manchmal ist das Publikum, versonnen an den Fenstern stehend oder sachte mitschunkelnd auf Balkonen sitzend, mucksmäuschenstill. Manchmal wuseln Kinder und Jugendliche durcheinander, stören Autos oder Piepmätze. Aber im Trendbezirk für Familien namens Prenzlauer Berg gefielen die in ihre festliche Konzertkleidung gewandeten Musiker so gut, dass einige Elternpaare sich mit dem Wunsch des Nachwuchses, ein Instrument zu lernen, beschäftigen müssen.

Hofkonzerte der früheren Hofkapelle Berlin

Zarte Klänge, ideales Wetter für Outdoor-Events: Manchmal stimmt sogar im Corona-Sommer 2020 einfach alles… Videostill vom Trailer der Staatskapelle: Gisela Sonnenburg

Was aus der Not entstand, entwickelte eine Eigendynamik. Der Clou der Sache ist die Umkehr der „normalen“ Verhältnisse: Nicht das Publikum kommt zu den Künstlern, sondern die Künstler besuchen die Menschen in ihrem Zuhause. Ein wenig kann man sich da als Zuschauer fühlen wie ein Mäzen, obwohl das Angebot kostenlos ist. Die Freude ist gegenseitig. „Für manche Musiker ist es das erste Mal seit drei Monaten, dass sie wieder vor Publikum spielen können“, sagt Victoria Dietrich, Pressesprecherin der Staatsoper Unter den Linden: „Sie sind total heiß drauf!“

Heiße Musiker, die mit Tschaikowsky oder Leonard Bernstein im Gepäck anrücken – wegen der Corona-Schutzmaßnahmen einzeln – machen aus einem Hinterhof eine Konzertbühne. Natürlich ist die Akustik nun nicht so ausgeklügelt wie in der Staatsoper Unter den Linden, und natürlich gibt es bei Outdoor-Veranstaltungen auch oftmals ein Bangen, ob das Wetter mitspielt.

Hofkonzerte der früheren Hofkapelle Berlin

Fassaden statt Kulissen, aber freie Sicht auf die Musiker vom heimischen Fenster aus. Und der Applaus kommt beim „Hofkonzert“ von allen Seiten. Videostill vom Trailer der Staatskapelle: Gisela Sonnenburg

Das Streichquartett Nr. 1 von Peter I. Tschaikowsky, für die nach einem englischen Theologen benannte Wiclefstraße im traditionellen Arbeiterbezirk Berlin-Moabit vorgesehen, wäre fast in den Wolkenbrüchen zuvor baden gegangen. Aber dann wurde es am frühen Abend trocken, und während des berühmten zweiten Satzes, der elegisch ein russisches Volkslied zitiert, ließ sich sogar die Sonne blicken. Das sehnsuchtsvolle Stück wurde von Tschaikowsky 1871 komponiert, und im selben Jahr begann er, nebenberuflich als Musikkritiker zu schreiben.

Was er wohl zu den neuartigen Freiluftkonzerten des einst als „Hofkapelle“ gegründeten Orchesters gesagt oder geschrieben hätte? Das starke Band, das die Künstler und die Zuhörer ob der ungewöhnlichen Umstände verbindet, hätte sicher auch ihn gerührt. Seine spitze Zunge als Kritiker war indes gefürchtet.
Gisela Sonnenburg

www.staatsoper-berlin.de

 

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