Vom Miteinander in jeder Lebenslage Das Ballett „Onegin“ entwirft moderne Utopien von Liebe und gesellschaftlichem Beisammensein, derzeit in München und in Berlin

Eugen

Der Spielvorhang – hier im Originalbühnenbild von Jürgen Rose, und der hängt beim Bayerischen Staatsballett, ist bereits legendär: Die Initialen E für Eugen und O für Onegin verkünden, wer hier der Titelheld ist: „Onegin“! Foto: Charles Tandy

Oh, „Onegin“! Er ist immer wieder für eine Überraschung gut, wenn man ihn sich genau ansieht und dabei auf einen bestimmten Aspekt achtet. Denn John Crankos Jahrhundertballett über ein Quintett komplizierter Charaktere – drei Liebhaber und zwei Liebhaberinnen – enthält trotz der diffizilen, tragischen Verwicklungen der Solistenpaare auch Momente von sozialer, gesellschaftsumfassender Utopie.

Den ersten, überwältigend mitreißenden Höhepunkt bietet Crankos Beziehungsdrama nicht mit einem Paartanz. Sondern mit einer Ensembleszene im ersten Akt, die eine spezielle Stimmung spiegelt: Verliebte Paare in Biedermeierkostümen absolvieren auf zwei Diagonalen, die nur aus synchron gesprungenen Grand jetés (Spagatsprüngen) der jungen Damen bestehen, einen freudigen Gesellschaftstanz. Diese beiden Sprungreihen, jeweils von hinten nach vorn platziert, werden angeführt von dem Pärchen Lenski und Olga, dem wandelnden Inbegriff der glücklichen Verlobungszeit.

Onegin Damen Spagat

Das ist eine legendäre, in der Welt der choreografischen Erneuerungen unerreichte Emanzipation des Corps der ballet, insbesondere der jungen Damen: Sie schreiten virtuos im seriellen Spagatsprung voran – in „Onegin“! Hier das exzellent trainierte Corps vom Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Dazu jubiliert die Musik, ursprünglich von Peter I. Tschaikowski, von Kurt-Heinz Stolze jedoch überarbeitet, collagiert und umorchestriert, in mächtigen Rhythmen. Es ist, als sei die ganze Welt verliebt und verlobt, und keine Katastrophe scheint sich hier anzubahnen, sondern einzig seliges Glück!

Welch Paradies – aber auch welch vergänglicher Zustand. Denn allzubald wird diese Idylle zerbrechen, alle Hoffnungen der hier noch repräsentativ vortanzenden Olga zerschellen. Lenski aber stirbt sogar – und das auch noch durch, man kann es nicht anders sagen, eigenes Verschulden.

Onegin-Damen

Die Damen im ersten Akt in „Onegin“ sind so bezaubernd wie emanzipiert – und sie dürfen im Corps brillieren wie sonst nur die Solisten. Hier das Ensemble des Bayerischen Staatsballetts. Foto: Charles Tandy

Doch obwohl sich diese Spagatsprünge der Ensemble-Mädchen im Drama nicht wiederholen, so haben sie doch eine bedeutsame Tragweite: Serielle Spagatsprünge, zumal mit solcher Brillanz in Szene gesetzt, sind normalerweise den Solisten vorbehalten. Sie stehen für Individualität und das Besondere. Hier jedoch sind es die namenlosen, normalen jungen Frauen, die diese Virtuosität, begleitet von höchsten Glücksgefühlen, vorzeigen dürfen. Ihre Herren begleiten und stützen sie dabei.

Das ist im Ballett eine kleine Revolution, zudem ein indirekter Weltentwurf: Liebe und Höhenflüge scheinen für alle, sogar für die jungen Mädels, die sonst so oft unterdrückt und in ihren Fähigkeiten unterfordert werden, erreichbar.

So erfährt das Publikum, dass auch diese Ballerinen ungeheuer fähige Künstlerinnen sind, die Technik und Ausdruck zu verbinden wissen. Wow! Der Ausdruck, den sie mit ihren Spagatsprüngen evozieren, stimmt demokratisch – und rührt zugleich zu Tränen, denn man ahnt schon, dass das hier niemals Alltag werden wird. Sonst wäre die Welt heute ja anders und besser. Aber der Utopieentwurf ist da – und mittels virtuoser ballettöser Technik umgesetzt.

Begeisterter Szenenapplaus ist denn auch dabei üblich, sogar im Bolschoi Theater in Moskau, wo der „Onegin“ seit 2013 getanzt wird. Der Publikumszuspruch gilt mitnichten vorrangig der Anstrengung, wie Ballettlaien vielleicht denken könnten. Er gilt dem Ausdruck kollektiver Höhenflüge. Wo auch immer „Onegin“ aufgeführt wird, ob in Stuttgart, wo er uraufgeführt wurde, in Hamburg, in Berlin, in London, in Moskau oder in München – das Publikum beginnt bei dieser Szene ebenfalls, kollektiv zu agieren, innerlich zu rasen und äußerlich eine begeisterte Miene aufzusetzen. Der Philosoph und Prophet Bazon Brock würde es so sagen: Kollektives Glühen wird zur gemeinsamen Lust.

In München bringt der „Onegin“ das Publikum schon seit 1972 zum Glühen. Wolfgang Oberender, Dramaturg und stellvertretender Ballettdirektor beim Bayerischen Staatsballett, weiß: „Das ist der erste und einzige ‚Onegin’ außerhalb Stuttgarts, den John Cranko persönlich einstudiert hat.“ Denn: „Es war der Sommer der Olympischen Spiele in München, und es war das Frühjahr der Erstaufführung von ‚Onegin’ in München.“ Cranko starb bereits 1973, viel zu früh, im Alter von nur 45 Jahren.

Die Bayern behielten ihren „Onegin“ beinahe lückenlos bei: Es gibt seither keine Tänzergeneration im Bayerischen Staatsballett, die nicht im „Onegin“ getanzt hätte. Oberender ist stolz drauf, zurecht: „Das ist eine besonders schöne Sache, da die Ursprünge dieser Einstudierung direkt zu John Cranko reichen.“

Ivan Liska und Konstanze Vernon

Es war der letzte Abend von Konstanze Vernon als Ballettdirektorin des Bayerischen Staatsballetts: Sie stand als Madame Larina in „Onegin“ auf der Bühne, und die Hand küsste ihr Ivan Liska als Onegin, ihr Nachfolger und der heutige Münchner Ballettdirektor. Legendär! Foto: Charles Tandy

Legendär war die letzte Aufführung unter dem Direktorat von Konstanze Vernon 1998: Sie bekleidete zum ersten und letzten Mal überhaupt die Rolle der Madame Larina (in der Handlung die kuppelnde Mutter), während der heutige Münchner Ballettdirektor Ivan Liška die Titelfigur Onegin tanzte. Der männlich-souveräne Startänzer hatte Onegin bereits als Gast in verschiedenen hochkarätigen Aufführungen außerhalb Münchens getanzt – und stellte den schillernden Dandy dann einmalig für Vernon in dieser Vorstellung in München dar.

Es ist kein Wunder, wenn sich gerade um „Onegin“ Legenden und Anekdoten ranken. Seit der Millenniumswende ist das Stück zudem zunehmend wieder „in“, die Ballettfans können derzeit gar nicht genug davon bekommen – denn die schwierigen Liebesgeschichten, bei denen nicht ganz klar ist, was an ihnen tragisch ist und was wunderschön, entsprechen unserem Zeitgeist viel stärker als die rein tragischen oder rein glücklichen.

Zoff um „Onegin“ gab es hingegen nach der Uraufführung der Erstversion 1965 in Stuttgart. Es gab damals einen Prolog, in dem die Titelfigur ihre Erbschaft machte und somit finanziell unabhängig wurde, um erst später als Sinnbild eines Dandys aufzutreten. Das kam beim damaligen Publikum gar nicht gut an. Horst Koegler, damaliger ballettöser Kritikerpapst, verriss die Uraufführung. Auch später brachten Kritiker und Zuschauer zunächst kein ausreichendes Verständnis für die Liebesnöte eines eingeschworenen Singles (Onegin) und einer gutbürgerlichen jungen Frau (Tatjana) auf. Was wohl auch an der klassisch-romantischen Machart des Balletts lag. Oberender: „Man wollte damals die tänzerische Avantgarde sehen – und kein konventionelles Handlungsballett, das im 19. Jahrhundert spielt.“

Gerade die deutschen Intellektuellen von damals, die jugendlichen 68er allen voran, lehnten klassisches Ballett, das von jedermann nachvollziehbar eine Geschichte erzählte, rigoros ab, von vornherein und sozusagen mit theoretischer Begründung. Hatten die Nazis Ballett noch diskriminiert, weil es ihnen nicht „völkisch“ genug war (und zudem „zu schwul“), diskriminierte ihre Nachfolgegeneration im westlichen Deutschland das Ballett, weil es ihr nicht „modern“ genug war.

Olga mit Damen

Ivy Amista, die neue Tatjana beim Bayerischen Staatsballett, hier in der Rolle der Olga mit einem Teil des weiblichen Ensembles: Ballett ist niemals out – und zudem mit knapp 400 Jahren im Vergleich zu anderen Kunstsparten eine außerordentlich junge Kunst. Nur Video- und Internet Art sind noch jünger! Foto: Charles Tandy

Fast heimlich schlichen manche in die Opernhäuser, um Ballett zu sehen – während sie „offiziell“ abstrakte oder konkrete Malerei lobten oder sich mit den modernen Tanzschritten eines Gerhard Bohner beschäftigten.

Aber das Traditionelle des Balletts hatte längst nicht ausgedient, hat es bis heute nicht. Gerade „Onegin“ ist ein Paradebeispiel für die stetige Karriere eines Tanzstücks, das Stück für Stück die Herzen des Publikums weltweit eroberte. Dabei hat John Cranko das Libretto und die Charaktere nicht nur von Puschkin übernommen, sondern überformt und radikalisiert. Sein Ziel war, das Stück ballettwirksam zu machen. Aber: Er trug, ob ihm das bewusst war oder nicht, auch die Substanz der Moderne in die auf den ersten Blick altertümlich anmutende Geschichte – sie führt seither die Genesis unserer libidinösen Gefühlswelt vor.

Denn unsere Ideale von romantischer Liebe und entfesselter Sexualität, von freier Liebe und sozial unabhängiger Partnerwahl entstammen der Vergangenheit, sind kulturgeschichtlich fest verankert und gewachsen. Cranko verlebendigte diese Vergangenheit – und verband sie mit seiner Gegenwart, die zwar nicht mehr die unsere ist, die aber in jedem Fall bereits als Moderne, auch als Postmoderne taugt. Tabuisierung und Libertinage sind da das Spannungsfeld. Aber:

Ohne eine historische Vorstellung davon zu haben, wie Liebe sein sollte, werden wir auch in Zukunft keine Utopie bekommen, die belastbar und alltagstauglich wäre. „Onegin“ ist darum ein Lehrstück – und die bittere Moral, die das Stück enthält, entspricht der Erkenntnis in die tragische Konstruktion der menschlichen Sexualität.

Wer ist die Titelfigur eigentlich? Erfunden vom russischen Nationaldichter Alexander Puschkin, gilt Eugen Onegin – dem Tschaikowski eigenhändig kein Ballett, sondern eine Oper auf den Leib komponierte – im russischsprachigen Gebiet als der große Verführer schlechthin, der, ohne dieses zu wollen, alle um sich herum ins Unglück stürzt.

Onegin Kaniskin

Mikhail Kaniskin als Onegin beim Staatsballett Berlin: Elegant, aber auch sehr machtbewusst. Foto: Enrico Nawrath

Er tritt auf, und Tatjana, die Bücher lesend auf die wahre Liebe wartet, erschreckt sich erstmal und verliebt sich dann in ihn. Sie hätte wohl schon längst heiraten sollen, ginge es nach ihrer Familie, denn sie liegt ihrer Mutter, Madame Larina, auf der Tasche. Aber sie mag nicht irgendeinen nehmen, sie will lieben. So, wie es in den Büchern steht, die sie liest.

Ausgerechnet der hoffärtige, arrogant seinen Weltschmerz und Lebensüberdruss vor ihr ausbreitende Onegin – der sie mit einem in der Ballettwelt einmaligen, höchst originellen Solo becirct – muss es sein, ihm fühlt sich die gebildete junge Dame seelenverwandt.

Er flirtet zunächst mit ihr. Nicht in diesem hellen, fröhlichen Ton, in dem sein Freund Lenski mit Tatjanas Schwester Olga flirtet. Es ist viel dunkler, undurchsichtiger, weniger verbindlich, was Onegin mit Tatjana macht. Aber der erste Pas de deux von Onegin und Tatjana ist munter, von kleinen, heftigen, synchron gehüpften Pas de chats geprägt. Und er hebt sie sogar, unvermittelt und vorab, sanft empor, lässt sie sich so erstmals als Frau glücklich fühlen.

Traum von großer Liebe

Was für eine Liebe! Aber alles ist nur Fantasie – Tatjana, hier die großartige Lucia Lacarra mit dem ausdrucksstarken Marlon Dino als Onegin, im Spiegel-Pas-de-deux. Foto: Charles Tandy

Sie steigert sich daraufhin in Fantasien. Tatjana visioniert sich Onegin herbei, da tritt er nachts aus dem Spiegel in ihrem Schlafgemach, und sie tanzen einen erhebenden, weltentrückten, dennoch sinnlichen Pas de deux. Hatte sie zuvor einen Brief an ihn geschrieben, aber nicht unterschreiben können, so unterzeichnet sie diesen nach dem geträumten Tanz, einem Sinnbild der Sexualität.

Sie gesteht Onegin im Brief ihre Liebe, was ungeheuerlich und äußerst unschicklich für eine junge Frau im 19. Jahrhundert anmutet. Das ist in etwa so, als wenn ein Mädchen heute Nacktfotos von sich an einen Mann schickt, den sie kaum kennt und erst einmal getroffen hat.

Damals hatten Frauen von sich aus gar keine begehrlichen Gefühle zu entwickeln, sondern nur Reaktionen auf das Ansinnen eines Mannes zu zeigen. Das Patriarchat war allmächtig und insbesondere auch in Liebesdingen gut etabliert. Daran hat sich in manchen Bereichen bis heute fast nichts geändert – Frauen, die den ersten Schritt machen, gelten oft genug noch immer als despektierlich.

Onegin reagiert denn auch mit seelischer Grausamkeit. Sie treffen sich an ihrem Namenstag im Haus ihrer Familie wie zufällig, und er leistet mit ihr einen Tanz ab, der bereits sagt: Das hier ist offiziell und mehr hast du nicht zu erwarten. Er stellt sie ab und lässt sie stehen, was eine demonstrative Demütigung für sie ist. Sie wartet ja auf eine Antwort auf den Brief. Dass sie diese schon erhielt, hat sie noch nicht kapiert.

Fest

Es wird getanzt, man ist miteinander glücklich, und in „Onegin“ verstehen sich sogar die verschiedenen Generationen hervorragend. Dennoch bricht das große Unglück über diese Gesellschaft herein. In Person des Titelhelden! Foto: Charles Tandy

Das Fest nimmt seinen Verlauf, die verschiedenen Generationen vertragen sich hier, aber zwischen Onegin und Tatjana gibt es Dissonanzen. Er versucht, sie zu ignorieren, legt sich an einem Tischchen selbst die Karten. Sie wiederum will seine Aufmerksamkeit mit einem rührenden, extravertierten Solo erringen, das sie direkt auf ihn zutanzt – doch Onegin springt auf und haut, wütend und von ihren Avancen genervt, auf den Tisch. Tatjana bricht fast zusammen vor Kummer.

Doch damit nicht genug. In einer ruhigen Minute – von den anderen Festteilnehmern unbemerkt, um nicht bei seiner Herzlosigkeit ertappt zu werden – schnappt sich Onegin Tatjana und zerreißt vor ihren Augen ihren Liebesbrief. Er bröselt ihn regelrecht in ihre Hände.

So zynisch und gefühllos sind nur echte Egomane, Menschen, die zu rücksichtslos sind, um auch nur leise daran zu denken, wie eine verliebte Person auf so etwas reagieren kann. Klassischerweise mit Depressionen oder Suizid. Aber moderat und entschuldigend zu erklären, was man will und was nicht, wäre in den Augen solcher Machos, wie Onegin einer ist, zuviel der Ehre für eine ungeliebte Person. Ein Mangel an Empathie ist nachgerade kennzeichnend für diese Sorte Mann. Es sind solche, die eine Beziehung per SMS beenden oder, noch brutaler, ganz ohne Mitteilung gehen.

Damit entspricht Onegin jenem Prototyp von Karrieristen, dem wir heute überall begegnen können. Natürlich will sich niemand dabei erwischen lassen, wie gefühlskalt er wirklich ist. Aber der Typus des gesellschaftlich erfolgreichen Mannes, der es ablehnt, Verantwortung zu übernehmen, ist kein typischer Vertreter des 19. Jahrhunderts, sondern einer unserer Zeit.

Es sind heute jene Männer, die es zum Beispiel ablehnen, Unterhalt für ihre Kinder zu zahlen. Oder die so promiskuitiv leben, dass sie nicht einmal die Namen der bestiegenen Damen kennen wollen. Wenn sie heiraten, dann nur wegen geldwerter Vorteile – und nach einigen Scheidungen bejammern sie, dass sie nie richtig geliebt wurden. So ein Selbstmitleid hat auch Onegin, der sich in seinem Solo, das in seinen ersten Pas de deux mit Tatjana eingeflochten ist, tpyischerweise leidend die Hand an die Stirn legen darf. Ach!

Frauen

Was für Männer wollen Frauen eigentlich? Diese jungen Damen in „Onegin“ können – beim Staatsballett Berlin – so viel. Und dennoch lassen sie sich womögilch von Hallodris und Schelmen verführen… Foto: Enrico Nawrath

Skurrilerweise sind diese Männer – oder Menschen, denn es gibt auch Frauen, die hier vergleichbar sind – oft auch noch besonders liebenswert in ihrer Erscheinung. Denn: Sie machen sich keine verkrampften Mühen, um zu gefallen, sondern sie verströmen das selbstüberzeugte Flair von Lässigkeit, von Stärke und innerer Unabhängigkeit. Sie sind die Chefs, wo immer sie sind, auch wenn sie das nicht notwendig zeigen! Sie haben deshalb einen besonderen Charme und beherrschen als Waffe, um sexuell ans Ziel zu kommen, die gängigen Verführungskünste, derer sie sich meist ohne Umschweife bedienen.

Wie Onegin, der Tatjana mit einer einzigen Hebung, die für sie überraschend, nämlich von hinten kommt, bereits bis über beide Ohren verliebt macht. Das fortwährende Streben nach Unabhängigkeit macht Onegin-Typen derweil umso begehrenswerter: Sie steigern damit ihren Wert als Beute. Onegin ist darum so ein echter Frauenliebling, und er lebt emotional unverhohlen wild und ungezügelt davon – er kommt gut damit an. Motto: Er ist zwar leicht zu haben, aber auch gleich wieder weg.

Im Versroman von Puschkin sagt Onegin denn auch wörtlich zu Tatjana, er wolle prinzipiell nicht heiraten, darum könne er sich nicht mit ihr einlassen. Er sei gewissermaßen unzumutbar für sie. Und sie? Sie lässt ihm das durchgehen. Und hofft auf ihn, ungeachtet dieser gleich beim ersten Kontakt eingestandenen Promiskuität.

Aber auch bei Olga, Tatjanas verlobter Schwester, kommt Onegin mit seiner Strategie des überall schnuppernden Solitärs hervorragend an. Um Tatjana auf ihrem Namenstagsfest zu kränken und herabzusetzen, flirtet Onegin mit Olga. Da tänzelt er lustig mit ihr umher, und sie strahlt, als habe sie keine Ahnung von den Gefühlen Tatjanas oder ihres Verlobten Lenski. Auch, als Tatjana sie von Onegin loseist und Lenski zuführt, reißt Olga sich wieder los – sie will ihren Spaß. Zu süß ist es, von dem erfahrenen Onegin charmiert zu werden!

Olga und Lenski Applaus

Alles nur Theater?! Verdienter Applaus im Berliner Schiller Theater für Iana Salenko als Olga und Dinu Tamazlacaru als Lenski in „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Lenski rastet aus, er fordert Onegin zum Duell. Der schießt ihn tot. Olgas heile Welt bricht zusammen, sie, die Muntere, die Frohgemute, zeigt in einer aufwühlenden Szene im Wald ihre dunkle Seite. Auch Tatjanas kurze Glückssträhne im Leben – die Liebe zu Onegin bescherte ihr emotionale Hohenflüge – scheint vorbei.

„Onegin ist wie ein Katalysator“, sagt der Münchner Dramaturg Wolfgang Oberender. Dennoch stehe für ihn die Figur der Tatjana im Vordergrund: „Jede Ballerina will diese Rolle tanzen, neben der ‚Kameliendame’ von John Neumeier – das sind die beiden beherrschenden Ballerinenrollen unserer Zeit, so wie es klassischerweise die Schwanenkönigin war und ist.“

Tatsächlich katalysiert und enerviert Onegin die anderen Figuren. Man zerbricht an ihm schneller, als man denken kann – und eine glücklich in sich gefügte Gesellschaft, nämlich die, in der die Spagat springenden jungen Damen die Stars waren, löst sich auf.

Vom Schaupielerischen her hat die Partie des Onegin alles zu bieten, was ein Bühnenstar sich wünschen kann. Onegin ist ein Playboy, ein Romantiker ohne Wurzeln, zugleich ein kalter Zyniker. Aber er ist auch ein Verzweifelter, ein Wiedergänger, ein Bereuender und am Ende sogar ein Liebender. Zudem leidet er unter der Welt, zunächst aus Überdruss und Melancholie, später aus dem Gefühl heraus, das Wichtigste verpasst zu haben.

Seine Beziehung zu Lenski, zu welchem er eine Männerfreundschaft unterhält (die in Tschaikowskis Oper, nicht aber in Crankos Ballett homosexuell eingefärbt ist), zerbricht an Onegins eitler Selbstdarstellung mit Olga. Beide Männer sind dann zu sehr in Stolz und Ehrdenken befangen, als dass sie vom tödlichen Duell absehen könnten.

Lenski

Lenski ist der unglückliche junge Mann, der an Onegin, seinem früheren Freund, zerschellt. Eine eindrucksvolle lyrische Partie voll Todessehnsucht. Hier Lukas Slavicky vom Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

„Lenski ist eine suizidale Persönlichkeit“, sagt Wolfgang Oberender: „eine gefühlszerrissene und auch sentimentale Figur, die ihren Tod provoziert“. Lenski hat denn auch, direkt vor dem Duell, ein wundervoll filigranes, langsames und lyrisches Solo: voll schwermütiger, todessüchtiger Balancen. Aber in der Beziehung mit Olga, die – trotz einer gewissen jugendlichen Oberflächlichkeit – so etwas wie der Sonnenschein in seinem Lebens ist, verkörpert Lenski das Pendant zum düsteren Onegin. Lenski und Olga geben das sorglose Paar ab – das allerdings zu dumm ist, sein Glück festzuhalten.

Lenski und Olga

Einst ein sorgloses Paar, das nur zu dumm war, sein Glück zu hüten: Olga, hier: die flinke Ivy Amista, die diese Saison als Tatjana debütiert, und Lukas Slavicky als Lenski beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Aus Wut, Eifersucht und gekränkter Eitelkeit fordert Lenski den viel erfahreneren Onegin zum Duell. Der Anlass ist ein nichtiger, denn Onegin hat Olga nicht zu einer weitreichenden sexuellen Handlung verführt, sondern lediglich zum Scherzen, Tändeln, Tanzen auf einer Festivität. Lenski reagiert über – oder eben todessüchtig. Denn es ist auch aus seiner Sicht nur zu wahrscheinlich, dass er seine Forderung selbst mit dem Leben bezahlen muss, waidwund vor Eifersucht und zart, wie er nun mal ist.

Viele große Tänzer tanzten schon den dramatischen Onegin, viele andere den lyrischen Lenski. Am Bolschoi hat man sie sogar gegenläufig besetzt, um der blutjungen, superdünnen Primaballerina Olga Smirnova als Tatjana zur besseren Geltung zu verhelfen: den Onegin lyrisch-zart und den Lenski dramatisch-heftig.

Bei der Uraufführung 1965 war es aber der vielseitige Ray Barra, der später oft in München choreografierte und der dem Onegin ein prägendes markantes Gesicht verlieh. In der Stuttgarter Version von 1967 stellte dann Heinz Clauss den Onegin dar. Oberender: „Er war eher distanziert, sehr beherrscht, zurückhaltend in der Rolle.“ Was vielleicht auch der dominanten Marcia Haydée als Tatjana geschuldet war. Onegin als berechnender Lebemann, der seine Fassade unter allen Umständen aufrecht erhält – ein Machtmensch, der nur schlecht verbergen kann, dass ihm die Gefühle der anderen herzlich wenig bedeuten. Onegin mit mystisch-dämonischen, ja mephistophelischen Zügen – auch das ist durchaus schlüssig.

Denn Onegin gibt seine sozialen Bindungen allzu leicht auf. Die zu Lenski ebenso wie die zu jener ländlichen Gesellschaft, in der er verkehrt, als er Tatjana zum ersten Mal trifft.

Als er sie wiedersieht, sind zehn Jahre vergangen. Tatjana wurde die Frau eines anderen – sie hat mit dem Fürsten Gremin eine funktionierende Liebesbeziehung voll Harmonie und ernsthafter Fürsorglichkeit aufgebaut. Der so genannte „Rote Pas de deux“ – genannt nach Tatjanas lachsroter Robe im Originalkostüm von Jürgen Rose – schwillt peu à peu an: von den ersten Schritten über zahlreiche Hebungen bis zur letzten Pose, bei der Tatjana, gestützt von ihrem stehenden Ehemann, vor diesem kniet. Eine ehelich-treuherzige Liebesbekundung mit Pfiff! Es handelt sich denn auch – wie bei den Pas de deux von Onegin und Tatjana – beim Roten Pas de deux um einen Höhepunkt der ballettösen Weltliteratur: Bis heute gelang es keinem anderen Choreografen, das Glück einer steten festen Beziehung derart in körperliche Worte zu fassen.

Roter Pas de deux

Der Rote Pas de deux von Fürst Gremin und seiner Gattin Tatjana zeigt, wie wahre Liebe Bestand im Alltag hat – und trotz des Verzichts auf extraordinäre Wildheiten überaus schön, fantasievoll und erfüllend sein kann. Hier Roberta Fernandes und Norbert Graf vom Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Wolfgang Oberender bringt das auf den Punkt: „Der Rote Pas de deux schildert nicht nur das Glück der liebenden Eheleute, sondern auch den freiwilligen Verzicht, den eine solche Beziehung verlangt.“ Wirklich: Kontinuierliche Liebe klammert das ständige Abenteuer aus. Ohne Opfer zu bringen, sind innige, monogame Gefühle unmöglich. Da muss manchmal auf eine Hebung über den Kopf des Tänzers zugunsten einer viel weniger spektakulären seitwärts getragenen Spagatpose verzichtet werden. Dafür sprühen die Funken des Vertrauens!

Für Onegin als Zuschauer ist solches Glück fast unerträglich. Er hat soeben in einer traumwandlerischen Szene – mit diversen ihn umgarnenden Damen – in Gedanken mit seinem Leben als „Hurenbock“ abgerechnet. Und dabei gemerkt, dass der massenhafte Konsum von Partnerinnen nicht wirklich erfüllend ist, schon gar nicht, wenn man nicht mehr ganz jung ist. Jetzt sieht er, was wahre Liebe ist: Tatjana und Gremin machen es in schönster Reinheit vor.

Das reizt und provoziert ihn. Diesen Schatz will er auch besitzen. Er, der Tatjana einst brüsk abwies, wird jetzt heiß auf sie. Er verliebt sich genau jetzt in sie, da er sie mit einem anderen sieht – obwohl oder weil er weiß, dass es schwer und im Sinne eines Duells auch riskant sein kann, eine verheiratete Dame der Gesellschaft, eine Fürstin, die Tatjana jetzt ist, zu verführen. Aber Onegin kann es nicht lassen.

Er schickt ihr einen Brief, in dem er seinen Besuch bei ihr ankündigt. So ein Brief ist ein Beweisstück. Würde die Empfängerin ihn ihrem Gatten zeigen – könnte ein Duell drohen. Aber Tatjana verrät Onegin nicht. Er kann sich auf sie verlassen. Sie drückt sich auch nicht vor der Begegnung. Aber sie fürchtet sie. Denn sie weiß: Sie liebt ihn noch immer, und sie könnte schwach werden, wenn er gierige Blicke auf sie wirft.

Tatjana bittet ihren Ehemann, bei ihr zu bleiben. Aber der geht lächelnd davon. Auch wenn sie ihm nicht alles erzählt hat – er wird wohl fühlen, dass es hier um delikate Angelegenheiten geht, die seine Ehe in Gefahr bringen könnten. Aber er hat Vertrauen zu Tatjana. Sie soll es allein durchstehen. Er will, dass sie für ihr eheliches Glück, auch um ihre soziale Identität, kämpft. Denn das wird das Band zwischen Gremin und ihr umso fester zurren.

Polina als Tatjana

Es ist am Schluss ein Pas de deux voller Passion und Schmerz, voller Liebesgier und Entsagung. Hier die furiose Polina Semionova als Tatjana mit dem hervorragenden Wieslaw Dudek als Onegin. Foto: Enrico Nawrath

Und so kommt es. „Onegin stürmt rein und er stürmt raus“, sagt Oberender, „beim Reinkommen ist es bei ihm eine Mischung aus Angst und Erwartung, die ihn antreibt, während er beim Rauslaufen ein Verjagter ist.“ Onegin, der erstmals in seinem Leben verliert. Der Verwöhnte als Geschlagener. Das ist verstörend – auch für uns als Zuschauer, die durchaus Mitleid mit sonst so abgebrühten und selbstbewussten Onegin empfinden können. Alle Widersprüche, die bis dahin unsichtbar in ihm gärten, zeigen sich jetzt in seiner gebrochenen Gestalt. Der Verschmähte als Abgestürzter. Jetzt ist Onegin suizidgefährdet. Für Sekunden könnte man sogar einen erweiterten Selbstmord befürchten, also die Rache des Abgewiesenen durch Mord und Selbstmord. Immerhin endet das Tanzdrama ja offen, mit dem Alleinbleiben Tatjanas in ihrem Gemach.

Das Konfliktpotenzial, das von Onegin ausgeht, ist derweil prinzipiell hoch und nicht zu unterschätzen. Am Ende entlässt John Cranko den Zuschauer in seine eigene Fantasie. Faktisch kann es auch alles harmlos bleiben: Onegin, der sich früher duellierte, rauscht ab – und Tatjana kehrt in den Alltag ihrer liebevollen Ehe zurück. Hierbei ist anzumerken, dass auch Tatjana ihren Gefühlen nach nicht wirklich monogam ist. Sie liebt sowohl den Fürsten als auch Onegin, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Wäre sie in den Fürsten Gremin nicht verliebt, wäre sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach eine Nutte – Ehe ohne Liebe, nur der sozialen Sicherheit wegen, lehnte sie schon als ganz junges Mädchen ab, wie wir uns erinnern.

Vorhang

Ein magisches Quintett beim Schlussapplaus mit dem Staatsballett Berlin: Onegin (Wieslaw Dudek) in der Mitte, dazu neben sich Tatjana (Polina Semionova), Fürst Gremin (Martin Szymanski) und vorne rechts Olga (Iana Salenko) und Lenski (Dinu Tamazlacaru). Die Vorstellung am 26. Februar 2015 war voll Gefühl und Faszination. Foto: Gisela Sonnenburg

Fakt ist: Das Quintett der fünf Hauptpersonen – Onegin, Tatjana, Lenski, Olga, Gremin – birgt eine ähnliche psychologische Sprengkraft wie später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entstandene Beziehungsstücke. Wie etwa die Konstellation der beiden Paare in Edward Albees absurd-psychologischem Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Die Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton dürfte jedem gegenwärtig sein – und zeigt Paare, die ohne die Befähigung zu Harmonie ihre Verbindungen nur aufgrund der sozialen Verklammerung aufrecht erhalten. Solche Ehen sind derzeit völlig out, und man kann genugtuend feststellen, dass Crankos Liebesmodelle weitaus fortschrittlicher sind.

Applaus

Ein perfektes nicht perfektes Paar: Polina Semionova als Tatjana mit Wieslaw Dudek als Onegin im Schiller Theater nach einer Vorstellung mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das gilt sogar für Tatjana und Onegin, die nun allerdings kein gutes Vorbild abgeben, sondern uns einen romantischen Schauer der Abschreckung über den Rücken jagen. Oder sollte da noch jemand Appetit auf derart unkontrollierbare Gefühle bekommen? Sollte die Amour fou als Liebesideal doch noch triumphieren, zumindest im Gemüt des Zuschauers? Das ist der Trick von Cranko: Er macht uns, wie Tatjana, zugleich in beide Liebesmodelle verliebt. In das der steten, ruhigen, sicheren Beziehung und in das der wilden Outsiderlove.

Temporärer Partnerwechsel bahnt sich in „Onegin“ jedenfalls ständig an, aber die Destruktion scheint aus Tatjanas bürgerlicher Sicht heraus zu überwiegen. So gesehen, hat sie großes Glück, dass sie sich Onegin nicht ausliefert. Würde sie mit ihm durchbrennen, würde er sie wohl bald sitzen lassen. Würde sie sich scheiden lassen und ihn heiraten – wäre er ihr wohl eher nicht treu. Welche Perspektive hätten sie gemeinsam? Eine heimliche Affäre mit Onegin könnte für Tatjana gar den sozialen Absturz bedeuten (à la „Effie Briest“ von Theodor Fontane) – oder das psychische Unglück wie in „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Und zudem würde eine sexuelle Beziehung mit dem durchgeknallten Onegin Tatjanas sanftes Liebesglück mit Gremin so empfindlich stören, dass ihre Ehe zumindest in erotischer Hinsicht zur Disposition stehen würde.

Obwohl: Es ist an grandios getanzten „Onegin“-Abenden ja immer haarscharf nah dran, dass Tatjana sich doch noch für Onegin und das wilde Treiben entscheiden könnte. Das sind die besten Vorstellungen! Entscheidend ist, was Tatjanas Tänzerin daraus macht und an Gefühlen übermittelt, wenn sie ganz am Ende noch ein paar Sekunden allein auf der Bühne ist. Wenn sie Onegin, den sie soeben rausgeschmissen hat, der Choreografie nach im Reflex nachrennt. Wenn sie zurückkommt und nicht weiß, wohin sie blicken soll. Wenn sie die Hände zu Fäusten ballt und an den Kopf führt. Und am Ende mit dem Senken der Unterarme einen zweifelhaften Sieg über sich selbst verbuchen darf.

Schluss

Der große Schluss-Pas-de-deux bringt keine definitve Entscheidung. Aber Tatjana (hier: Lucia Lacarra) kann nicht verbergen, dass sie Onegin (heiß und stürmisch: Marlon Dino) noch immer liebt – auch wenn er sich zu spät für sie erwärmt. Foto: Charles Tandy

Wie oft und wie heiß sich die beiden zuvor im letzten großen Pas de deux küssen, liegt indes an der jeweiligen Tänzerkonstellation. Manche Paare belassen es bei einer großen Spannung, scheinen die ganze Zeit übereinander herfallen zu wollen – und tun es nicht.

Aber manche Paarbesetzungen spielen die Heißblütigkeit der Szene voll aus. Da gibt es dann fast ein Knutschen, nicht nur zarte Küsschen auf den Hals. Tatjana würde sich ja auch gerne gehen lassen und sich Onegin hingeben, aber sie erlaubt es sich nicht. Sie gibt unter seinem stürmischen Drängen zwar nach, für wenige Augenblicke, aber dann fängt sie sich wieder. So geht es den ganzen Pas de deux hindurch – bis sie sich ausklinkt, seinen Brief holt und ihn in seine Hände zerreißt, als Rache dafür, dass er sie vor zehn Jahren auch auf diese Art aus seinem Leben schmiss. Jetzt wirft sie ihn raus – und leidet doch selbst am meisten darunter. Was für eine Szene für eine Primaballerina!

In München lohnt es sich, in jede Aufführung zu gehen. Nicht nur, weil „Onegin“ sowieso immer lohnt. Sondern auch, weil jede der vier März-Aufführungen mindestens eine neue Besetzung aufbietet, wenn man auch auf die Tänzer von Lenski, Olga und Gremin achtet. Den Beginn macht Polina Semionova, die Furiose, die jetzt erstmals auch in München als Tatjana begeistern wird. In Berlin erntete sie gerade erst Standing Ovations für diese Partie! Ich muss gestehen, ich kann mir derzeit keine bessere Tatjana überhaupt nur vorstellen. In Berlin war sie mit dem typgeborenen Wieslaw Dudek als Onegin einfach famos, zu Tränen rührend, in jedem Bruchteil einer Sekunde stimmig – und das Stück gleichermaßen mit ihrem Körper und ihren Augen erklärend. Da wusste man, was Liebe alles sein kann! Es war eine legendär tolle Vorstellung.

Polina

Polina Semionova als Tatjana beim Berliner Staatsballett – und jetzt auch beim Münchner Bayerischen Staatsballett. Wowowowow! Foto: Gisela Sonnenburg

Polina Semionovas Partner in München ist der wandelbare, groß und stark gewachsene Marlon Dino, der den Onegin bislang mit seiner zurzeit schwangeren Ehefrau Lucia Lacarra zu einem auratisch unvergesslichen Erlebnis machte. Marlon ist als Onegin ein gefühlsbetonter Abenteurer, emotional verletzlich, aber die ganz großen Gefühle oftmals aufhaltend, um sie dann, im richtigen Moment, auf einmal rauszulassen. Er trägt der Leidenschaft an Onegin vollauf Rechnung.

Rollendebüts haben dann Daria Sukhorukova und Matej Urban. Daria wird sicher den Stolz und den Tiefsinn Tatjanas besonders glaubhaft machen, während Matej die Freiheit und Unabhängigkeit Onegins betonen könnte. Gerade weil Onegin so ein souveräner Freigeist ist, wirkt er ja so begehrenswert!

In Berlin werden dann Mikhail Kaniskin und Elisa Cabrillo Cabrera dem Nicht-Liebespaar Würze verleihen. Die beiden (die privat miteinander verheiratet sind) haben die Parts bereits getanzt – und stets schon im ersten Akt eine erotisch-dekadente Spannung zwischen sich erzeugt, in der Mikhail vor allem das Allmachtsgefühl Onegins darstellt, während Elisa als Tatjana vom gut erzogenen Mädchen zur außer sich geratenden Frau mutiert.

Im April nimmt dann Wieslaw Dudek, ein sehr expressiver, glaubhafter Onegin, in Berlin seinen Bühnenabschied. Der wird wohl auf jeden Fall ein besonderes Event werden! Seine Gattin im wahren Leben, Shoko Nakamura, die derzeit in Budapest Erste Solistin ist, wird zudem seine Tatjana sein: anschmiegsam und in gewisser Weise liebessüchtig. Da Wieslaw schon mit Nadja Saidakova und zuletzt mit Polina Semionova absolut als Onegin reüssierte, muss man einfach glücklich über sein Abschiedsprogramm sein, auch wenn das Ade eines großen Tänzers von der Bühne immer etwas Nostalgisches hat.

Onegin geht

Am 10. April 2015 wird Wieslaw Dudek als „Onegin“ (auf dem Foto mit der das Berliner Staatsballett prägenden Nadja Saidakova als Tatjana) an der Seite von Shoko Nakamura und mit dem Staatsballett Berlin seinen Bühnenabschied nehmen. Ein besonderes Event, mit dem Schmelz von Melancholie. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ja zudem immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Beziehung von Onegin und Tatjana tänzerisch interpretiert werden kann. Wie sehr die dargestellten Verliebtheitsgefühle dabei die fiktiven Charaktere verändern können! Man entdeckt jedes Mal eine neue Nuance. Und man fragt sich jedes Mal: Wie kommen die beiden eigentlich mit dem Ende klar? Wie geht es weiter?

Wolfgang Oberender versprach mir denn auch, sich die Figur des Onegin noch einmal genau anzusehen. Ich darf ihn, dankbar für das Kompliment, wie folgt zitieren: „Hätten wir vor zehn Jahren miteinander gesprochen, liebe Frau Sonnenburg, ich hätte ganz anders über die Figur des Onegin nachgedacht und geschrieben.“ Soviel über die Tauglichkeit von Journalistinnen als Musen…
Gisela Sonnenburg

Am 5., 13., 19. und 27.3. mit dem Bayerischen Staatsballett im Münchner Nationaltheater – und am 22.3. und 10.4. mit dem Staatsballett Berlin im Berliner Schiller Theater

Am 14. Juni 2015 gibt es ein „Onegin“-Doppel in München: mit einer Nachmittags- und Abend-Vorstellung! 

Mehr zum Thema bitte hier:

www.ballett-journal.de/er-liebt-sie-nicht-er-liebt-sie/

www.ballett-journal.de/ein-taenzer-sollte-nie-aufhoeren-zu-experimentieren/

www.staatsballett.de

www.staatsballett-berlin.de

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/ 

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