Tanz der Maschinenmenschen Eine halbe Premiere kredenzte das Staatsballett Berlin in der Komischen Oper: „Van Dijk/Eyal“ kombiniert eine Uraufführung mit einem vor fünf Monaten premierten Stück

"Van Dijk/Eyal" muss man nicht sehen

Schicke Modenschau: Das Staatsballett Berlin in Kostümen von Jessica Helbach in „Distant Matter“ von Anouk van Dijk in der Komischen Oper. Foto: Jubal Battisti

Ich will nicht lügen. Das neue Programm vom Staatsballett Berlin (SBB), betitelt mit den Namen seiner Choreografen „Van Dijk/Eyal“, ist nicht die Art von Bühnentanz, die mich beglückt. Beim besten Willen nicht. Aber ich will versuchen, auch dieser Form von Bewegung etwas abzugewinnen, sie zu verstehen, ihren Sinn und Anspruch zu vermitteln. Zunächst ist zu verzeichnen, dass es nun eine neue Sparmasche in der Berliner Hochkultur gibt: Man präsentiert ein bereits vor Monaten premiertes Stück – „Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar – gemeinsam mit einem neu kreierten Tanz, in diesem Fall „Distant Matter“ von Anouk van Dijk. Es ist zwar üblich, Uraufführungen zusammen mit bekannten Werken premieren zu lassen, aber dass das Letztere schon aktuell auf dem Spielplan steht, gab es bisher so nicht. Sei’s drum: Musikalisch gehen beide Werke Hand in Hand, denn lautes Techno-Gewummere, das aus dem Bereich der elektronischen U-Musik stammt und sich eher monoton als einfallsreich zeigt, bestimmt das akustische Geschehen.

Van Dijk, die in Rotterdam (Holland) zur zeitgenössischen Tänzerin ausgebildet wurde und mit Ballett nicht allzu viel am Hut hat, um fast zehn Jahre in Amanda Millers semiprofessioneller Pretty Ugly Dance Company zu tanzen, arbeitet seit 1996 an der Erstellung eigener Arbeiten. Ihr choreografisches Wirken ist nicht das Wichtigste bei ihr, sondern ihre Ideen für das große Ganze oder sagen wir mal: handlich Kleine.

In „Distant Matter“ nimmt ihr die Kostümbildnerin Jessica Helbach die meiste Arbeit ab.

Helbach kreierte peppige, modische Einzelkostüme für drei Frauen und vier Männer zum unausgesprochenen Thema „moderne Variationen zum Kleinen Schwarzen“. Ein Mann in einem lieblichen schwarzen Jäckchen, das hinten mit einer Schleife geschlossen wird, ist dabei; ebenso ein Mädchen mit Motorradhelm zu schwarzen Strapsstrümpfen. Ein Netz oder ein schwarzes Niki-Tuch vorm Gesicht lenken den Blick noch mehr auf die Körper.

Auch eine durchsichtige schwarze Spitzenbluse mit etwas Bling-Bling zu verrucht glänzenden Lacklederleggings macht einen Look. Ganz anders, aber auch ziemlich hip, funktioniert ein übergroßes Football-Shirt in Edelversion bei einem jungen Mann: très chic. Und einer der Tänzer tritt im schlicht geschnittenen langen Abendkleid auf – es steht ihm top!

Bei den Kostümen als Hingucker bleibt es: Es handelt sich um eine getanzte Modenschau, die auch Roboter erledigen könnten, und auch, wenn die Protagonisten sich der Oberkleidung entledigen und in schicken Bikinis, Mini-Overalls oder Slips zu Socken (alles in schwarz, selbstverständlich) auftreten, so sind ihre Bewegungen nur Beiwerk, weil die Kledage im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

Das muss man im Ballett erst mal schaffen, dass der Tanz so unwichtig wird!

"Van Dijk/Eyal" muss man nicht sehen

Man freut sich über jeden kleinen akrobatischen Anklang: Wirklich viel zu tun haben die Tänzer in „Distant Matter“ in der Komischen Oper nicht. Foto vom Staatsballett Berlin: Jubal Battisti

Diese Auftritte setzen indes darauf, dass das Publikum sich entspannt, sich von dem sehr lauten Gewummere im Wechsel mit melodielosem Schwallen aus den Boxen berieseln lässt – und es genießt, nicht weiter nachdenken zu müssen.

Zu Beginn kommen die TänzerInnen denn auch einzeln ganz wie Laufstegmodels in den mit einer breiten weißen Plastikbahn ausgelegten Bühnenraum.

Diese ist stark abschüssig gestaltet, also bergab verlaufend. Jeder vom Fach weiß, dass man für möglichst guten Tanz eine gerade Fläche unter den Füßen braucht. Aber um Tanz geht es ja wohl eh nicht.

Die TänzerInnen (Jenna Fakhoury, Weronika Frodyma, Sarah Hees-Hochster, Johnny MacMillan, Ross Martinson, Daniel Norgren-Jensen und Lucio Vidal) gehen also einzeln im verhaltenen Model-Gang vor, bis zur Rampe, bleiben stehen, gucken ins Publikum, man hat Zeit, ihre Kleidung zu betrachten, dann drehen sie um und gehen langsam wieder nach hinten. Der oder die nächste kommt.

So vergehen schon mal gute zehn Minuten. Dann entwickelt sich, als sich alle in eine Reihe aufstellen, eine Art Gruppenschau. Gemeinsam kommen die Damen und Herren vor, zeigen sich, drehen sich und gehen wieder. Wirklich spannend.

Dann endlich kommt es zu vereinzelten tänzerischen Bewegungen, die sich zu kleinen Soli und auch mal zu lockeren, vom Ausdruck her unverbindlichen Paartänzen steigern.

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Ein Männer-Pas-de-deux sprengt fast die Grenze zum Beziehungstanz. Aber nur fast. Nach wenigen Dreh- und Kippmanövern verlassen die Partner einander, folgenlos.

Nur Beute wird ab und an gemacht, freudlos, ausdruckslos, und auch hierbei steht die Bekleidung im Vordergrund: Zweimal beraubt jeweils ein Mann eine Frau, und zwar um ihre Kopftracht.

Der hochglänzende Motorradhelm und, schon früher, eine witzige Haube mit Mickey-Mouse-Ohrpuscheln (alles in Schwarz!) wechseln so den Besitzer.

Als Vorlage für einen Werbeclip für Klamotten wäre das durchaus akzeptabel, und von der fast 50 Minuten langen Laufzeit auf der Bühne würden es dann bestimmt zwei Minuten in den Clip schaffen.

Ansonsten aber herrscht gähnende Langeweile in „Distant Matter“ („Entfernte Materie“), und seit seinem Bestehen, also seit 2004, hat das Staatsballett Berlin damit unverkennbar einen neuen Tiefpunkt erreicht, der nur noch von der ähnlich inhaltsleeren 2010er-Produktion „Symphony of Sorrowful Songs“ von Ronald Savkovic unterboten wurde.

Immerhin machte sich Savkovic aber die Mühe, Zeitgeist-Metaphern neu aufzubereiten und ein Frauenbild zu zeigen, das so gefällig und dümmlich war, dass die unfreiwillig entstehende Peinlichkeit schon wieder zu Kunstcharakter führte.

"Van Dijk/Eyal" muss man nicht sehen

Der beste Moment von „Distant Matter“, fotografisch schön eingefangen von Jubal Battisti fürs Staatsballett Berlin, zu sehen in der Komischen Oper in „Van Dijk/Eyal“.

Das ist in der Arbeit von van Dijk anders. Die Ansprüche sind bescheiden, die Mittel spärlich gewählt. Nur nicht zuviel Aufwand betreiben, suggeriert das Stück.

Synchronizität blitzt hier ganz selten auf, und Expression wird nachgerade vermieden.

Ob die Hebungen in den Paartänzen nun ästhetisch aussehen oder nicht, spielt hier offenbar keine Rolle, auch Präzision scheint ein Fremdwort aus einer anderen Welt zu sein. Die Musik gibt über weite Strecken nicht mal die Andeutung eines Rhythmus vor, sodass die Tänzer im Stillen für sich zählen und manchmal selbst entscheiden müssen, wann sie welche Bewegung vollführen.

Ein gehobenes Bein ist schon fast eine Sensation hier. Zumeist gleiten die Tanzenden in eher  alltäglichen Posen über die Bühne und ähneln halbwegs eleganten Laientänzern in Clubs und Selbsterfahrungsgruppen.

Aber die Kostüme kommen prima zur Geltung!

Jethro Woodward hingegen, der für die elektronischen Impulse (Musik) zuständig ist, sollte sich schämen. Es wäre mir peinlich, ein solches dilettantisches Zeug für eine Uraufführung abzuliefern. Die meisten Hobbykomponisten, die am heimischen Computer oder Keyboard tätig sind, haben wohl mehr zündende Ideen für einen fast einstündigen Klangteppich.

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Aber vielleicht wollte Anouk van Dijk gar nicht mehr akustische Anreize. Ihr Komponist lebt wie sie derzeit in Melbourne, Australien, und vielleicht sind sie ein Pärchen. In Australien, wo van Dijk eine kleine Tanztruppe namens Chunky Move Company leitet, ist Woodward bereits mit Preisen überhäuft worden, weil er dort anscheinend oft für Film, Theater und Tanz die Musik besorgt. Vielleicht ist man da in Mitteleuropa verwöhnt.

Vielleicht geht es aber auch um den Anspruch von Kunst. Das Chillen des Publikums ist bei van Dijk und Woodward womöglich das oberste Ziel ihrer Kunst – also gute Entspannung!

Van Dijk wiederum muss über fantastische Kontakte in die Welt der Neureichen verfügen, die heutzutage über Sponsorentum und andere Einflussnahme die Kulturwelt beherrschen und manipulieren. Und da haben nicht alle einen guten Instinkt für Qualität, das ist ja nichts Neues: Nicht jeder ist ein Medici oder ein Schnabel.

Lustig ist, dass van Dijk ihr begrenztes Bewegungsrepertoire sogar als eigene Bewegungstechnik vermarktet, unter dem Label „Countertechnique“. Angeblich soll sie für Tänzer „bewusstseinsschärfend“ wirken. Eine schicke Verkaufsmasche!

Geschäftstüchtig ist Van Dijk also in jedem Fall. Und schon 32 ehemalige TänzerInnen verdienen Geld, indem sie diese „Bewegungstechnik“ lehren, vermeldet stolz das Programmheft.

"Van Dijk/Eyal" muss man nicht sehen

Menschen, die vor lauter Arbeit untergehen oder auch im monotonen Zeitlupentanz vor sich hin dämmern: in „Half Life“ von Sharon Eyal mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Kleiner Tipp an Tanzaktive: Mit modernen Bewegungstechniken wie denen von Lester Horton oder schlicht mit freiem Tanz, der sich nach den individuellen Gegebenheiten eines Tänzers richtet, kommt man weiter, zumal, wenn man klassisches Ballett als Grundlage hat. Und man muss nicht alles mitmachen, was neu ist auf dem Markt.

Was in der Komischen Oper von van Dijk zu sehen ist, macht ja auch nicht wirklich Appetit.

Problematisch ist an dieser langatmigen Modenschau aber nicht nur die Technik der Bewegungen (die in einem Training der Nachlässigkeit zu bestehen scheint), sondern die vehemente Einfallslosigkeit, mit der sie gestaltet sind.

Mühsam schleppt sich das Getanzte dahin, weicht nur selten vom Gehen oder Laufen ab, und man muss für jeden Hauch einer Akrobatik dankbar sein. Dabei will man genau diese sportliche Note in der Tanzkunst ja gerade nicht gefördert sehen, denn Sinn und Ausdruck sind bei ihr zweitrangig.

Van Dijk, deren choreografisches Talent dem Augenschein nach gen Null tendiert, erhielt aber schon 1999 karrieretechnisch Auftrieb, als sie mit dem Sprechtheater-Regisseur Falk Richter an der Berliner Schaubühne kooperierte.

Tanz, der nicht weiter auffällt – das ist seither ihre Spezialität.

Als Schlusspointe in „Distant Matter“ darf eine Tänzerin sich auf die anderen schmeißen, die unter der weißen Plastikbahn kuscheln. Wie auf einem Megamöbelstück darf sich die übrig Gebliebene räkeln – bequem sieht das allerdings nicht aus. Schließlich rutscht sie seitlich weg, die Materie aus dem Titel – das weiße Plastik – obsiegt. Die Plastikbahn wird nun zusammengeknautscht, das Bühnenbild „tanzt“.

Und Ende. Auf zur nächsten Modenschau!

Dass Van Dijk im Programmheft behauptet, jeder sei sein eigener Redakteur, ist dann als Zugeständnis an intellektuelle Mindestansprüche zu werten, die im deutschen Theaterbetrieb nun mal gestellt werden.

Der tosende Beifall bei der Premiere kam möglicherweise vor allem von Mitgliedern vom SBB, die an diesem Abend reihenweise nicht auf der Bühne standen und die in kollegialer Manier ordentlich jubelten.

Pause. Außer Mode war bisher nichts. Und es kommt: Schon Gesehenes, das aber immerhin eine minimalistische Bewältigung der Aufgabe „Tanz“ darstellt. Aber auch hierin dominiert die Ausdruckslosigkeit als vorderstes Stilmittel. Also auch hierin sind es sozusagen Maschinenmenschen, die auftanzen – womöglich als satirische Überspitzung auf die moderne Work-Life-Balance gemünzt.

Half Life“(„Halbes Leben“) von Sharon Eyal (assistiert von Gai Behar) premierte im September 2018 in der Komischen Oper beim SBB und wurde damals hier rezensiert.

Halbes Leben, halbe Kunst: Nichts Neues und nichts, was mich halten würde.

So fühlte ich mich angenehm erleichtert, als ich das Opernhaus vorzeitig verließ.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

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